Aus dem Institut für Rechtsmedizin der Universität Hamburg
(Direktor: Prof. Dr. med. K. Püschel)
Verstümmelnde Hand- und Fingerverletzungen im Zusammenhang
mit privaten Unfallversicherungen
Eine Analyse unter forensisch-medizinischen, phänomenologischen
und versicherungsmedizinischen Aspekten
Dissertation
zur Erlangung des Grades eines Doktors der Medizin
dem Fachbereich Medizin der Universität Hamburg
vorgelegt von
Dirk Harms
aus Winsen/Luhe
Hamburg 2000
Angenommen von dem Fachbereich Medizin
der Universität Hamburg am 24. April 2001
Gedruckt mit Genehmigung des Fachbereichs
Medizin der Universität Hamburg
Dekan: Prof. Dr. H.-P. Leichtweiß
Referent: Prof. Dr. K. Püschel
Korreferent: ---------------
Gar manches ist vorherbestimmt;
Das Schicksal führt ihn in Bedrängnis;
Doch wie er sich dabei benimmt,
Ist seine Schuld und nicht Verhängnis.
Wilhelm Busch
„quicumque turpi fraude semel innotuit etiamsi verum dicit, amittit fidem”
= wer durch schändlichen Betrug einmal bekannt wurde, der verliert die Glaubwürdigkeit, selbst wenn er die Wahrheit sagt (Phaedrus I, 10)
„veritatem sequi et tueri iustitiam”
= (man muß) die Wahrheit suchen und auch die Gerechtigkeit nicht
aus den Augen lassen
INHALTSVERZEICHNIS Seite
1. EINLEITUNG 1
1.1 Erläuterung der Thematik 1
1.2. Historischer Überblick 2
1.3. Problemstellung und Ziel der Arbeit 3
1.4. Rechtliche und versicherungsrechtliche Grundlagen 5
1.5. Besonderheiten des Unfallversicherungsvertrages für Ärzte (UVÄ) 6
2. UNTERSUCHUNGSMATERIAL UND METHODIK 7
2.1. Untersuchungsmaterial 7
2.2. Methodik 8
2.3. Datenschutz und Fehlerquellen 10
3. EIGENE UNTERSUCHUNGEN UND BEFUNDE 12
3.1. Analyse der 57 Fälle von Hand- und Fingerverletzungen mit dem
Verdacht der Selbstverstümmelung 12
3.1.1. Alters- und Geschlechtsverteilung sowie Beruf und Familienstand
der 57 Versicherungsnehmer 12
3.1.2. Zeit, Ort und Zeugen des Geschehens 12
3.1.3. Methoden und Ausmaß der Verletzungen 15
3.1.4. Topographie der Verletzungen 18
3.1.5. Verlauf der Verletzungen und Beschaffenheit der Wundränder 23
3.1.6. Verbleib des Amputates und Replantation 23
3.1.7. Versicherungsrechtlich bedeutsame Daten 25
3.1.7.1. Maßnahmen der Versicherer 26
3.1.7.2. Verlauf und Abschluß der Fälle 27
3.1.8. Weg und Ergebnis der Begutachtung 29
4. KASUISTIK 33
5. DISKUSSION 54
5.1. Epidemiologische Aspekte 54
5.2. Morphologisch-statistische sowie topographische Aspekte 55
5.3. Versicherungsrechtliche und - medizinische Aspekte 59
5.4. Motivation einer Selbstverstümmelung 60
5.5. Die rechtsmedizinische Begutachtung 63
6. ZUSAMMENFASSUNG 68
7. LITERATURVERZEICHNIS 70
8. ANHANG 73
8.1. Weitere Falldarstellungen 73
8.2. Übersicht zur Rechtssprechung 87
9. DANKSAGUNG 89
10. LEBENSLAUF 90
1. EINLEITUNG
1.1. Erläuterung der Thematik
Seit Jahren werden die rechtsmedizinischen Institute - mit steigender Tendenz - von Zivilgerichten und verschiedenen Versicherungsgesellschaften damit beauftragt, bei der Sachaufklärung in Versicherungsfällen (meist Fingerverletzungen) behilflich zu sein, dies in aller Regel durch die Erstellung rechtsmedizinischer Sachverständigengutachten. Dabei geht es immer um den Nachweis, ob die Versicherungsnehmer (VN) durch ein freiwilliges oder unfreiwilliges Ereignis verletzt wurden, also ein wirklicher Unfall erlitten oder aber ein Betrug inszeniert wurde. Auf diesen Umstand wiesen u. a. schon Dotzauer u. Iffland [14] sowie auch Gerlach [17] hin.
Pekuniäre Motive stehen bei einer solchen Selbstverstümmelung im Vordergrund, wobei die dabei auftretenden Verletzungen fast niemals vitalgefährdend sind. Es handelt sich zumeist um plakativ aufgemachte Verletzungen der Finger (sog. „Finger ab”- Fälle). Die dabei häufig auftretenden Läsionsmechanismen sind z.B. Abhacken, Absägen und Quetschen von Fingern.
Schon vor etwa 12 Jahren wurde im Spiegel (16/1987) auf diese Thematik eingegangen, als in dem Artikel mit der Überschrift „Daumen im Zielgebiet” verschiedene Versicherungsfälle dargestellt wurden. Es war auch die Rede davon, daß Selbstverstümmelungen heutzutage signifikant häufig von „gutsituierten Leuten” praktiziert würden, während bis in die siebziger Jahre hinein meist „Arbeitslose, verschuldete Landwirte oder Handwerker” versuchten, auf derartig schmerzhafte Weise eine Invaliditätsentschädigung zu erlangen.
Daß für das Verständnis des kurativ tätigen Arztes kaum verständliche (betrügerische) Selbstverstümmelungen immer wieder Realität werden, belegen nicht nur zahlreiche entsprechende Gerichtsverfahren, die nicht selten durch mehrere Instanzen - bis hin zum Bundesgerichtshof - geführt werden (hierzu z.B. Urteil des BGH [40]), sondern auch mehr oder minder offene Eingeständnisse der betroffenen VN.
Statistisch kann bisher nicht annähernd eingeschätzt werden, wie hoch das Verhältnis von Selbstverstümmelungen zu akzidentellen Verletzungen der Hände und Finger ist. Es ist nicht auszuschließen, daß die „Dunkelziffer” selbstbeigebrachter Verletzungen wesentlich höher liegt als die Zahl der Fälle, die durch Sachverständigenbeweis bzw. Gerichtsurteil festgestellt wurde. Die Aufklärung eines solchen Versicherungsbetruges ist daher gerade für die Versicherungswirtschaft von besonderem Interesse, entsteht ihr doch dabei ein erheblicher finanzieller Schaden.
1.2. Historischer Überblick
In der Geschichte der Menschheit hat es immer Individuen gegeben, die sich selbst verletzten oder verstümmelten, wobei besonders umfangreich Verletzungen von Angehörigen des Militärs dokumentiert wurden. Im Rahmen von militärischen Konflikten konnten die verschiedenen Heere bald nicht mehr nur mit Freiwilligen aufrechterhalten werden, welches zur Zwangsrekrutierung von Männern führte. Dieses hatte zur Folge, daß sich einige Betroffene, wohl konfrontiert mit der Aussicht auf Tod oder schwerer Verwundung im Kriege, selbst verletzten, um so eine Wehruntauglichkeit zu erlangen.
Schon zu Zeiten des Imperium Romanum waren Selbstverstümmelungen bei Legionären bekannt. Flavius Gratianus (weströmischer Kaiser von 374 - 383 n. Chr.) ließ die Soldaten, die sich einen Finger abschlugen, um so dem Militärdienst zu entgehen, schwer bestrafen (Anschütz [1]).
Während des Mittelalters wurden Verstümmelungen von Gliedmaßen bei Bettlern beschrieben, welche so mehr Mitleid erregen konnten und - die christliche Nächstenliebe ausnutzend - ihren Ertrag vermehrten. Bartsch [3] hat auf das schwere Schicksal dieser Menschen hingewiesen: Diesbezügliche Beobachtungen finden sich nach Dotzauer u. Iffland [14] im Augsburger Achtbuch (1342-1343), im Notatenbuch des Dietrich von Meckebach (um 1350), im Basler Betrügnisse der Gyler (um 1450), der Chronik des Matthias von Kemnat (1475), den hochdeutschen und niederdeutschen Liber vagatorum (1510) bzw. im Narrenschiff des Sebastian Brant (1494).
Raestrup [34] beschrieb bei Gefängnisinsassen die Haftverschonung bzw. die potentielle Erleichterung der Flucht nach Verlegung auf eine Krankenstation als weitere Motive für Selbstverstümmelungen. Dieses betraf in besonders hohen Maße menschenunwürdige Gefangenenlager. Im 20. Jahrhundert, mit seinen beiden Weltkriegen, erlangte das Motiv der Entziehung des Wehrdienstes - welches sogar mit der Todesstrafe geahndet wurde - wieder größere Bedeutung (hierzu z.B. Bennecke [6], Heismann [19], Bonte [7], Meixner [26] und Mueller [28]).
Mit Einführung der privaten wie gesetzlichen Unfallversicherungen mehrten sich verstümmelnde Verletzungen aus Gewinnsucht; sie sind in der rechtsmedizinischen Literatur zahlreich beschrieben, z. B. (Bonte/Rüdell [8], Dotzauer/Iffland [14], Dern [12]).
1.3. Problemstellung und Ziel der Arbeit
Wie bereits dargestellt, häufen sich in neuerer Zeit Betrugsfälle („Finger ab”- Fälle), in denen Versicherungsnehmer ungerechtfertigt Versicherungsleistungen begehren. Bei dem konkreten Verdacht einer Selbstverstümmelung wird der Versicherer Ermittlungen initiieren und dabei regelhaft Rechtsmediziner als Sachverständige mit der Wahrheitsfindung beauftragen. Analog dazu holen die angerufenen Gerichte im Prozeßfall in aller Regel ein weiteres (häufig rechtsmedizinisches) Sachverständigengutachten ein. Die Rekonstruktion des angeblichen Unfallherganges stellt sehr hohe Anforderungen an den Gutachter.
Schon Dotzauer und Iffland [14] meinten, daß nur der Stellung beziehen sollte, der sich sehr intensiv mit diesem komplexen Spezialgebiet befaßt hat. Es stellt sich daher die Frage, inwieweit spezifische Merkmale existieren, welche gegen ein akzidentelles Geschehen sprechen und dem Gutachter die Diagnose Unfall bzw. vorsätzliche Selbstverstümmelung erleichtern.
Im Rahmen dieser Arbeit, wurde eine größere Zahl von Fällen unterschiedlichster Alternativstellungen im Bereiche der Hand- und Fingerverletzungen analysiert, um solche Merkmale, die für eine Selbstverstümmelung sprechen, herauszuarbeiten.
Zunächst wurde eine synoptische Analyse der seit 1974 im Hamburger Institut für Rechtsmedizin angefallenen Fälle durchgeführt, zu denen im Auftrage der Zivilgerichte und Versicherungsgesellschaften Gutachtenaufträge erfolgten und bei denen die Freiwilligkeit/Unfreiwilligkeit einer verstümmelnden Hand- bzw. Fingerverletzung im Rahmen bestehender Unfallversicherungsverträge zu beweisen war.
Zusätzlich wurden Fälle berücksichtigt, die für diese Studie von verschiedenen Unfallversicherern zur Verfügung gestellt und außerhalb des Hamburger Instituts begutachtet worden sind. Es werden Motivationskonstellationen und die Vorgehensweise der Begutachtung diskutiert.
Es sei darauf hingewiesen, daß bei den untersuchten Fällen keine regionalen Grenzziehungen bestehen; sie ereigneten sich nicht nur im gesamten Bundesgebiet, sondern z. T. auch im Ausland. Eine Gesamtübersicht ist bisher von den Versicherungsgesellschaften nicht vorgelegt worden. Ebenso existiert in der wissenschaftlichen Literatur keine zeitliche Gesamterfassung, da kaum von allen Versicherungsgesellschaften Material beschafft werden kann. Aufgrund obiger Umstände und der örtlichen Heterogenität der Fälle ist eine Betrachtung über spezielle epidemiologische Aspekte nahezu unmöglich und auch nicht Gegenstand dieser Untersuchung.
„Bei zurückhaltender Schätzung kann aber für den norddeutschen Raum im Verlauf von ca. 10 Jahren eine Zahl von sicher mehr als 200 Selbstbeschädigungen in Form von traumatischer Gliedmaßenamputation angenommen werden” (Gerlach [18]).
Es fiel eine relative Häufigkeit von Ärzten als „verdächtige VN” in dem Untersuchungsgut auf. An dieser Stelle sei weiter darauf hingewiesen, daß schon B. und U. Ellermann [15] sowie Püschel et al. [32] über freiwillige verstümmelnde Verletzungen bei Ärzten berichteten. Da bei einem Teil der hier untersuchten Fälle die Versicherungsgesellschaften den Medizinern spezielle Unfallversicherungsbedingungen angeboten hatten - auf die unter 1.5. genauer eingegangen wird - werden, als weiterer Aspekt, die „Medizinerfälle” teilweise gesondert betrachtet, da sich spezielle morphologische Besonderheiten zeigen. Es existieren verschiedene vergleichbare Untersuchungen; die Diskussion wird in dieser Untersuchung fortgeführt. Die hier vorliegende Arbeit wurde bereits veröffentlicht (Püschel et al. [33]), wobei die Thematik nachfolgend von verschiedenen Medien aufgegriffen und einem breiten Publikum zugänglich gemacht wurde.
1.4. Rechtliche und versicherungsrechtliche Grundlagen
Nach Einführung der Sozialgesetzgebung, der gesetzlichen und der privaten Unfallversicherung Ende des 19. Jahrhunderts, traten vermehrt Selbstbeschädigungen mit der Motivation auf, einen wirtschaftlichen Vorteil zu erlangen.
Die Verletzung des eigenen Körpers erfüllt erst einmal keinen unmittelbaren Strafbestand. Wer sich allerdings verletzt und unter Verschweigen der wirklichen Umstände eine Versicherungsleistung beantragt, erfüllt den Tatbestand des Betrugs (§ 263 StGB) oder den des Versicherungsbetrugs (§ 265 StGB). Ebenso kann der Betroffene unter Umständen andere Strafbestände, wie z. B. das Vortäuschen einer Straftat (§ 145 d StGB) erfüllen, wenn etwa behauptet wird, die Verstümmelung sei durch einen unbekannten Täter durchgeführt worden (wie in Fall 32). Lambrecht [24] hat sich erst kürzlich mit den strafrechtlichen Folgen der Selbstverletzung intensiv auseinandergesetzt.
Der § 2, Abs. 1 Allgemeine Unfallversicherungs-Bedingungen (AUB) definiert einen Unfall folgendermaßen: „Ein Unfall liegt vor, wenn der Versicherte durch ein plötzliches von außen auf seinen Körper wirkendes Ereignis unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet.”
Seit Inkrafttreten des § 180 a Versicherungsvertragsgesetz (VVG) am 05.08.1967 wird die Unfreiwilligkeit einer Verletzung (z. B. Fingeramputation) bis zum Beweis des Gegenteils vermutet. Wenn sich bei einer der Versicherungsgesellschaft angezeigten Hand- bzw. Fingerverletzung Zweifel an dem behaupteten unfallmäßigen Ablauf ergeben, muß die Versicherungsgesellschaft den Beweis für eine freiwillig erlittene Gesundheitsbeschädigung (Selbstverstümmelung) führen. Sie wird im Rahmen ihrer Ermittlungen u. a. Detektive, in derartigen Schadensfällen erfahrene Rechtsanwälte sowie Rechtsmediziner, Ingenieure oder in Begutachtungsfragen besonders erfahrene andere Ärzte (Chirurgen) beauftragen. Kommt es zu einem Prozeß, finden die in der medizinischen Rekonstruktion des Falles dargestellten Ergebnisse zur Rekonstruktion des Geschehensablaufes besonders starke Berücksichtigung. Berücksichtigt werden allerdings auch Umstände, die nicht der medizinischen Begutachtung zugehörig sind. Diese Verdachtsmomente sind nach Bonte [10]:
· Kurzbestand der Versicherungspolice („Inkubationszeit”)
· Fehlen von Augenzeugen
· Mißverhältnis zwischen Versicherungshöhe und Wirtschaftslage des VN
· Verschweigen von Doppel- bzw. Mehrfachversicherungen
· Fehlen von abgetrennten Fingergliedern, Tatwerkzeugen und Spuren
· Sofortbereitschaft des VN bei Vergleichsvorschlägen der Versicherungsgesellschaft
1.5. Besonderheiten des Unfallversicherungsvertrages für Ärzte (UVÄ)
Bis vor etwa 10 Jahren konnten Ärzte das Risiko eines unfallbedingten Verlustes oder einer unfallbedingten Gebrauchsunfähigkeit von Fingern oder Händen dergestalt versichern, daß sie Unfallversicherungsverträge, die entweder die allgemeingültige Gliedertaxe der Allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen (AUB) beinhalteten (beispielsweise: bei Verlust oder 100%iger Gebrauchsunfähigkeit des Daumens Zahlung von 20 % der Versicherungssumme) oder die sogenannte „Ärztegliedertaxe” (der Leistungsanspruch erhöht sich für das vorgenannte Beispiel auf 60 %), abschlossen.
Etwa 1988 bot eine größere deutsche Versicherungsgesellschaft ausschließlich Ärzten aller Fachrichtungen den Abschluß eines Unfallversicherungsvertrages an. Die Beitrittserklärungen zu dieser Unfallversicherung wurden u. a. im deutschen Ärzteblatt abgedruckt. Da das Schadensrisiko im Hinblick auf den von den Versicherern angesprochenen Personenkreis als gering erachtet wurde, wurden in dem Unfallversicherungsvertrag für Ärzte (UVÄ) - prämien- und leistungsbegünstigte - Sonderbedingungen festgeschrieben, die z. B. bei Verlust oder Funktionseinschränkung eines Zeigefingers (auch der Nicht-Gebrauchshand) ab 50 % einen Invaliditätsgrad von 100 % vorsahen. Dies bedeutete, daß z. B. bei einer verstümmelnden Verletzung eines Zeigefingers (50 % Funktionsverlust nach Therapie vorausgesetzt) die Auszahlung der gesamten vereinbarten Invaliditätsentschädigung erfolgen mußte. Bei einer jährlichen Prämienbelastung von rund DM 900,- schlossen viele Ärzte Unfallversicherungsverträge über eine Invaliditätsentschädigung in Höhe von 1 Mio. DM für den Fall der o. a. definierten 100%igen Invalidität ab. In der Folgezeit manifestierten sich gehäuft Verletzungen - insbesondere des Zeigefingers der Nicht-Gebrauchshand - bei dieser speziellen Klientel; die Schadenshäufigkeit übertraf bei weitem alle Vorausschätzungen der Versicherungsgesellschaften.
Aufgrund der ungewöhnlichen Häufung isolierter Zeigefingerverletzungen der Nicht-Gebrauchshand änderten die betroffenen Versicherungsgesellschaften ihr Vertragskonzept zum 1.1.1995 dergestalt, daß ab diesem Zeitpunkt nur noch eine Funktionseinschränkung des Zeigefingers der Gebrauchshand ab 50 % eine volle Invaliditätsentschädigung nach sich ziehen konnte. Aufgrund dieses geänderten Vertragskonzeptes war ein deutlicher Schadensrückgang zu verzeichnen; nach den vorliegenden Informationen kam es nur noch bei zwei Rechtshändern zu Verletzungen der Gebrauchshand (Fälle 3 und 21).
2. UNTERSUCHUNGSMATERIAL UND METHODIK
2.1. Untersuchungsmaterial
Die Untersuchung umfaßt insgesamt 57 Schadensfälle mit Hand- bzw. Fingerverletzungen, die den verschiedenen Versicherungsgesellschaften als Unfälle gemeldet wurden. Hiervon entfallen auf die Finger in Kombination mit Mittelhand 53, auf das Handgelenk 4 Verletzungen. Die Fälle 1-27 beschränken sich auf Mediziner als VN; die Fälle 28-57 stellen andere Berufsgruppen dar. Sie sind chronologisch ungeordnet, nicht nur aus den unter 1.3. genannten Gründen, war es doch bei einigen Fällen auch nicht möglich, das genaue Datum des Vorfalls zu eruieren. Sicher ist allerdings, daß die „Ärztefälle” größtenteils neueren Datums sind, sich also seit 1988 ereigneten, während das Alter der Fälle 28-57 in der Majorität mehr als 10 Jahre beträgt.
Den vorgestellten Fällen von VN mit nichtärztlichen Berufen lag die allgemeingültige Gliedertaxe der Allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen (AUB) zugrunde. Bei den Medizinern galt teils die unter 1.5. genauer beschriebene „Ärztegliedertaxe”, überwiegend aber die vor etwa 10 Jahren angebotene Invaliditätsversicherung mit der verbesserten Gliedertaxe nach dem Unfallversicherungsvertrag für Ärzte (UVÄ). Zu den besonderen Versicherungsbedingungen wurde unter 1.5. ausführlich Stellung genommen.
Originalschadensunterlagen wurden von verschiedenen Unfallversicherern angefordert, die schon rechtskräftig, jedenfalls erstinstanzlich, abgeschlossen worden sind. Einige Fälle wurden außergerichtlich reguliert, wobei die Angaben in den diesbezüglichen Unterlagen z. T. unvollständig waren. Darüber hinaus standen die Gutachten und das Aktenmaterial des Instituts für Rechtsmedizin zur Verfügung.
Es wurde versucht, den Verlauf aller Fälle zu verfolgen und deren abschließende Bewertung zu erfahren; dieses gestaltete sich durchweg schwierig, da von Seiten der Versicherungsgesellschaften verständliche Bedenken bezüglich ihrer Geheimhaltungspflicht bestanden. Diese Bedenken konnten aber durch ein besonderes anonymisiertes Auswertungsverfahren ausgeräumt werden, welches eine Strafbarkeit des Versicherers gemäß § 203 StGB (Verletzung von Privatgeheimnissen) ausschließt. Dennoch war es leider nicht in allen Fällen möglich, die gewünschten Informationen zu erhalten. Bei allen Fällen bestand von Seiten der Versicherungsgesellschaften ein z. T. erheblicher Verdacht einer nicht unfreiwilligen Verletzung (Selbstverstümmelung), auch wenn einige sich später als Unfälle herausstellten.
2.2. Methodik
Die zugänglichen Materialien, entweder Schadensakten der Unfallversicherer nach rechtskräftigen Abschluß von Zivilprozeßverfahren oder rechtsmedizinische Gutachten, wurden in einem standardisierten Verfahren einzeln ausgewertet. Dazu wurde ein Dokumentationsbogen erstellt. Es wurden auf der einen Seite Variable berücksichtigt, die durchgängig greifbar sind, wie Alter, Geschlecht, Verstümmelungsinstrument und Art der Verletzung. Auf der anderen Seite wurden weitere Variable in die Auswertung aufgenommen, die weit schlechter und mitunter nur in Ausnahmefällen dokumentiert sind. Auswertkriterien von bisher veröffentlichten Arbeiten wurden bei der Erstellung des eigenen Dokumentationsbogens berücksichtigt. Nach Sichtung des Aktenmaterials mußte retrospektiv erneut entschieden werden, welche Aspekte noch sinnvoll erhoben werden können - weil häufig dokumentiert - und welche nicht auswertbar sind - weil zu schlecht dokumentiert.
Im einzelnen wurden folgende Daten erfaßt: Alter, Geschlecht, Beruf, Familienstand, Ort der Verstümmelung, Verstümmelungsinstrument, Gebrauchshand, Art und Lokalisation sowie Richtung der Verletzung, Beschaffenheit der Wundränder, Mehrfachverletzungen, Verbleib des Amputates, erfolgreiche/fehlgeschlagene Replantation, vorhandene Zeugen, Zeit der Verletzung, Anzahl der Versicherungsverträge, Inkubationszeit (= Zeitdauer zwischen Abschluß des Versicherungsvertrages und Schadensereignis), Abschluß des Verfahrens, Umstände der Begutachtung, Maßnahmen der Versicherung.
Nicht erhoben wurden z. B folgende evtl. interessante Informationen, da sie für die medizinischen bzw. biomechanischen und rekonstruktiven Aspekte der Begutachtung irrelevant sind: Religion, Nationalität, Vorstrafen, Verbleib des Verstümmelungsinstruments, Höhe der Invaliditätsentschädigung und Schulden der VN.
Die relevanten Informationen wurden in den Dokumentationsbogen eingetragen. Die Auswertung erfolgte dann in der Weise, daß die verschiedenen Merkmale in Gruppen geordnet worden sind. Mit Hilfe eines Computerprogramms (Lotus Freelance Graphics) wurde die Ermittlung aller absoluten und relativen Häufigkeiten vorgenommen. Die Ergebnisse wurden zu weiteren Merkmalen in Beziehung gesetzt sowie die Abbildungen und Tabellen graphisch gestaltet. Bei der Ermittlung der jeweiligen Häufigkeiten wurde in einigen Abbildungen die Anzahl der positiven Informationen gleich 100 Prozent gesetzt. Das bedeutet, daß Fälle mit fehlender Information nicht berücksichtigt wurden. So kommt es, daß die Anzahl der untersuchten Fälle in den Abbildungen schwankt. Die Differenz gegenüber der Grundgesamtheit ist identisch gegenüber der Anzahl von Fällen mit fehlender Information zu der jeweiligen Variable.
2.3. Datenschutz und Fehlerquellen
Die Belange des Datenschutzes wurden berücksichtigt. Die einzelnen Akteninhalte wurden anonym und unter Wahrung des Geheimhaltungsgebotes in einem Auswertungsbogen übertragen.
Mit hoher Zuverlässigkeit konnten Variable ermittelt werden, wie Alter, Geschlecht, Art und Lokalisation der Verletzung. Andere Variable hingegen, wie z. B. der Verbleib des Amputates waren häufig nicht mit der erforderlichen Zuverlässigkeit zu ermitteln, da sie meist auf persönliche Angaben der betroffenen VN beruhen und keiner speziellen Prüfung unterzogen wurden.
Der Begriff Statistik wird, wie oftmals in derartigen Untersuchungen, sehr weit gefaßt und entspricht keineswegs der wissenschaftlichen Auffassung. Für alle diese Fälle gilt, daß die Zahlen für fundierte statistische Analysen zu niedrig sind. Es wurden keine statistischen Untersuchungsmethoden angewendet und nur Roh- bzw. Prozentzahlen angegeben. Wegen der geringen Fallzahlen und der Inhomogenität des zugrundeliegenden Akteninhalts kamen statistische Signifikantberechnungen von vornherein nicht in Betracht. In qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht waren jeweils allenfalls Trendaussagen möglich.
Als erschwerender Faktor kommt hinzu, daß nicht immer eindeutig und unzweifelhaft zwischen Unfall und Selbstverstümmelung aufgrund fehlender Informationen zum Tathergang oder Unfallhergang entschieden werden kann. Wenn einige Wochen oder Monate nach einem fraglichen Unfallgeschehen ein rechtsmedizinischer Sachverständiger auf den Plan trat, war z. B. die - für die Rekonstruktion so wichtige - Deskription der Wundverhältnisse durch den erstbehandelnden Arzt manchmal ungenau dokumentiert; die zur Anamnese gehörende detaillierte Klärung des Unfallmechanismus war gar nicht oder nur unzureichend erfolgt. Auch lagen häufig keine Röntgenbilder bzw. Fotos vor, welche die Verletzung vor Therapiebeginn zeigten. Spurensicherungsmaßnahmen vor Ort erfolgten - wenn überhaupt - stets erst mit großer zeitlicher Verzögerung. Solche und ähnliche Umstände machen es oftmals unmöglich, den Tathergang bzw. Unfallhergang genau aufzuklären, da eine definitive Beweissicherung dadurch nicht erbracht werden kann.
3. EIGENE UNTERSUCHUNGEN UND BEFUNDE
3.1. Analyse der 57 Fälle von Hand- und Fingerverletzungen mit dem Verdacht der Selbstverstümmelung
3.1.1. Alters- und Geschlechtsverteilung sowie Beruf und Familienstand der 57 Versicherungsnehmer
Die Tabelle Nr. 1 gibt eine Übersicht aller hier ausgewerteten Fälle. Die fortlaufende Nummerierung der Fälle wird innerhalb dieser gesamten Arbeit konstant eingehalten.
Tab. 1: Alter, Geschlecht, medizinisches Fachgebiet bzw. Beruf der VN sowie Familienstand (n=57): G=Geschlecht, Fa=Familienstand (soweit bekannt), Versicherungsk.=Versicherungskaufmann.
Nr. Alter G Fachgebiet Fa Nr. Alter G Beruf Fa
1 |
46 |
m |
Chirurg |
verh |
28 |
34 |
m |
Programmierer |
|
2 |
64 |
m |
Urologe |
verh |
29 |
29 |
m |
Bäcker |
|
3 |
51 |
m |
Chirurg |
verh |
30 |
54 |
m |
Landwirt |
verh |
4 |
50 |
m |
Zahnarzt |
verh |
31 |
45 |
m |
Koch |
verh |
5 |
44 |
m |
Chirurg |
|
32 |
54 |
m |
Geschäftsführer |
|
6 |
46 |
m |
Anästhesist |
verh |
33 |
25 |
m |
Makler |
verh |
7 |
54 |
m |
Chirurg |
verh |
34 |
31 |
m |
Versicherungsk. |
led |
8 |
48 |
m |
Chirurg |
verh |
35 |
25 |
m |
Kaufmann |
verh |
9 |
49 |
m |
Urologe |
|
36 |
22 |
m |
Metzger |
led |
10 |
41 |
m |
Augenarzt |
verh |
37 |
39 |
m |
Arbeiter |
verh |
11 |
33 |
m |
Anästhesist |
verh |
38 |
47 |
m |
Bergmann |
verh |
12 |
50 |
m |
Orthopäde |
verh |
39 |
47 |
m |
Lotse |
|
13 |
55 |
m |
Anästhesist |
|
40 |
33 |
m |
Handelsvertreter |
verh |
14 |
57 |
m |
Allgemeinmed. |
verh |
41 |
33 |
m |
Bauhelfer |
verh |
15 |
44 |
m |
Zahnarzt |
|
42 |
34 |
m |
Versicherungsk. |
verh |
16 |
46 |
m |
Gynäkologe |
verh |
43 |
18 |
m |
Schüler |
led |
17 |
45 |
m |
Allgemeinmed. |
|
44 |
45 |
m |
Geschäftsführer |
|
18 |
49 |
m |
Anästhesist |
verh |
45 |
47 |
m |
Vertreter |
verh |
19 |
49 |
m |
Tierarzt |
verh |
46 |
32 |
m |
Kfz-Meister |
verh |
20 |
62 |
m |
Chirurg |
verh |
47 |
48 |
w |
Kauffrau |
|
21 |
46 |
m |
Gynäkologe |
|
48 |
43 |
m |
Arbeiter |
verh |
22 |
42 |
m |
Allgemeinmed. |
|
49 |
40 |
m |
Architekt |
|
23 |
59 |
m |
Chirurg |
verh |
50 |
51 |
w |
Hausfrau |
verh |
24 |
59 |
m |
Tierarzt |
|
51 |
50 |
m |
Kaufmann |
|
25 |
38 |
w |
Allgemeinmed. |
verh |
52 |
48 |
m |
Kfz-Meister |
|
26 |
50 |
m |
Chirurg |
|
53 |
28 |
m |
Holzfäller |
|
27 |
50 |
m |
Urologe |
verh |
54 |
39 |
m |
Angestellter |
verh |
|
|
|
|
|
55 |
36 |
m |
Zahntechniker |
|
|
|
|
|
|
56 |
52 |
m |
Landwirt |
verh |
|
|
|
|
|
57 |
21 |
m |
Versicherungsk. |
led |
Abb. 1: Alters- u. Geschlechtsverteilung der Versicherungsnehmer (n=57)
Es handelt sich bei den insgesamt 57 VN um 54 Männer (95 %) und 3 Frauen (5 %; Fälle 25, 47, 50) - siehe Abb. 1. Dabei ist die Altersgruppe der 41- bis 50jährigen mit 26 Personen am stärksten betroffen. Der jüngste VN war zum Zeitpunkt der Verstümmelung erst 18 Jahre alt (Fall 43) und noch Schüler; ein 64jähriger Urologe (Fall 2) stellt den ältesten VN dar. Das durchschnittliche Alter aller VN beträgt 43 Jahre, wobei die überwiegende Anzahl der VN verheiratet ist.
Tabelle 1 zeigt außerdem, daß es sich bei den untersuchten fraglichen Fällen von Selbstverstümmelung hauptsächlich um operativ tätige Ärzte handelt. Unter den nichtärztlichen Berufen sind auffällig viele Kaufleute und speziell Versicherungskaufleute; der Anteil aller Selbständigen (geht nicht aus Tabelle 1 hervor) ist ebenfalls - soweit bekannt - deutlich hoch.
3.1.2. Zeit, Ort und Zeugen des Geschehens
Es wird lediglich eine Grobeinteilung der Tageszeit vorgenommen. Die Verletzungen geschahen in erster Linie in der Freizeit (88 %) und nicht während der beruflichen Tätigkeit (12 %). Von der Tageszeit her war der Nachmittag (48 %) am höchsten frequentiert; der Morgen (24 %) und Abend (28 %) weniger. Saisonale Anhäufungen sind nicht festzustellen. Analoges gilt für die Wochentage.
Bei der Örtlichkeit der Verletzung ist es wichtig zu erfahren, ob der Vorfall im Freien oder in abgeschlossenen Räumen stattfindet. Im Freien ist immerhin die Wahrscheinlichkeit höher, daß es zufällige Zeugen für eine Selbstverstümmelung gibt, welches natürlich der VN mit Betrugsabsichten tunlichst vermeiden möchte. Im Rahmen der ausgewerteten Fälle vollzogen sich 31 (57 %) im Freien und 26 (46 %) in abgeschlossenen Räumen. Man sollte bei dieser Feststellung aber auch beachten, daß bestimmte Werkzeuge, Maschinen und andere Geräte (Verstümmelungsinstrumente) naturgemäß im Freien zu bedienen sind, wie etwa Rasenmäher (Fall 9), Kettensägen (Fälle 6, 20, 45), Heckenscheren (Fälle 27, 43) und Gewehre (Fälle 7, 54).
Abb. 2: Augenzeugen des Geschehens (n=57)
Das Fehlen von Augenzeugen ist nach Bonte [10] sowie Püschel et al. [32] ein Verdachtsmoment für Selbstverstümmelungen. Analog dazu zeigen sich keine Augenzeugen bei 47 (82 %) der untersuchten Fälle - siehe Abb. 2. Nichtsdestotrotz wurden von den 10 Fällen (Fälle 21, 23, 34, 43-45, 49, 54, 56 und 57), in denen Augenzeugen zugegen waren und den VN vom Verdacht der Selbstverstümmelung entlasteten, 5 Selbstverstümmelungen durch Sachverständigenbeweis bzw. Gerichtsurteil nachgewiesen. Es werden nur Zeugen aufgeführt, die eindeutig mit eigenen Augen das Geschehen, welches zur Verletzung führte, gesehen und später zu Protokoll gegeben haben. Es kam nur in Fall 21 (mit dem fremden Zeugen) zu einer normalen Regulierung der Invaliditätsentschädigung durch den Versicherer.
3.1.3. Methoden und Ausmaß der Verletzungen
Es werden zunächst Übersichten zu den Verstümmelungsinstrumenten, Art sowie über Topographie der Verletzungen vorgelegt. Diese beziehen sich in Tabelle 2 auf die Mediziner, in Tabelle 3 auf die nichtärztlichen Berufe.
Tab. 2: Verletzendes Werkzeug, Art der Verletzung sowie Lokalisation der Verletzung an der Hand bei Medizinern (n=27): subt. = subtotale, Amp.= Amputation, Dig. = Digitus, MHK = Mittelhandknochen
Nr. Werkzeug Verletzung Lokalisation
1 2 3 4 5 6 7
8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22
23 24
25 26 27 |
Tischkreissäge Beil Tischkreissäge Tischkreissäge Handkreissäge Kettensäge Schrotgewehr
Stein (ca. 30-50 kg) Rasenmäher Tischkreissäge Schlittschuhkufe Keilriemen/PKW Tischkreissäge Tischkreissäge Papierschneidemasch. Sprenghandgranate Beil Tischkreissäge Schere Elektrokettensäge Injektionskanüle Bremsscheibe/PKW
Eisentor/Torschloß Tischkreissäge
Beil Tischkreissäge elektr. Heckenschere |
Knochenverletz. Dig. II li. totale Amp. Dig. II li. subt. Amp. Dig. II re. totale Amp. Dig. II li. totale Amp. Dig. II li. subt. Amp. Dig. II li. subt. Amp. Dig. III- V li.
Weichteilverletz. Dig. II li. totale Amp. Dig. II li. totale Amp. Dig. II li. totale Amp. Dig. II li. totale Amp. Dig. II li. Knochenverletz. Dig. I li. totale Amp. Dig. I li. Knochenverletz. totale Amp. Dig. I - V li. totale Amp. Dig. II li. totale Amp. Dig. II re. totale Amp. Dig. I + II li. subt. Amp. Dig. II li. Weichteilverletz. Dig. II re. Knochenverletz. Dig. II li., Knochenverletz. Dig. I + II re.
totale Amp. Dig. I re. Knochenverletz. Dig. II li. Weichteilverletz. Dig. I + III li. subt. Amp. subt. Amp. Dig. II li. totale Amp. Dig. II li. Weichteilverletz. Dig. III + IV li. |
Grundglied Dig. II li. Grundglied Dig. II li. Mittelgelenk Dig. II re. Mittelgelenk Dig. II li. Mittelgelenk Dig. II li. Mittelglied Dig. II li. Mittelgelenk Dig.III u. IV li., Mittelglied Dig. V li. Mittelglied Dig. II li. Mittelgelenk Dig. II li. Grundglied Dig. II li. Grundglied Dig. II li. Grundglied Dig. II li. Grundglied Dig. I li. Grundglied Dig. I li. Handgelenk li. MHK I - V li. Grundglied Dig. II li. Mittelglied Dig. II re. Grundgelenk Dig. I + II li. Grundgelenk Dig. II li. Mittelgelenk Dig. II re. Grundglied Dig. II li. Mittelglied Dig. II re. Endglied Dig. I re. Grundglied Dig. I re. Grundglied Dig. II +III li. Endglied Dig. I li. Handgelenk li. Grundglied Dig. II li. Mittelglied Dig. II li. Endglied Dig. III + IV li. |
Tab. 3: Verletzendes Werkzeug, Art der Verletzung sowie Lokalisation der Verletzung an der Hand bei Nichtmedizinern (n=30): subt. = subtotale, Amp.=Amputation, Dig.= Digitus
Nr. Werkzeug Verletzung Lokalisation
28 29
30 31 3233 34 35 36
37 38 39 40 41 42 43 44 45
46
47 48 49 50
51
52
53
54 55
56 57 |
Axt Teigknetmaschine
Axt Handkreissäge Rosenschere Beil Gehwegplatte Tischkreissäge Bandsäge
Axt Beil Axt Kantholz/Winkeleisen Beil Beil Heckenschere Eisenblech Kettensäge
Axt
Axt Beil Axt Axt
Hackbeil
Beil
Axt
Gewehr Steintrog (ca. 75 kg)
Pflug Tischkreissäge |
totale Amp. Dig. I re. totale Amp. Dig. II - V re.
totale Amp. Dig. I li. totale Amp. Dig. I li. totale Amp. Dig. I li. totale Amp. Dig. I li. totale Amp. Dig. II li. totale Amp. Dig. I li. totale Amp. Dig. I + II re. subt. Amp. Dig. III re. totale Amp. Dig. I li. subt. Amp. Dig. I re. totale Amp. Dig.V li. Weichteilverletz. totale Amp. Dig. I li. totale Amp. Dig. I li. totale Amp. Dig. II re. totale Amp. subt. Amp. Dig. I + II li. Weichteilverletz. Dig. III li. subt. Amp. Dig. I + II li. Knochenverletz. Dig. III li.
totale Amp. Dig. I li. totale Amp. Dig. I li. totale Amp. Dig. I li. totale Amp. Dig. II - IV li.
totale Amp. Dig. II + III li. subt. Amp. Dig. I li. Weichteilverletz. Dig. IV li. totale Amp. Dig. I + II li.
totale Amp. Dig. I + II li.
Knochenverletz. Dig. II li. Knochenverletz. Dig. II li. + MHK I -III li. totale Amp. Dig. I li. totale Amp. Dig. I li. |
Grundglied Dig. I re. Grundgelenk Dig.II-IV re. Mittelglied Dig. V re. Grundgelenk Dig. I li. Grundglied Dig. I li. Grundglied Dig. I li. MHK I li. Grundglied Dig. II li. Grundglied Dig. I li. Grundglied Dig. I - III re.
Grundglied Dig. I li. MHK I re. Grundglied Dig. V li. Handgelenk li. Grundglied Dig. I li. Grundglied Dig. I li. Endglied Dig. II re. Handgelenk li. Grundglied Dig. I + II li. Mittelgelenk Dig. III li. Grundgelenk Dig. I li. Grundglied Dig. III li. MHK II li. Grundgelenk Dig. I li. Grundglied Dig. I li. Grundglied Dig. I li. Grundglied Dig. II li. Mittelgelenk Dig. III li. Mittelglied Dig. IV li. Grundglied Dig. I -III li. Endglied Dig. IV li.
Grundgelenk Dig. I li. Grundglied Dig. II li. MHK I li. Grundglied Dig. II li. Mittelgelenk Dig. II li. MHK I -III li. Grundglied Dig. II li. Grundglied Dig. I li. MHK I li. |
Abb. 3: Instrumente bzw. Ursachen der Traumata bei Medizinern und nichtärztlichen Berufen (n=57)
Unter den mannigfaltigen Verstümmelungsinstrumenten (Tab. 1, 2 u. Abb. 3) dominieren die Hiebwerkzeuge bei den nichtärztlichen Berufen. Die Mediziner erlitten ihre Verletzungen häufiger durch elektrisch betriebene Sägen. Von diesen beiden Instrumentengruppen geht wohl auch, von Schußwaffen einmal abgesehen, potentiell die größte Gefahr aus, eine besonders schwere Verletzung davonzutragen - ob nun aus Absicht oder nicht. Sind sie doch für 70 Prozent der subtotalen und totalen Amputationen verantwortlich. Es handelt sich größtenteils um scharfe Gewalt (84 %), die zu den Verletzungen führte - Quetschungsverletzungen sowie Schuß- und Rißverletzungen bilden hier eher die Ausnahme. Man sollte allerdings, bzgl. Angaben die Verstümmelungsinstrumente betreffend, auch Vorsicht walten lassen, da sie häufig auf persönlichen Angaben der betroffenen VN beruhen und auch manchmal im Rahmen der Begutachtung (z. B. beim Ortstermin) keiner speziellen Prüfung (Spurensicherung) unterzogen wurden. Ungewöhnlich erscheint hier sicher u. a. Fall 11, bei dem angeblich eine unbekannte Person in einer sehr gefüllten Eissporthalle mit ihrem Schlittschuh, nach einem Sturz des VN, dessen linken Zeigefinger im Grundglied isoliert abgetrennt habe, wobei es keine Augenzeugen für das Geschehen gab. Dieser Fall wird in der Kasuistik speziell dargestellt.
Die Einteilung der Verletzungen in die verschiedenen Schweregrade erfolgt nach Dotzauer/Iffland [14], Schnabelmeier/Mika [37] und Nippe [29]. Dabei wird zwischen einer Weichteilverletzung oder Weichteilverletzung mit Knochenbeteiligung (Knochenverletzung), bzw. subtotalen Amputation (mit stehengebliebener Hautbrücke) und einer Totalamputation unterschieden. Die Gliederung der hier angegebenen Lokalisationen von distal nach proximal ist: Endglied, Mittelglied, Mittelgelenk, Grundglied, Grundgelenk, Mittelhandknochen und Handgelenk. Dieses scheint ziemlich vereinfacht; es sollte aber hier noch einmal betont werden, daß die Deskription der Wundverhältnisse vom erstbehandelnden Arzt häufig ungenau dokumentiert war.
Abb. 4: Schweregrad der Verletzungen (n=57)
Der Schweregrad der Verletzungen nimmt mit steigender Fallzahl zu (Abbildung 4). Von den Verletzungen imponieren 83 Prozent als Amputationen. Im Rahmen der Mehrfachverletzungen ist nur die darin enthaltene schwerste Fingerverletzung in Abbildung 4 integriert.
3.1.4. Topographie der Verletzungen
Insgesamt ist bei 47 Fällen (82 %) die linke Hand betroffen. Die rechte ist in 9 Fällen (16 %) beteiligt - eine Rarität ist sicherlich Fall 22. Dort behauptete der VN, daß es zu einer Verletzung beider Hände gekommen sei, als er sich bemüht habe, einen Reifen seines Wagens zu wechseln. Dieser Fall wird im Anhang ausführlich dargestellt.
Wenn ein Individuum aus reiner Gewinnsucht einen Finger oder eine Hand opfert, ist es sicherlich interessant zu erfahren, ob die Gebrauchshand oder die Nicht-Gebrauchshand verstümmelt wird. Daher wurde versucht bei den VN die Gebrauchshand zu ermitteln, welches in 50 Fällen gelang. Von diesen 50 VN verletzten 42 (84 %) - also der überwiegende Anteil - ihre Nicht-Gebrauchshand. In 8 Fällen (16 %) wurde die Gebrauchshand verstümmelt. Zu bedenken ist hierbei allerdings auch, daß durch den jeweiligen Geschehensablauf bzw. das Werkzeug u. U. vorgegeben ist, daß Amputationsverletzungen an der Nicht-Gebrauchshand geschehen, weil diese auch als „Haltehand” im Gefahrenbereich des Werkzeuges liegt!
Um die unterschiedliche Topographie der Fingerverletzungen bei Medizinern und nichtärztlichen Berufen zu dokumentieren, wird jeweils eine Übersicht der einzelnen Hände präsentiert. In den Abbildungen 5 bis 9 wird verdeutlicht, wie oft und wo genau alle Finger - auch im Rahmen von Mehrfachverletzungen - getroffen wurden. Es bleiben hier allerdings die 4 Verletzungen des Handgelenks (Fälle 15, 25, 40 und 44) sowie die Verletzung durch Sprenghandgranate und Steintrog (Fälle 16 und 55) unberücksichtigt.
Abb. 5: Topographie der Verletzungen (linke Hand) bei Medizinern (n=27)
Abb. 6: Topographie der Verletzungen (rechte Hand) bei Medizinern (n=6)
Eindeutig ist bei den „Ärztefällen” der linke Zeigefinger (17 Fälle) bevorzugt. Dabei liegen die meisten Verletzungen im Grundgliedbereich. In weitem Abstand folgen linker Daumen und rechter Zeigefinger. Endgliedbeteiligungen kommen nur in Kombination mit anderen mehr proximal gelegenen Verletzungen bei Mehrfachverletzungen vor. Die Finger III, IV und V der rechten Hand blieben unbehelligt. Die Mehrfachverletzung durch das Schrotgewehr (Fall 7) zeigt die einzige Kleinfingerbeteiligung unter den „Ärztefällen”.
Abb. 7: Topographie der Verletzungen (linke Hand) bei nichtärztlichen Berufen (n=33)
Abb. 8: Topographie der Verletzungen (rechte Hand) bei nichtärztlichen Berufen (n=10)
Aus Abbildungen 7 und 8 ist ersichtlich, daß hier zumeist (18 Fälle) der linke Daumen verletzt wurde. Auch dabei bilden die Verletzungen des Grundgliedes den Hauptanteil. Im Gegensatz zu den „Ärztefällen” ist hier der linke Zeigefinger nur das zweithäufigste Ziel (8 Fälle). Außerdem kommt bei einer Einfingerverletzung eine isolierte Endgliedbeteiligung (Fall 43) vor. Zusätzlich existiert noch eine Verletzung des Endgliedes im Rahmen einer Mehrfachverletzung (Fall 51). Es fällt auf, daß - im Vergleich zu den Medizinern - die Verletzungen hier noch weiter proximal lokalisiert sind. Es gibt 5 Beteiligungen der Mittelhandknochen sowie 7 des Grundgelenkes. Bei den Medizinern sind die Mittelhandknochen überhaupt nicht beteiligt, das Grundgelenk nur in den Fällen 19 (zweifach) und 20 (einfach).
Innerhalb aller hier analysierten Fälle kristallisiert sich eindeutig das Grundglied als Hauptziel traumatischer Verletzungen heraus (Abbildung 9). Beinahe die Hälfte (49 %) aller Verletzungen konzentrieren sich auf die Grundglieder der unterschiedlichen Finger, besonders der linken Hand. Gleich darauf folgen mit jeweils 13 Prozent die beiden angrenzenden Gelenke, Mittelgelenk und Grundgelenk.
Abb. 9: Topographische Gesamtverteilung aller Verletzungen (n=76)
Abb. 10: Einfingerverletzung bzw. Mehrfingerverletzung sowie Unterscheidung Mediziner bzw. nichtärztliche Berufe (n=57): Mehrf. = Mehrfingerverletzung, Handg. = Handgelenk
In Abbildung 10 werden alle Verletzungen (Fälle 1 bis 57) aufgeführt und sowohl in Einfingerverletzungen als auch Mehrfachverletzungen aufgeschlüsselt. Achtunddreißig Fälle (67 %) imponieren als isolierte Einfingerverletzungen, der Rest (33 %) sind Mehrfinger- sowie Handgelenksverletzungen. Bei der Auswertung der isolierten Einfingerverletzungen tritt ebenfalls die Hauptbeteiligung des linken Zeigefingers (13
Fälle) unter den „Ärztefällen” und des linken Daumens (13 Fälle) bei den übrigen Fällen deutlich hervor. An zweiter Stelle folgen hier die Mehrfingerverletzungen der linken Hand, dies gilt sowohl für die Mediziner als auch für die nichtärztlichen Berufe.
3.1.5. Verlauf der Verletzungen und Beschaffenheit der Wundränder
Auftreffrichtung bzw. -winkel der Gewalteinwirkung, bezogen auf die Fingerlängsachse lassen u. U. Rückschlüsse auf ein akzidentelles oder vorsätzliches Geschehen zu. Quere Verletzungen, die also senkrecht zur Fingerlängsachse verlaufen, sind nach Bonte/Goldberg [11], Bonte/Rüdell [8], Dern [12] u. v. a. ein Indiz für eine Selbstverstümmelung, besonders je weiter proximal sie lokalisiert sind und Mitverletzungen anderer Finger fehlen. Daher ist es von Bedeutung, den Anteil von querverlaufenden Einfingerverletzungen bei den hier vorgestellten Fällen festzustellen. Es konnte von 30 der 38 isolierten Fingerverletzungen die Verletzungsrichtung eruiert werden. Dabei sind nur solche Fälle berücksichtigt, bei denen Hieb- und Sägewerkzeuge sowie Scheren für die Verletzung ursächlich waren. Bei 17 Fällen (57 %) verläuft die Verletzungsrichtung senkrecht zur Fingerlängsachse, davon stellte sich der überwiegende Anteil später als Selbstverstümmelungen heraus. Nur zwei dieser 17 Fälle wurden - ohne Rechtsstreit - durch den Versicherer normal reguliert.
Von den 38 Fällen mit isolierten Fingerverletzungen waren die Wundränder bei 23 Verletzungen (61 %) glattrandig, 10 (26 %) waren unregelmäßig bzw. zerfetzt; über die restlichen 5 Fälle (13 %) gab es keine näheren Angaben.
3.1.6. Verbleib des Amputates und Replantation
Es wird immer wieder berichtet, daß Amputate nach verstümmelnden Verletzungen eines oder mehrerer Finger im Rahmen von beabsichtigten Versicherungsbetrugsfällen spurlos verschwinden (z. B. „vom Hund gefressen” oder in einen Farbeimer gefallen seien etc.). Die Mitführung des Amputates in eine Klinik birgt für einen VN, der einen Betrug plant, die Gefahr einer Minderung der Invaliditätsentschädigung durch eine
erfolgreiche Replantation. Von den untersuchten 38 totalen Amputationen kann hier ein Überblick über den Verbleib des Amputates bei 37 Fällen vorgelegt werden (Abb. 11).
Abb. 11: Verbleib des Amputates nach totalen Amputationen (n=37)
Es zeigt sich, daß mehr als die Hälfte der Amputate (54 %) nicht in eine Klinik mitgeführt wurde. Dabei gibt es übrigens keinen Unterschied zwischen den „Ärztefällen” und den nichtärztlichen VN - der Anteil der verschwundenen sowie am Unfallort verbliebenen Amputate ist in beiden Gruppen etwa gleich groß.
Fall 30 ist ein Beispiel für ein Verschwinden des Amputates nach der Tat. Er stellte sich später als eine Selbstverstümmelung heraus. Nach der totalen Amputation seines linken Daumens mit einer Axt habe der VN diesen in Toilettenpapier eingewickelt und anschließend erbrechen müssen. Das Toilettenpapier soll mitsamt dem Daumen danach in die Toilettenschüssel gefallen und fortgespült worden sein. Dieser Fall wird im Anhang ausführlich dargestellt.
Bei den 17 in die Klinik mitgeführten Amputaten fehlte in 6 Fällen die Indikation einer Replantation. In den übrigen 11 Fällen wurden zehn Replantationen versucht; in einem Fall (Nr. 35, siehe Kasuistik) lehnte der VN die Replantation - trotz sehr guter Prognose - ab. Unter den zehn Replantationen kam es in 4 Fällen zu unerklärlichen postoperativen Verläufen, die eine anschließende Nachamputation erforderten.
3.1.7. Versicherungsrechtlich bedeutsame Daten
Besondere Verdachtsmomente, welche gegen ein akzidentelles Geschehen sprechen, wie mehrere abgeschlossene Unfallversicherungsverträge, das Verschweigen derselben, eine kurze „Inkubationszeit” (Zeitpunkt des Vertragsabschluß bis zum Vorfall), finanzielle Schwierigkeiten des VN u. a. sind für den rechtsmedizinischen Sachverständigen bei der Wahrheitsfindung - im Rahmen der Begutachtung - zwar irrelevant, für die Entscheidungsfindung der Gerichte jedoch von besonderer Bedeutung. Daher wird hier eine Übersicht der Anzahl der abgeschlossenen Versicherungen sowie der „Inkubationszeit” vorgelegt.
Abb. 12: Anzahl der abgeschlossenen Versicherungsverträge (n=57)
Die Mehrheit der VN (65 %) besaßen zum Zeitpunkt der Verletzung mehr als eine Versicherung. Unter den 13 VN, die mehr als 3 Verträge abschlossen, wurden 11 als Betrüger entlarvt - bei den übrigen zwei konnte ein VN in erster gerichtlicher Instanz einen Vergleich erzielen; der andere Fall wurde normal reguliert.
Ein 21jähriger Versicherungskaufmann (Fall 57) hatte die höchste Anzahl von Verträgen aller VN vorzuweisen: er schloß innerhalb kürzester Zeit 18 Versicherungsverträge bei unterschiedlichen Gesellschaften ab - nur 2 Monate nach dem letzten Vertragsabschluß kam es zu dem angeblichen „Unfall”, der in zweiter gerichtlicher Instanz als Selbstverstümmelung eingestuft wurde. Der Fall war damit abgeschlossen.
Abb. 13: Laufzeit vom letzten Vertragsabschluss bis zum Vorfall „Inkubationszeit” (n=41)
Aus Abbildung 13 ergibt sich eine Laufzeit der Invaliditätsversicherung von mehr als 1 Jahr bei 19 Fällen; darunter finden sich 8 Selbstverstümmelungen. Von den 22 Fällen, deren „Inkubationszeit” unter einem Jahr liegt, sind 16 Betrugsfälle bekannt. Die kürzeste „Inkubationszeit” lieferte eine 51jährige Hausfrau (Fall 50, siehe Anhang) - eine bewiesene Selbstverstümmelung - mit nur 7 Tagen nach dem 4. Vertragsabschluß. Der Vertrag mit der längsten Laufzeit von 13 Jahren (Fall 31) und nur einem Vertragsabschluß wurde normal durch den Versicherer reguliert.
3.1.7.1. Maßnahmen der Versicherer
Nach dem Eingang einer Schadensmeldung, bei der ein Verdacht für eine nicht unfreiwillige Verletzung im Rahmen bestehender Unfallversicherungsverträge besteht, werden von den Versicherern Ermittlungsarbeiten nach einem bestimmten Schema initiiert. Bei allen 57 vorliegenden Fällen wurde jeweils mindestens ein Sachverständiger eingeschaltet, um mit Recherchen zu beginnen. In 43 Fällen (75 %) ist ein Rechtsanwalt von den Versicherern mit deren Vertretung beauftragt worden. Es wurden bei 13 Fällen (soweit bekannt) Detekteien angewiesen, Ermittlungen bezüglich der wirtschaftlichen Verhältnisse der VN aufzunehmen.
3.1.7.2. Verlauf und Abschluß der Fälle
Die abschließende Bewertung der Fälle zeigt Tabelle 4. Außerdem gehen aus dieser Aufstellung die Instanzen der Zivilgerichtsbarkeit hervor, in denen über die Klagen der VN - nach Ablehnung der begehrten Invaliditätsentschädigung durch die Versicherer - letztendlich entschieden worden war.
Tab. 4: Prozeßverlauf und abschließende Beurteilung der Fälle (soweit bekannt); (n=57): I.= Instanz.
Nr. Prozeß u. Abschluß Nr. Prozeß u. Abschluß
1 |
1. I., gerichtlicher Vergleich |
28 |
1., 2. I., Selbstverstümmelung |
2 |
1. I., Selbstverstümmelung |
29 |
normal reguliert, Unfall |
3 |
Selbstverstümmelung |
30 |
1., 2. I., Selbstverstümmelung |
4 |
normal reguliert, Unfall |
31 |
normal reguliert, Unfall |
5 |
1., 2. I., Selbstverstümmelung |
32 |
1., 2. u. 3. I., Unfall/Überfall |
6 |
1. I., Selbstverstümmelung |
33 |
1., 2., 3. I., Selbstverstümmelung |
7 |
normal reguliert, Unfall |
34 |
1. I., Selbstverstümmelung |
8 |
normal reguliert, Unfall |
35 |
1. I., Selbstverstümmelung |
9 |
1., 2. I., Unfall |
36 |
1., 2. I., Selbstverstümmelung |
10 |
normal reguliert, Unfall |
37 |
1. I., Selbstverstümmelung |
11 |
1. I., Selbstverstümmelung |
38 |
1., 2. I., Selbstverstümmelung |
12 |
normal reguliert, Unfall |
39 |
1. I., ? |
13 |
normal reguliert, Unfall |
40 |
1. I., ? |
14 |
1., 2. I., Selbstverstümmelung |
41 |
1. I., Selbstverstümmelung |
15 |
1. I., Selbstverstümmelung |
42 |
1., 2. I., Selbstverstümmelung |
16 |
1. I., Suizidversuch |
43 |
? |
17 |
1. I., Selbstverstümmelung |
44 |
1. I., Selbstverstümmelung |
18 |
1. I., Selbstverstümmelung |
45 |
1., 2. u. 3. I., Unfall |
19 |
1. I., Selbstverstümmelung |
46 |
1. I., Selbstverstümmelung |
20 |
1. I., gerichtlicher Vergleich |
47 |
normal reguliert, Unfall |
21 |
normal reguliert, Unfall |
48 |
1., 2. I., Unfall |
22 |
1. I., ? |
49 |
1. I., gerichtlicher Vergleich |
23 |
außergerichtlicher Vergleich |
50 |
1., 2. I., Selbstverstümmelung |
24 |
1. I., Unfall |
51 |
außergerichtlicher Vergleich |
25 |
1., 2. u. 3. I., Selbstverstümmelung |
52 |
1., 2. I., Selbstverstümmelung |
26 |
1., 2. I., Unfall |
53 |
1. I., Unfall |
27 |
1., 2. I., ? |
54 |
1. I., Selbstverstümmelung |
|
|
55 |
Selbstverstümmelung |
|
|
56 |
Selbstverstümmelung |
|
|
57 |
1., 2. I., Selbstverstümmelung |
In über 70 % aller Fälle wurde gerichtlich über die Frage Unfall oder Selbstverstümmelung entschieden. Neunundzwanzig Fälle (51 %) sind demnach bewiesene Selbstverstümmelungen, als Unfälle werden 17 Fälle (30 %) eingestuft. Die restlichen 11 Fälle (19 %) wurden entweder durch einen Vergleich zwischen VN und Versicherer abgeschlossen oder der Verfahrensausgang ist nicht bekannt. Nur 10 Fälle wurden durch den Versicherer normal reguliert, meist nachdem ein unabhängiger Sachverständiger keinen Hinweis für eine Selbstverstümmelung festgestellt hatte.
In Fall 16 ging es nicht um die Frage einer Selbstverstümmelung. Dort stellte der VN seinen mißglückten Suizidversuch, mittels Zündung einer Sprenghandgranate in der Duschkabine, nachträglich als angeblichen Unfall nach dem UVÄ dar, dieses allerdings ohne Erfolg.
Ebenfalls ungewöhnlich mutet Fall 32 an. Der VN behauptete, er sei von einem Täter überfallen worden, der ihm den linken Daumen mit einer Rosenschere abgetrennt habe, um einen dort befindlichen goldenen Ring zu entwenden. Dieser Fall wird im Anhang dargestellt.
3.1.8. Weg und Ergebnis der Begutachtung
Im zeitlichen Verlauf, von der Schadensmeldung der VN an die Versicherungsgesellschaften bis zum Abschluß der Verfahren, sind die Fälle z. T. mehrfach von verschiedenen Sachverständigen untersucht und begutachtet worden - dieses in vielen Fällen auch mit unterschiedlichen Ergebnissen.
Insgesamt wurden die 57 Fälle in 106 Gutachten untersucht und bewertet. Die Verteilung der dabei tätigen Sachverständigen zeigt Abbildung 14.
Abb. 14: Fachdisziplinen der verschiedenen Gutachter (n=106)
Es werden eindeutig mehr Rechtsmediziner (85 %) als andere Sachverständige mit der Begutachtung in derartig gelagerten Fällen beauftragt. Bei den 3 interdisziplinären Gutachten handelt es sich um zwei Gemeinschaftsarbeiten von Rechtsmedizinern mit Ingenieuren und eine Kooperation zwischen Rechtsmediziner und Chirurg.
Wenn die Sachverständigen experimentelle Untersuchungen zur Unterstützung ihrer Gutachten durchführten, wurden die Fälle bei der abschließenden rechtlichen Bewertung häufiger als Selbstverstümmelungen eingestuft. Die folgende Abbildung Nr. 15 zeigt hierzu eine Übersicht.
Abb. 15: Differenzierung Selbstverstümmelung/Unfall bei erfolgten oder nicht durchgeführten experimentellen Untersuchungen im Rahmen der Begutachtung (n=44)
Zu einem Großteil der Diagnosen einer freiwilligen Verletzung (Selbstverstümmelung) führten also Rekonstruktionen und experimentelle Untersuchungen (Abb. 15 des Sachverständigen mit dem Originalwerkzeug (Leichenexperimente, Versuche mit anderen Werkstoffen oder biologischen Materialien). Beim überwiegenden Anteil der Unfälle erfolgten allerdings keine speziellen Experimente zur Klärung des Geschehens, sondern die Untersuchung beschränkte sich meist lediglich auf eine Besichtigung der Schadensörtlichkeit mit dem Versuch einer Rekonstruktion des Geschehens vor Ort (Ortstermin) und eine sich anschließende Literaturstudie.
Bei 45 Fällen (79 %) wurde mindestens eine Besichtigung der Schadensörtlichkeit mit dortigen Rekonstruktionsversuchen durch die Sachverständigen durchgeführt.
Da die weitaus höhere Anzahl der Gutachten von privaten Auftraggebern initiiert wurde, könnte die Besorgnis entstehen, daß die Sachverständigen als Parteigutachter ihre Objektivität und Unparteilichkeit verlieren. Bonte [10] wies schon einmal auf dieses Problem hin. Es wird daher versucht, die Bewertung der Gutachten in Abhängigkeit vom Auftraggeber (Versicherer, Gerichte und Versicherungsnehmer) zu analysieren.
Abb. 16: Bewertung der Gutachten und Differenzierung der Auftraggeber bei den 29 eindeutig als Selbstverstümmelungen eingestuften Fällen (n=62)
Während die Gutachten - von den Versicherern und Gerichten initiiert - die 29 Selbstverstümmelungen fast durchweg als freiwillige Verletzungen einordnen (Abb. 16), führen alle 7 Privatgutachten, die im Auftrag der VN erstellt wurden, zu dem Ergebnis einer unfreiwilligen Verletzung (Unfall). Dabei ist darauf hinzuweisen, daß kein Rechtsmediziner - als Sachverständiger - an einem dieser 7 Privatgutachten beteiligt war.
Aus Abbildung 17 geht hervor, daß die Mehrheit der Gutachten - unabhängig vom Auftraggeber - die 17 als Unfälle eingestufte Geschehen als unfreiwillige Verletzungen betrachten. Dabei ergibt sich für den Anteil der als freiwillig eingeordneten Fälle, im Vergleich zwischen Gerichten und Versicherern als Auftraggeber, nur ein geringer Unterschied.
Abb. 17: Bewertung der Gutachten und Differenzierung der Auftraggeber bei den 17 als Unfälle eingestuften Fällen (n=26)
4. KASUISTIK
Die Kasuistik soll einerseits die Problematik von rechtsmedizinisch und versicherungsmedizinisch charakteristisch erscheinenden Fällen veranschaulichen, andererseits aber auch besonders spektakuläre und sonstige interessante Fälle beleuchten. Einige Falldarstellungen werden aufgrund ihrer Länge im Anhang präsentiert (siehe Tabelle 5).
Tab. 5: Kasuistik (Übersicht)
Fall Nr. Geschehensablauf Klassifikation
1 |
Knochenverletz. Dig. II li. mit einer Tischkreissäge |
unklar |
2 |
Totalamput. Dig. II li. mit einem Beil |
Selbstverst. |
3 |
Subtotale Amput. Dig. II re. mit einer Tischkreissäge |
Selbstverst. |
6 |
Subtotale Amput. Dig. II li. mit einer Kettensäge |
Selbstverst. |
8 |
Quetschverletz. Dig. II li. durch einen Stein (ca. 30-50 kg schwer) |
Unfall |
11 |
Totalamputat. Dig. II li. durch eine Schlittschuhkufe |
Selbstverst. |
12 |
Totalamputat. Dig. II li. durch Hineinfallen in den Motorenraum/PKW Motorraum/Pkw |
Unfall |
28 |
Totalamputat. Dig. I re. mit einer Stoßaxt |
Selbstverst. |
30 |
Totalamputat. Dig. I li. mit einer Axt |
Selbstverst. |
34 |
Totalamputat. Dig. II li. durch eine Gehwegplatte |
Selbstverst. |
35 |
Totalamputat. Dig. I li. mit einer Tischkreissäge |
Selbstverst. |
44 |
Totalamputat. der gesamten linken Hand durch ein Eisenblech |
Selbstverst. |
Im Anhang präsentierte Kasuistiken:
9 |
Totalamputat. Dig. II li. durch einen Rasenmäher |
Unfall |
22 |
Mehrfachverletz. beider Hände beim Radwechsel |
unklar |
23 |
Totalamputat. Dig. I re. beim Zufallen eines Eisentores |
unklar |
32 |
Totalamputat. Dig. I li. während eines Raubüberfalles |
Überfall |
50 |
Totalamputat. Dig. II - IV li. einer Frau durch eine kleine Axt |
Selbstverst. |
Fall 1: Knochenverletzung Dig. II li. mit einer Tischkreissäge
Der VN - 46 Jahre alter Chirurg (Rechtshänder) - hatte im Bereich der Einfahrt zu seinem Grundstück eine neue Tischkreissäge aufgestellt. Er habe eine etwa 2,50 bis 3 m lange Holzleiste (Querschnitt ca. 4 x 6 cm) verkürzen wollen. Die vorgesehene Schnittstelle sei asymmetrisch markiert gewesen. Er habe nun die Absicht gehabt, die Holzleiste auf dem Sägetisch in eine für den Sägevorgang adäquate Position zu bringen, welches nicht einfach gewesen sei, da das Werkstück zur einen Seite ca. 2 m und zur anderen Seite ca. 0,50 m übergestanden habe. Der VN gab an, die Leiste mit beiden Händen rechts und links von der beabsichtigten Schnittstelle umfaßt zu haben und zwar so, daß die Zeigefinger auf der sägeseitigen Schmalkante gelegen hätten und die Daumen auf der dem VN zugerichteten Schmalkante. Irgendwie sei nun beim Positionieren die bewegliche Tischplatte der Säge gegen das Sägeblatt geschoben worden. Ob der VN mit den Händen, der Leiste oder mit dem Bauch gegen den Tisch stieß, konnte er nicht mehr angeben. Er geriet mit dem linken Zeigefinger gegen das laufende Sägeblatt.
Bei der Inspektion durch den erstbehandelnden Chirurgen zeigte sich ein ausgedehnter Weichteilschaden am linken Zeigefinger ab dem Grundglied bis an das Mittelgelenk mit Verletzung der Fingernerven, Defekt der Strecksehne und Abfaserung der Beugesehne. Röntgenologisch bestand eine Trümmerfraktur des Mittelgliedes mit Eröffnung und Zerstörung des Mittelgelenkes. Als Therapie erfolgte eine operative Wundversorgung mit Amputation im mittleren Drittel des Grundgliedes, da der Finger nicht mehr zu retten war.
Der von der federführenden Versicherung beauftragte Gutachter stellte fest, daß die Handhaltung des VN eine physiologische gewesen war, und daß bei dieser auch exakt jene Verletzungen entstanden sein konnten, die vorgewiesen wurden: Anschnitt von streckseitig her, etwas schräg zur Zeigefingerachse im Mittelgliedbereich. Das Geschehen war vom Vorgang her rekonstruktabel; der Gutachter kam zu dem Ergebnis, daß es keine Anhaltspunkte gebe, die gegen ein unfreiwilliges Schadensereignis (Unfall) sprachen.
Dennoch kam es zu einem Prozeß, weil die Umstände vor dem Vorfall doch sehr stark an eine Selbstverstümmelung denken ließen: Der VN hatte kurze Zeit vor seinem eigenen angeblichen Unfall ein Unfallopfer als Patient (Fingerverletzung) behandelt, welches ihm von einer zu erwartenden Versicherungssumme berichtete (laut Ermittlungen durch eine Detektei, belegt durch Zeugenaussagen). Darauf schloß der Arzt innerhalb von nur zwei Monaten bei verschiedenen Unfallversicherern fünf Verträge über eine Invaliditätsentschädigung ab. Mit einer bereits zuvor bestehenden Versicherung verfügte er so über sechs Verträge (jeweils mit verbesserter Gliedertaxe) mit einer Invaliditätsentschädigung von insgesamt 2,4 Mio. DM, dies bei einer Jahresprämie von rund 5.400 DM. Finanziell belastet war der VN u. a. durch ein Hypothekendarlehen in Höhe von 450.000 DM, für das er 14 % Jahreszinsen zahlen mußte. 42 Tage nach Abschluß des letzten Unfallversicherungsvertrages kam es zu dem oben geschilderten Unfall. Letztendlich wurde in erster gerichtlicher Instanz ein Vergleich zwischen VN und den Versicherern geschlossen.
Der Ast habe nun so auf dem Hauklotz gelegen, daß die konvexe Seite nach oben und die konkave Seite zur Hauklotzoberfläche gezeigt habe, wobei infolge der Biegung ein Zwischenraum von etwa 1 bis 2 cm zwischen Ast und Arbeitsfläche bestanden habe. Zum Fixieren des Astes habe er die linke Hand um das Astende gelegt und den linken Zeigefinger parallel zum Hauptast auf den von ihm wegweisenden Seitenast. Er habe nun mit dem Beil wuchtig ausgeholt, um mit Schwung das dicke Ende des Astes mit einem Schlag durchtrennen zu können. Während des Zuhauens sei plötzlich ein Insekt hinter sein linkes Brillenglas geraten. In einer Schreckreaktion habe er mit dem Kopf eine Schleuderbewegung, überwiegend nach links, ausgeführt. Dabei habe er den Schlag nicht gebremst, habe den Ast auch nicht an der „geplanten“ Stelle getroffen, sondern links vom Nebenast, wo sich der linke Zeigefinger befunden habe. Die körperferne Ecke der Beilschneide sei dabei tief in den Hauklotz eingedrungen, die körpernahe Seite der Schneide habe sowohl den Ast getroffen und teilweise durchtrennt als auch den linken Zeigefinger. Der Finger sei mit dem Ast und mit dem Beil im Hauklotz verkeilt gewesen. Durch Rütteln und Hebeln habe er versucht, diese Situation zu beheben. Dabei sei der Zeigefinger offensichtlich gänzlich amputiert worden. Der Finger habe auf dem Boden gelegen und sei später - von ihm als nicht replantationswürdig bewertet (er habe an Tetanusinfektionsgefahr gedacht) - auf den Komposthaufen geworfen worden.
Bei der chirurgischen Notfallversorgung zeigte sich, daß der größte Teil des linken Zeigefingers (Mittel und Endglied) verlustig gegangen war. Es bestand eine quer zur Fingerachse verlaufende glattrandige Wunde dicht vor der Schwimmhaut. Zwei weitere parallel dazu liegende Schnittwunden lagen proximal streckseitig, diese ebenfalls mit glattem Rand und von 1,5 bis 2 cm Länge. Es wurde in Medianusblockanästhesie nachamputiert und der Stumpf mit den verbliebenen Hautweichteilen gedeckt.
Die Begutachtung im Auftrag der Versicherung führte zu der Einschätzung, daß die Handhaltung des VN völlig unphysiologisch gewesen war, wobei das Beil gar nicht mitten in den Hauklotz eindringen konnte. Es bestand eine sogenannte „Exekutionshaltung“ des Zeigefingers. Die beiden Schnittwunden wurden als sog. „Probierschnitte bzw. -hiebe“ bewertet (siehe hierzu Abbildung 18). Sie konnten auch nicht durch das Hebeln des Beiles erfolgt sein, wie es der VN später in einem Protokoll zu erklären versuchte. Der rechtsmedizinische Sachverständige stellte einen Fall von Selbstverstümmelung fest. Daraufhin lehnte die Versicherung eine Schadensregulierung ab.
Der VN erhob Klage vor dem Landgericht. Als der von Gericht beauftragte (weitere) gerichtsmedizinische Sachverständige in seinem Gutachten ebenfalls zur Einschätzung „freiwillig herbeigeführte Verletzung” kam, nahm der VN seine Klage zurück. Er tat dies sicherlich auch, um die vom Zivilgericht angedrohte Abgabe des Verfahrens an die Staatsanwaltschaft zu verhindern.
Abb. 18: Querverlaufende sog. „Probierschnittverletzung” bei 3,5 cm
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Fall 3: Subtotale Amputation Dig. II re. mit einer Tischkreissäge
Der VN - 51 Jahre alter Arzt (Rechtshänder) - schilderte, daß es auf dem Rasen seines Wochenendgrundstückes zu folgendem Zwischenfall gekommen sei: Er habe sich nach den bereits abgeschlossenen Sägearbeiten in sein Haus begeben, um etwas zu trinken (keinen Alkohol). Anschließend sei er wieder an die schwere, noch laufende Tischkreissäge getreten, um diese abzuschalten. Beim Herantreten an die Säge sei er mit dem Fuß gegen die Kante des Brettes gestoßen, daß er vor Beginn des Sägevorganges unter das rechte ihm zugewandte Bein des Sägetisches gelegt hatte, um der Säge einen festen Stand zu verleihen. Bei dem Anstoßen sei er hängengeblieben und mit dem Körper nach vorn gestolpert. Die rechte Hand sei zu Beginn dieser Bewegung mit dem Handrücken nach unten auf dem Sägetisch zu liegen gekommen (ca. 10 cm vor dem Sägeblatt). Mit der linken Hand habe er in auf dem Sägetisch liegende Holzkeile gefaßt. Diese seien nach vorne gerutscht und hätten den rechten Zeigefinger eingeklemmt. Gleichzeitig sei er zusätzlich mit der rechten Hüfte gegen den beweglichen Sägetisch gefallen, was zur Folge gehabt habe, daß der Tisch in Richtung Sägeblatt vorgeschoben worden sei. Das rotierende Sägeblatt habe den eingeklemmten rechten Zeigefinger erfaßt und fast völlig abgetrennt, wobei die Amputationsebene nahezu quer zur Fingerlängsachse verlief.
Die ärztliche Untersuchung stellte eine Durchtrennung des Streck- und Kapselapparates in Höhe des Mittelgelenkes fest. Die Beugesehnen und das Gefäß-Nerven-Bündel waren zerfetzt. Handflächenseitig stand nur noch eine Hautbrücke von 10 mm Breite, wobei das subtotal abgetrennte Amputat nicht durchblutet war. Auf dem Röntgenbild sah man, daumenseitig des Amputates, einen ca. 4 mm langen und an der Basis 3 mm breiten Knochensporn. Da eine mikrochirurgische Rekonstruktion nicht möglich erschien, wurde amputiert und die Wunde mit dem handflächenseitigen Hautlappen verschlossen.
Bei der rechtsmedizinischen Begutachtung konnte bewiesen werden, daß die Verletzungsrichtung keinesfalls von der Daumenseite bis hin zur Kleinfingerseite verlaufen war, wie es nach der Darstellung des VN zu erwarten gewesen wäre, vielmehr in umgekehrter Richtung, also von kleinfingerwärts zur Daumenseite hin. Beleg dafür war der Knochensporn auf der Daumenseite (Röntgenbild), welcher morphologisch das Ende eines Sägevorganges im Knochen kennzeichnet und damit die Sägerichtung indiziert. Ein Abstützen mit dem Handrücken der rechten Hand wurde als unphysiologische Reaktion des VN auf das Stolpern bewertet. Der morphologische Verletzungsbefund und die Schilderung des VN waren rekonstruktiv nicht in Einklang zu bringen. Der Gutachter kam zu dem Schluß, daß es sich nicht um eine unfreiwillige Verletzung handelte.
Als zusätzliche Hinweise auf eine Freiwilligkeit der Verletzung waren die Anzahl der Versicherungsverträge (4 Invaliditätsversicherungsabschlüsse, davon 3 innerhalb eines Monats) sowie die kurze „Inkubationszeit“ (Versicherungsvertragsbeginn bis zum Zeitpunkt der Verletzung) von nur 2 Monaten zu werten. Der VN strengte kein Gerichtsverfahren gegen die Versicherungsgesellschaften an, welche eine Invaliditätsentschädigung abgelehnt hatten. Bei diesem Fall sah das Vertragskonzept übrigens nur eine erhöhte Invaliditätsleistung bei Verletzung der Gebrauchshand vor.
Fall 6: Subtotale Amputation Dig. II li. mit einer Kettensäge
Ein 46 Jahre alter VN (Anästhesist, Rechtshänder) habe mit einer Kettensäge (Benzinmotor) Kaminholz gesägt, dabei seien Holzstämme mit einem Durchmesser von bis zu 40 cm und einer Länge von etwa 100 bis 120 cm bearbeitet worden. Diese Stämme habe er in der Mitte durchtrennen wollen, damit sie in den Kamin passen; sie hätten auf einem Stapel im Garten gelegen. Er habe die Stämme, ohne daß er dazu einen Sägebock o. ä. benutzt habe, durchtrennt und anschließend vom Stapel genommen. Teilweise seien die Holzstämme auch nach dem Durchsägen vom Stapel gerollt. Während des Sägens sei die Kette plötzlich stehengeblieben. Der VN habe nun ein paar mal aufs’ Gas gedrückt, um die Kettensäge durchlaufen zu lassen, allerdings habe die Säge nicht reagiert. Deshalb habe er die Säge mit beiden Händen aus den Sägeschnitt im Holz gezogen. Dabei sei von ihm ein Gegenstand gesehen worden, der wie ein dunkler Lappen ausgesehen habe, genau an der Stelle, wo die Kette in das Gehäuse läuft. Nun habe der VN die Säge mit dem Gehäuse gegen seine rechte Leiste gedrückt, habe den Gasgriff losgelassen und die rechte Hand auf den Haltebügel gelegt. Routinemäßig habe der VN währenddessen die Kettenbremse ausgelöst. Nun habe er mit der linken Hand ruckartig und mit großer Kraft an dem verklemmten Lappen gezogen. Dieser sei freigekommen - gleichzeitig sei die Kette wieder losgelaufen. Der VN vermutete später, daß er die Bremse nicht vollständig ausgelöst habe und durch den Ruck der Gasgriff aus der Leiste herausgerutscht sei, wodurch das Schwert, welches ursprünglich schräg nach oben gezeigt habe, nach unten geschlagen sei. Dabei sei der linke Zeigefinger getroffen worden. Er habe während der Tätigkeit grobe Arbeitshandschuhe getragen und nur eine „dezente” Berührung und ein zwei- oder dreimaliges Raspeln wahrgenommen - die Handschuhe hätten sich am Zeigefinger rot gefärbt. Der VN hätte nun alles fallen lassen, sei in das Haus gelaufen, habe die Handschuhe ausgezogen und eine Notkompresse angelegt. Anschließend sei er mit dem Wagen in eine nahe Klinik gefahren.
Die Untersuchung ergab einen subtotalen Verlust des linken Zeigefingermittelgliedes mit Zerstörung des Streckapparates und weitgehendem Verlust des Mittelgliedknochens. Auf der Ulno-Volarseite bestand lediglich noch ein Gewebsstrang mit dem Gefäß-Nervenbündel. Diese Verletzung gestatte keine Rekonstruktion des betroffenen Fingers, daher wurde dieser im Köpfchen des Zeigefingergrundgliedes amputiert.
Der VN war bei zwei Versicherungen mit 900.000 DM gegen Invalidität versichert. Der hinzugezogene rechtsmedizinische Sachverständige, welcher mit der Klärung des Vorfalls beauftragt wurde, unternahm experimentelle Sägeversuche unter Beiziehung von Leichenmaterial zur Frage der Morphologie von Kettensägenverletzungen und zum Problem der Amputationsdauer. Zusätzlich erfolgten Versuche zur Handhabung einer Kettensäge und zur Ausbalancierung des Schwertes bei plötzlichen Drehzahlerhöhungen. Die Verursachung einer vergleichbaren Verletzung im Experiment ergab, daß dafür eine Einwirkungsdauer der Säge von etwa 10 sec. erforderlich ist. Auch die Auswertung einer großen Zahl gewerblicher akzidenteller Verletzungen bestätigte, daß, bevor es zu schweren Verletzungen kommt, ausreichend Zeit zur Reaktion und damit zur Minderung der Verletzungsschwere zur Verfügung steht. Der vom VN geschilderte und demonstrierte Geschehensablauf war nicht geeignet, eine subtotale Amputation des linken Zeigefingers plausibel zu erklären.
Der VN klagte vor dem Landgericht; dabei gelangte der gerichtlich bestellte rechtsmedizinische Sachverständige ebenfalls zu der Erkenntnis, daß eine freiwillige Verletzung vorlag. Der VN beauftragte nun seinerseits einen Ingenieur, den Vorfall zu untersuchen. Dieser hielt durchaus eine Unfreiwilligkeit des Geschehens für möglich. Letztendlich wies das zuständige Gericht jedoch die Klage des VN zurück.
Fall 8: Quetschverletzung Dig. II li. durch einen Stein
Im Garten seines Hauses sei der 48jährige VN (Chirurg, Rechtshänder) damit beschäftigt gewesen, den Bewuchs des Steingartens einschließlich der darin befindlichen Trockenmauer zu verändern. In den Fugen der Mauer habe sich viel Unkraut ausgebreitet gehabt, welches der VN entfernen wollte. Hierzu habe er am Ende der Mauer den oberen Stein (ca. 30-50 kg) nach hinten gekippt, so daß dieser auf der Schmalseite gestanden habe. Die Schmalseite sei auf Erdreich und Pflanzen zu liegen gekommen und sei an sich schon sehr uneben gewesen. Mit seiner linken Hand habe der VN sich am freigelegten Teil der Mauer abgestützt, wobei er sich in hockender Position befunden habe. Er hätte nun nach rechts geschaut, um eine vor der Mauer befindliche Handschaufel aufzuheben, da sei plötzlich der hochkant gestellte Stein nach vorn umgekippt und habe seinen linken Zeigefinger getroffen (siehe Abb. 19). Dieser sei eingequetscht und eingeklemmt worden. Auf die Hilferufe des VN sei ein Nachbar erschienen. Dieser habe den VN aus seiner mißlichen Lage befreien können. Nachdem er mit Hilfe seiner Frau an dem verletzten Finger selbst eine Leitungsanästhesie nach Oberst durchgeführt habe, sei er dann von ihr in ein Krankenhaus gefahren worden.
Abb. 19: Nachgestellte Haltung des VN zum Unglückszeitpunkt (Ortstermin)
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Dort wurde festgestellt, daß der Weichteilmantel des linken Zeigefingers im Bereich des End- und Mittelgliedes hochgradig gequetscht war. Es bestand ein Trümmerbruch des End- und Mittelgliedknochens, wobei auch die Basis des Mittelgliedes mitbetroffen war. Gleichzeitig war der Finger im Mittelgelenk subluxiert und der mittlere Strecksehnenzügel durchtrennt. Eine Erhaltung des Fingers hätte zwangsläufig zu einer Versteifung im Mittel- und Endgelenk geführt, so daß der versteifte Finger den VN, in seiner Tätigkeit als Chirurg, behindert hätte. Zusätzlich bestand die Gefahr, daß, durch die Weichteilquetschung bedingt, eine unzureichende Durchblutung resultiert hätte, und der Finger sowieso hätte amputiert werden müssen. Aus diesem Grund wurde eine Amputation des linken Zeigefingers im Mittelgelenk vorgenommen.
Der VN war zweifachversichert, dies über eine Gesamtversicherungssumme von 930.000 DM. Von einer der betroffenen Versicherungsgesellschaften wurde ein rechtsmedizinischer Sachverständiger mit der Untersuchung des Falles beauftragt. Dieser kam nach einem obligatorischen Ortstermin und dortigen Rekonstruktionsversuchen mit dem VN zu der Erkenntnis, daß sich die Hergangsschilderung mit der vorgewiesenen Verletzung vereinbaren ließ, also von einem unfreiwilligen Schadensereignis auszugehen war. Es erfolgten allerdings keine nachfolgenden Experimente, um dieses zu untermauern. Die Versicherungen bezahlten die begehrte Invaliditätsentschädigung an den VN.
Fall 11: Totalamputation Dig. II li. durch eine Schlittschuhkufe
Der 33jährige VN (Anästhesist) suchte zusammen mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern eine Eissporthalle zum Schlittschuhlaufen auf. Die Eisfläche war sehr voll, als sich folgendes ereignet haben soll:
Er sei mit seiner älteren Tochter (7 Jahre) so gelaufen, daß sie sich rechts neben ihm befand. Während des Laufens sei er gestolpert, da seine Tochter gegen sein rechtes Bein gestoßen sei. Der VN sei nach hinten links gestürzt. Er habe gerade wieder aufstehen wollen, als eine Person, vermutlich ein Mann, mit ihrem Schlittschuh auf seine linke Hand getreten sei. Der VN habe starke Schmerzen verspürt, die Hand sofort mit einem Schal umwickelt und sich unverzüglich auf eine nahegelegene Toilette begeben. Dort habe er bemerkt, daß ein großer Teil des linken Zeigefingers fehlte und aus den Arterienstümpfen noch Blut gespritzt sei. Die anschließende Suche auf der Eisfläche durch mehrere Mitarbeiter der Eissporthalle nach dem Amputat war erfolglos.
Im nahegelegenen Krankenhaus wurde eine völlig glattrandige, senkrecht zur Fingerlängsachse gelegene Amputation des linken Zeigefingers im proximalen Grundglied diagnostiziert. Mitverletzungen anderer Finger fehlten. Ein Anruf des behandelnden Arztes an die Eissporthalle, bezüglich dem Verbleib des Amputates, blieb ohne Erfolg. Das Eis war bereits geräumt und neu gemacht, das Amputat wurde nie gefunden. Ungewöhnlich war natürlich der Umstand, daß weder ein anderer Gast den Vorfall beobachtet und gemeldet hatte noch das amputierte Fingerteil auf dem Eis gefunden wurde, obwohl schon kurz nach dem Vorfall von mehreren Mitarbeitern eine Suche gestartet worden war. Der verletzte Finger mußte nachamputiert werden, um eine Weichteildeckung des Stumpfes zu gewährleisten.
Im Vorfeld dieses Geschehens hatte der VN, innerhalb von nur 3 Monaten, vier Versicherungsverträge über eine Gesamtversicherungssumme von über 3 Mio. DM abgeschlossen. Drei Monate nach dem letzten Versicherungsabschluß kam es zu dem
o. a. Vorfall. Es wurde von der federführenden Versicherung ein Rechtsmediziner mit der Begutachtung des Geschehens beauftragt. Im Experiment kam es durch einen Schlittschuh lediglich zu Weichteilverletzungen. Eine Fraktur oder gar Amputation konnte in keinem Versuch erreicht werden, außerdem war eine isolierte proximal gelegene Verletzung im Zeigefingergrundglied ohne Mitverletzung anderer Finger sehr unwahrscheinlich. Die Verletzungsbefunde und die Begleitumstände entsprachen in allen Punkten den Kriterien einer klassischen Selbstverstümmelung. Die Versicherer lehnten eine Schadensregulierung ab; eine Klage des VN vor dem Landgericht brachte keinen Erfolg, nachdem ein vom Gericht beauftragter zweiter Sachverständiger das erste Gutachten bestätigte.
Fall 12: Totalamputation Dig. II li. durch Hineinfallen in den Motorenraum
Ein 50jähriger VN (Orthopäde, Rechtshänder) fuhr mit einem gemieteten PKW, während seines Urlaubs auf einer Ferieninsel. Während dieser Fahrt habe er ein schweres Metallrohr überfahren, welches mit einem lauten Schlag von unten gegen den Motor gestoßen sei. Vorsorglich sei der VN kurz darauf an einer Straßenbucht angehalten, um den Motor bzw. die Leitungen auf einen Schaden zu untersuchen, wobei er den Motor habe laufen lassen. Es sei nichts Besonderes am Motor bemerkt worden; der VN habe sich gerade noch etwas weiter nach vorne geneigt, um einen letzten Blick in den hinteren Teil des Motorenraumes zu werfen, da sei er mit den Schuhen auf Straßensplitt ausgerutscht. Die Motorhaube sei aus der rechten Hand geglitten und habe den VN auf Kopf und Rücken geschlagen. Der linke Zeigefinger habe sich in der Keilriemenanlage verfangen und sei mehrfach herumgeschleudert worden (Abb. 20). Reflektorisch und in Panik habe er nun seine linke Hand zurückgezogen - dabei sei der linke Zeigefinger abgerissen worden.
Abb. 20: Mögliche Position des linken Zeigefingers beim Hineinfallen in den
Motorenraum
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Der VN wurde von einem vorbeikommenden Autofahrer in eine Klinik gebracht. Der linke Zeigefinger war in der Grundgliedbasis traumatisch amputiert. Die Wundränder waren zerfetzt; zusätzlich waren erhebliche Begleitverletzungen eingetreten, wie Schnittverletzungen und Schürfungen der linken Hand, eine Distorsion am linken Hand- und Ellenbogengelenk, sowie Prellungen am linken Arm, der linken Hand und auch am Rücken der rechten Seite, letzteres vermutlich durch die recht schwere Motorhaube. Das mitgebrachte Amputat war mehrfach verletzt und nicht replantationswürdig.
Der VN besaß zu dieser Zeit sechs Unfallversicherungsverträge über eine Invaliditätsentschädigungsumme von insgesamt 3,41 Mio. DM, darunter auch einen Vertrag nach dem UVÄ. Dieses war schon ungewöhnlich, also beauftragte die Versicherungsgesellschaft, von welcher der VN die höchste Invaliditätsentschädigung reklamierte, einen rechtsmedizinischen Sachverständigen, um diesen Vorfall zu untersuchen. Experimente zeigten, daß ein Hineinrutschen in die Keilriemenanlage durchaus plausibel und nachvollziehbar war. Es konnte ebenfalls auch zu einer isolierten Abtrennung des Zeigefingers, mit den beschriebenen Verletzungsbild, gekommen sein. Möglich war natürlich eine freiwillige Inkaufnahme einer derartigen Verletzung, was sich aber anhand der Verletzungen alleine nicht von einem Unfallgeschehen abgrenzen ließ. Dieses Geschehen wurde als Unfall eingestuft; die Versicherungen bezahlten die vereinbarten Summen an den VN.
Fall 28: Totalamputation Dig. I re. mit einer Stoßaxt
Ein 34 Jahre alter VN (Programmierer, Rechtshänder) ging in der Zimmerei seines Bruders kaufmännischen Aufgaben nach, übernahm dort allerdings auch häufig handwerkliche Arbeiten. Eines Tages habe der VN ein 10er Kantholz (150 cm Länge) entrinden wollen, d. h. die Rinde an den Kanten abstechen. Er habe das Holz auf die Erde gestellt und dabei die rechte Hand zum Festhalten genutzt. Mit der linken Hand sei eine sog. Stoßaxt (Flacheisen mit einem Griff oben) bedient worden. Während dieser Tätigkeit sei er gestolpert, habe das Kantholz losgelassen und sich mit der rechten Hand auf dem Boden abgestützt - er habe auch mit der linken auf dem Boden Halt gesucht, welche noch die Stoßaxt hielt. In dem Moment sei auch schon der rechte Daumen getroffen und völlig amputiert worden. Zeugen für dieses Geschehen gab es nicht.
Von seinem Bruder in ein nahes Krankenhaus gefahren, wurde dort eine glattrandige, senkrecht zur Fingerlängsachse und leicht distal zur Grundgliedbasis gelegene Amputationsverletzung des rechten Daumens festgestellt. Es gab keine weiteren Sekundärverletzungen, weder feine noch grobe Knochensplitterung, keine Hautbrücken. Der abgetrennte Daumen konnte trotz intensiver Suche nicht aufgefunden werden, so daß eine primäre Replantation nicht möglich war. Der VN meinte dazu später: „Ich nehme an, daß eines der sehr häufig dort streunenden Tiere ihn gefressen hat.”
Es wurde bekannt, daß der VN bisher insgesamt neun Suizidversuche begangen hatte; man konnte also nicht unbedingt von einer emotional stabilen Persönlichkeit ausgehen. Die finanziellen Verhältnisse des VN galten als geregelt; allerdings hatte er noch 2 Monate zuvor, in einem Zeitraum von nur 3 Monaten, insgesamt vier private Unfallversicherungsverträge über eine Gesamtversicherungssumme von 1,61 Mio. DM abgeschlossen. Dem von den Versicherungen engagierten Gutachter fiel zuerst auf, daß der VN die Stoßaxt mit der linken Hand führte, obwohl er Rechtshänder war. Die Begründung des VN, daß er die Kraft der rechten Hand benötigte, um das Kantholz festzuhalten, war nicht nachvollziehbar. Experimente an geeignetem Material zeigten, daß eine komplette Amputation mit den beschriebenen Wundverhältnissen beim Aufschlag der Stoßaxt auf einen auf dem Boden liegenden Daumen mit Sicherheit nicht entstehen konnten. Zusätzlich waren die Reaktionen des VN beim Sturz grob unphysiologisch. Die Handhabung des Werkzeugs wurde ebenfalls als unphysiologisch und für den beabsichtigten Zweck als ineffektiv gewertet. Diese ganzen Umstände sprachen für eine freiwillige Verletzung. Die Versicherungen lehnten eine Regulierung des Schadens ab. Der VN klagte erfolglos durch 2 Instanzen, nachdem die jeweils von den Gerichten bestellten Sachverständigen ebenfalls die Verletzung als eine Selbstverstümmelung einordneten.
Fall 30: Totalamputation Dig. I li. mit einer Axt
Der 54 Jahre alte VN (Landwirt, Rechtshänder) sei damit beschäftigt gewesen, durch Längsspalten von Holzbohlen (120 x 25 x 5 cm) - mittels einer geschärften Axt - jeweils vier Holzpfähle herzustellen. Das Holzspalten hätte er in der Weise bewerkstelligt, daß er die Holzbohle senkrecht vor sich aufstellte. Das obere Ende der Bohle sei für ein adäquates Arbeiten zu hoch gewesen, deshalb habe sich der VN auf einen in der Erde eingelassenen größeren Stein (40 x 40 cm) gestellt, um mit der Axt sinnvoll einschlagen zu können. Dieser Stein habe etwa 20 cm aus der Erde herausgeragt. Nachdem die ersten drei Pfähle abgespalten gewesen seien, sei noch ein Reststück der Bohle von etwa 10 cm Breite übriggeblieben. Er habe die linke Hand linksseitlich auf die Einschlagfläche der Holzbohle aufgelegt und darauf geachtet, daß die Finger parallel zur beabsichtigten Einschlagfläche lagen. Beim Zuhauen habe er plötzlich das Gleichgewicht verloren und mit der linken Hand reflektorisch nachgegriffen - trotzdem sei er nicht mehr in der Lage gewesen, den Axthieb abzubremsen und traf den linken Daumen. Dieser hätte aber noch irgendwie an der Hand gehangen. Er habe nun eine Rolle Toilettenpapier aus dem unmittelbar daneben stehenden Pkw entnommen und mehrere Lagen davon auf die Wunde gedrückt. Wohl durch die Aufregung hätte er plötzlich Stuhldrang verspürt und die Toilette aufgesucht. Auf dem Wege dorthin sei er mehrfach gestolpert. Beim Erreichen der Toilette sei ihm nunmehr übel geworden - er hätte sich über das Becken gebeugt, um sich zu übergeben. Danach sei ihm auf einmal aufgefallen, daß der eingewickelte linke Daumen verschwunden gewesen war. Der VN erklärte später, daß er beim Stolpern den Daumen wohl endgültig abgerissen habe, und während des Erbrechens dieser unbemerkt in die Toilettenschüssel gefallen und fortgespült worden sei. Der VN sei anschließend mit seinem Auto in ein Krankenhaus gefahren.
Bei stationärer Aufnahme fand sich eine Amputation des Daumens kurz oberhalb des Grundgelenkes. Die Amputationsebene lag nicht ganz rechtwinklig zur Daumenlängsachse; alle Gewebsschichten waren nahezu glatt durchtrennt. Nur auf der ulnaren Seite befand sich eine kleine Unregelmäßigkeit.
Es bestanden bei zwei Gesellschaften Verträge über eine Gesamtversicherungssumme von 1,8 Mio. DM. Dabei hatte der VN beim Abschluß des letzten Vertrages die schon bestehende Unfallversicherung verschwiegen. Es wurde ein rechtsmedizinischer Sachverständiger mit der Klärung beauftragt. Im Rahmen des Ortstermines fiel einmal auf, daß die Holzbohle nach dem Durchschlagen des Daumens überhaupt keine Einkerbung aufwies - somit nicht getroffen wurde. Bei allen Hack-Experimenten finden sich bei einer gelungenen Fingeramputation mehr oder minder tiefe Einkerbungen in der darunter liegenden Arbeitsfläche. Gegen eine akzidentelle Verletzung sprach ebenfalls die Verletzungsdynamik. Ein reflektorisches Nachgreifen beim Zuschlagen ist vom zeitlichen Ablauf her unmöglich - dieses würde maximal 150 msec. veranschlagen. Eine Reflexbewegung benötigt aber von der Reizauslösung bis zur Reizantwort wenigstens 400 msec. Das heißt, der Beilhieb hätte die Holzbohle treffen müssen, bevor die linke Hand reflektorisch darauf gelegt wurde. Der Gutachter ging von einer freiwilligen Verletzung aus. Nach Ablehnung der Versicherer den Schaden zu regulieren, klagte der VN vor dem Landgericht, welches die Klage aber nach der Untersuchung eines weiteren Sachverständigen zurückwies, da dieser zu ähnlichen Erkenntnissen gelangte wie der erste Gutachter. Nun legte der VN Berufung gegen diese Entscheidung ein - allerdings am Ende auch wieder erfolglos, denn das zuständige Oberlandesgericht sah ebenfalls eine Selbstverstümmelung als erwiesen an.
Fall 34: Totalamputation Dig. II li. durch eine Gehwegplatte
An einem Frühlingsabend habe der 31jährige Versicherungskaufmann Aufräumarbeiten im ehemaligen Pferdestall und in der Garage im Erdgeschoß seines Hauses durchgeführt. Gegen Ende dieser Arbeiten um ca. 22.45 Uhr habe er beabsichtigt, die in der Garage gelagerten Beton-Gehwegplatten (quadratische Form, Seitenkantenlänge: 50 cm, Dicke: 5 cm, Gewicht: 29,5 kg) in den neben der Garage gelegenen ehemaligen Pferdestall zu transportieren. Ohne Schutzhandschuhe habe er die Platten mit beiden Händen gefaßt. Wegen eines Wirbelsäulenschadens habe er die Platte mit der linken Hand nach unten zeigend etwas schräg gehalten - dabei sei der linke Zeigefinger unter einer Eckkante zu liegen gekommen. Die rechte Hand habe die gegenüberliegende Eckkante gehalten. Durch eine im Pferdestall querverlaufende Betonnarbe sei er ins Stolpern gekommen, dabei zwangsläufig ein paar Schritte vorwärts getreten und habe schon geglaubt die Balance wiedergefunden zu haben - sein Oberkörper sei zu diesem Zeitpunkt nach vorne gebeugt gewesen - da sei plötzlich sein sechs Monate alter Jagdhund vor seine Füße gelaufen. Er sei dann doch gefallen und mit dem Kopf gegen einen Fahrradständer geschlagen, dabei verletzte er sich die linke Ohrmuschel. Die Gehwegplatte sei so unglücklich gefallen, daß sie den linken Zeigefinger im Grundglied relativ glatt abgetrennt habe. Die Lebensgefährtin sei gegen 22.45 Uhr durch die Schreie des VN wachgeworden. Sie fuhr ihren Partner in das nächstgelegene Krankenhaus, nicht ohne zuvor den amputierten Finger im Pferdestall aufzulesen und mitzunehmen. In der Klinik wurde eine Amputationsverletzung im distalen Grundgliedbereich des linken Zeigefingers festgestellt. Die Wunde war glatt, wies keine Zeichen einer Gewebequetschung oder zusätzlicher Knochenfrakturen (siehe Abb. 21) auf. Kein anderer Finger war mitbeteiligt. Der Patient wurde zu einer optimalen Versorgung in ein Unfallkrankenhaus verlegt. Dort erfolgte eine notfallmäßige Stumpfbildung - eine Replantation schien nicht erfolgreich durchführbar. Der VN reklamierte nun eine nicht unerhebliche Summe von seiner privaten Unfallversicherung, die daraufhin einen Rechtsmediziner mit der Begutachtung beauftragte. Dabei sollte nicht nur festgestellt werden, ob der angegebene Unfallmechanismus zu der beschriebenen Abtrennung des linken Zeigefingers geführt hatte, sondern es sollte auch geprüft werden, ob es sich bei den Blutanhaftungen der sichergestellten Gehwegplatte um menschliches Blut handelte.
Abb. 21: Röntgenaufnahme der verletzten Hand und des Amputates mit relativ
glatter Durchtrennung des Knochens
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Es wurden zahlreiche experimentelle rekonstruktive Versuche mit der Original-Gehwegplatte an geeignetem Untersuchungsmaterial durchgeführt (siehe Diskussion). Diese ergaben völlig gegenteilige Ergebnisse: In allen Fällen lagen, unabhängig von der Sturzhöhe bzw. Gewalt (kinetische Energie) der Gehwegplatte, zusätzliche Knochenbrüche (meist zahlreiche Bruchlinien und Trümmerfrakturen) und deutliche Weichteilquetschungen vor (vergleiche Koops [23]). Bei den Blutanhaftungen handelte es sich nachweislich um Menschenblut. Die Verletzungen des VN waren also mit dem Geschehensablauf nicht in Übereinstimmung zu bringen - das Ergebnis der Begutachtung war im Sinne des Unfallversicherers, der nun eine Schadensregulierung ablehnte. Der VN suchte anwaltlichen Beistand und erhob Klage vor dem Landgericht. Dieses schloß sich den Ausführungen des rechtsmedizinischen Gutachters an und wies die Klage zurück.
Fall 35: Totalamputation Dig. I li. mit einer Tischkreissäge
An einem Silvestermorgen, gegen 9.15 Uhr, habe der 25 Jahre alte VN (Kaufmann, Rechtshänder) in der Diele seines Wohnhauses größere Lattenroste zersägt, um diese als Abdeckung für seine in Arbeit befindliche Gartendrainage zu verwenden. Er arbeitete mit einer schweren Tischkreissäge. Zu diesem Zeitpunkt habe sich auch sein schwarzer Schäferhund in der Diele aufgehalten. Obwohl in der Diele Temperaturen von etwa 5° C herrschten, habe der VN keine Schutzhandschuhe getragen - er sei es gewohnt bei jeder Witterung zu arbeiten: „Klamme oder steife Finger sind mir völlig fremd”, wie der VN behauptete. Beim Sägen sei er nun mit dem linken Bein über weichen Hundekot seines Schäferhundes ausgerutscht und schräg nach vorn auf die Säge gefallen. Um zu vermeiden, daß er beim Hinstürzen mit dem Gesicht in das rotierende, offene Sägeblatt geriet, hätte er versucht, sich mit beiden Händen auf dem Sägetisch abzustützen. Dies sei ihm jedoch nicht gelungen. Mit der linken Hand sei er parallel zur Sägeschnittebene, an dem Sägeblatt vorbei, auf den Sägetisch nach vorne gerutscht - dabei sei er dann irgendwie mit dem linken Daumen in das rotierende Sägeblatt geraten (siehe hierzu Abb. 22). Er sei dann in die Küche zu seiner Frau gelaufen und habe geschrien: „Ich habe mich geschnitten! Bring’ mich zum Arzt!” Von einem Nachbarn sei er dann in das nächste Krankenhaus gefahren worden.
Die Diagnose ergab eine traumatische Amputation des linken Daumens im Grundgelenk. Das Amputat war nicht mitgeführt worden, wurde dann aber doch noch von dem Nachbarn in der Diele gefunden und in die Klinik verbracht. Weder am Stumpf, noch am Amputat fanden sich irgendwelche Zeichen einer Weichteilzerfetzung, Weichteilquetschung bzw. Reste von Haut- oder Gewebsbrücken, desgleichen auch keine Knochenzertrümmerungen oder Knochenzersplitterungen. Diese glatten Absetzungsränder wurden durch Röntgenbilder dokumentiert. Die Abtrennung des Daumens war quer, d. h. senkrecht zur Fingerlängsachse, durch den proximalen Anteil des Daumengrundgliedes erfolgt. Die übrige Hand war unverletzt. Obwohl auf die gute Prognose einer Replantation hingewiesen, lehnte der VN sie mehrfach ab; erst das vom behandelnden Chirurgen vorgebrachte Argument, er würde bei weiterer Ablehnung einer Replantation Schwierigkeiten mit seiner Versicherung bekommen, hätte den VN dazu veranlaßt, diesem Eingriff doch zuzustimmen. Nachdem der VN mit dem Hubschrauber in eine Spezialklinik überführt worden war und dort wiederum eine Replantation aus persönlichen Gründen verweigerte, wurde der Daumen dort operativ nachamputiert und ein Stumpf gebildet.
Abb. 22: Erklärungsversuch des VN beim Ortstermin zur Körperhaltung während des Hineinrutschens in die Kreissäge
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Der betroffene Unfallversicherer beauftragte nun einen rechtsmedizinischen Sachverständigen ein Gutachten zu erstatten, ob der angegebene Unfallmechanismus zu der beschriebenen Abtrennung des linken Daumens geführt haben konnte. Es wurden experimentelle, rekonstruktive Versuche mit der Original-Tischkreissäge an geeignetem Untersuchungsmaterial durchgeführt und ausgewertet. Die Beurteilung ergab, daß eine glatte Amputation nur dann möglich war, wenn ein Daumen fest fixiert wurde, um zusätzliche, den Sägevorgang bedingte Bewegungen des Daumens und eine hiermit verbundene Veränderung der Sägeschnittebene sowie ein Auftreten von Weichteilzerfetzungen und Knochenbrüchen zu verhindern. Ein bloßes Hineingreifen oder -fallen führte immer zu sehr deutlichen und vielfältigen Hautrißwunden, zerfetzten Weichteilen und Knochentrümmerfrakturen. Das Ergebnis des Gutachtens war, daß es sich um eine freiwillig zugefügte Verletzung handeln müsse, also einen Betrug. Der VN verklagte nun den Unfallversicherer auf Zahlung der Invaliditätsentschädigung vor dem Landgericht. Das Gericht bestellte einen weiteren rechtsmedizinischen Sachverständigen, der allerdings im Ergebnis das erste Gutachten bestätigte. Daraufhin zog der VN seine Klage zurück.
Fall 44: Totalamputation der gesamten linken Hand durch ein Eisenblech
Der 45 Jahre alte VN (Geschäftsführer einer Großbäckerei) befand sich auf einer Geschäftsreise in Frankreich. Als er und sein Begleiter mit dem Auto auf einer Landstraße unterwegs gewesen seien, habe der VN während der Fahrt gemerkt, daß etwas mit dem linken Hinterrad nicht stimmte. Der anschließend notwendige Radwechsel am Straßenrand sei problemlos verlaufen; während der Begleiter das defekte Rad und den Wagenheber im Kofferraum verstaut habe, sei der VN gerade damit beschäftigt gewesen, die Muttern an dem neu montierten Rad fest zu ziehen, als sich folgendes ereignet haben soll:
Ein LKW sei vorbeigefahren und habe mehrere Eisenplatten (62 cm x 90 cm x 5,5 mm, 24 kg) unter lautem „Scheppern” verloren - einige dieser Bleche seien sogar über den PKW gewirbelt. Die linke Hand des VN sei durch eine solche Platte im Handgelenk abgeschlagen worden. Unmittelbar danach sei man in eine Klinik gefahren, der erstbehandelnde Chirurg bezeichnete die Handabtrennung wörtlich als „guillotiniert”. Die Hand war genau am Anschluß des Gelenkes sauber und glatt „abgeschnitten”. Die Gelenkknochen waren nicht beschädigt, Quetschungen und Zertrümmerungen nicht feststellbar; Verunreinigungen der Wunde (Schmutz, Rost) suchte man vergeblich. Die Hand wurde schließlich erfolgreich replantiert.
Sechs Monate zuvor hatte der VN (innerhalb nur eines Monats) sechs Unfallversicherungsverträge abgeschlossen. Mit einem schon bestehenden Vertrag betrug die Gesamtversicherungssumme 2,75 Mio. DM. Beim Abschluß der Verträge machte der VN sowohl falsche Angaben bezüglich der Mehrfachversicherungen als auch über seine Einkommensverhältnisse. Zu diesem Zeitpunkt hatte der VN nachweislich mindestens 600.000 DM Schulden.
Die Versicherungen lehnten nach Einholung von 3 Sachverständigengutachten eine Schadensregulierung ab, nachdem die Gutachter einhellig die Freiwilligkeit der Verletzung als erwiesen sahen. Das morphologische Bild einer Verletzung durch eine solche Eisenplatte zeigte experimentell ausnahmslos unregelmäßige, zerfetzte und gequetschte Wundränder. Die Verletzung des VN konnte so unmöglich entstanden sein. Ein verursachender LKW wurde nie ermittelt; zahlreiche Unstimmigkeiten an der Unfallörtlichkeit und Widersprüche bei den Vernehmungen des VN und seines Begleiters, im Rahmen der polizeilichen Untersuchung, taten ihr übriges, um den Vorfall als völlig unglaubwürdig zu betrachten. Man vermutete sogar, daß der Begleiter für seine Aussage vom VN bezahlt worden war. Trotz dieser Beweislast verklagte der VN die Versicherungen zur Zahlung der Invaliditätsentschädigung vor dem Landgericht, welches die Klage jedoch letztlich abwies.
5. DISKUSSION
Die Diskussion erfolgt unter folgenden Aspekten:
Epidemiologische Aspekte, morphologisch-statistische sowie topographische Aspekte, Versicherungsrechtliche und -medizinische Aspekte, Motivation einer Selbstverstümmelung, rechtsmedizinische Begutachtung.
5.1. Epidemiologische Aspekte
Bei den hier untersuchten Fällen von traumatischen Finger- und Handverletzungen sind fast ausschließlich Männer betroffen. Andere Autoren (z. B. Köhnlein/Altrogge [22]) berichten von analogen Ergebnissen. Überhaupt tauchen Frauen selten in den Statistiken auf, in denen verstümmelnde Verletzungen untersucht werden, dies gilt erst recht für eindeutig bewiesene Selbstverstümmelungen. Es stehen 54 Männern nur 3 Frauen gegenüber. Da es sich dabei in 2 Fällen um bewiesene Selbstverstümmelungen (Fälle 25 u. 50) und besonders schwere Verletzungen handelt, muß man sie als ausgesprochene Raritäten bezeichnen.
Bei selbst zugefügten oberflächlichen Verletzungen der Haut - bei Persönlichkeitsstörungen sowie der Motivation eine Straftat vorzutäuschen - sind hingegen Frauen deutlich überrepräsentiert (hierzu z. B. Püschel [30] und Püschel et al. [31]).
Im Gegensatz zu der Studie von Dotzauer/Iffland [14] von 1976, bei der signifikant häufig Personen unterhalb des 40. Lebensjahres in Erscheinung traten, ist hier die Altersgruppe der über 40jährigen am häufigsten vertreten. Dieses mag auch darin begründet sein, daß sich die Täterpersönlichkeit - etwa in den letzten 20 Jahren - von einfachen Arbeitern und Ungelernten auf zunehmend Akademiker und scheinbar wohlhabende Geschäftsleute gewandelt hat, welche eine längere Ausbildung genossen haben. Der Wandel in der Profession der VN zeigt sich auch in dieser Studie.
Die o. g. Umstände sind auch sicherlich daran beteiligt, daß besagte „Unfälle” hauptsächlich während der Freizeit eintreten - der größte Anteil der VN geht beruflich wenig mit Werkzeugen um, welche für verstümmelnde Verletzungen verantwortlich sein können. Zusätzlich ist am Arbeitsplatz meist die Wahrscheinlichkeit für unbeabsichtigte Zeugen höher.
Während in früheren Zeiten häufig Hiebwerkzeuge (Beil, Axt) für verstümmelnde Verletzungen ursächlich waren, wurden sie im Wandel der technisierten Welt teilweise durch elektrisch betriebene Sägen ersetzt. Es wurden speziell Kreissägen bei den „Ärztefällen”, die durchweg jüngeren Datums sind, besonders häufig verwendet.
5.2. Morphologisch-statistische sowie topographische Aspekte
Es existieren zahlreiche Untersuchungen über Häufigkeit, Lokalisation und Morphologie bei Finger- bzw. Handverletzungen, u. a. von Bonte/Goldberg [11], Stucke [38], Henter et al. [20] und Mader [25]. Die häufigsten werkzeugbedingten Verletzungen von Körperteilen betreffen die Hände, insbesondere die Finger. Das ist nicht verwunderlich, da diese primär zur Kontaktaufnahme mit dem Werkstück und dem Werkzeug dienen, damit einem höheren Verletzungsrisiko ausgesetzt sind. Bei akzidentellen Verletzungen kommt es nur sehr selten zu subtotalen oder gar totalen Amputationen der Finger. Wenn dieses doch geschieht, sind die Amputationsebenen fast ausnahmslos auf den distalen Anteilen der Fingerglieder lokalisiert. Bonte/Goldberg [11] werteten 226 Fälle von akzidentellen Kreissägeverletzungen aus, unter denen sich 125 isolierte Einfingerverletzungen fanden (71 % davon Endgliedverletzungen des Daumens und Zeigefingers). Subtotale oder totale Amputationen lagen nur in 23 % der Fälle vor, wobei sie fast ausschließlich am Endglied lokalisiert waren. Es zeigte sich eine Frequenzabnahme der Verletzung vom Daumen in Richtung des kleinen Fingers und vom Endglied zum Grundglied. Eine quere Verletzungsrichtung wurde um so unwahrscheinlicher, je weiter proximal die Verletzung lokalisiert war. Eine glatte, durch alle Gewebsschichten reichende, schnittartige Durchtrennung wurde in keinem einzigen Fall beschrieben.
Bezeichnend ist bei den hier analysierten Fällen die Tatsache, daß von den 13 Kreissägeverletzungen keine isoliert den Endgliedbereich betraf, darüber hinaus 10 davon als Amputationen imponierten. Nur im Rahmen einer Mehrfachverletzung (bei Fall 24) kam es zu einer Endgliedbeteiligung. Im Vergleich mit den oben genannten akzidentellen Verletzungen erscheint dieser Umstand geradezu konträr.
Bei akzidentellen Verletzungen durch Hiebwerkzeuge ist ebenfalls eine Frequenzabnahme der Verletzung vom Daumen in Richtung des kleinen Fingers und vom Endglied zum Grundglied charakteristisch. Sehr weit proximal mit queren Verlauf liegende Amputationen (z. B. am Grundglied oder Grundgelenk) der Langfinger ohne Mitverletzung anderer Finger sind als Unfall nahezu auszuschließen - für solche Verletzungen ist eine extreme Spreizhaltung (sog. „Exekutionshaltung”) notwendig (Abb. 26 im Anhang zeigt einen für akzidentelle Verletzungen typischen Befund mit Beteiligung mehrerer Finger, obwohl sich dieser Fall später als Selbstverstümmelung herausstellte). Eine „Exekutionshaltung” ist nach Dotzauer/Iffland [14] auch, in abgeschwächter Form, für isolierte proximale Amputationsverletzungen des Daumens notwendig (siehe hierzu Abbildung 23).
Abb. 23: Nachgestellte Positionierung des Daumens auf einem Hackklotz bei der sog. „Exekutionshaltung”
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Im Gegensatz zu Kreissägeverletzungen sind glatte Durchtrennungen, besonders bei geschärften Beilen oder Äxten, aber sehr wohl möglich. Eine vollständige, glatte Amputation ist allerdings nur dann nachvollziehbar, wenn das scharfe Hiebwerkzeug den Finger im Einschlagbereich auf einer festen Unterlage adaptiert - ein planes Aufliegen des zu amputierenden Fingers ist dazu obligat (siehe Abb. 23). Je größer der Abstand zwischen Finger und Unterlage, desto geringer wird die Chance einer kompletten Amputation. Wenige Zentimeter Abstand reichen schon aus, um lediglich Weichteilverletzungen und ggf. Knochenabsplitterungen entstehen zu lassen. Es wird auch immer wieder von VN behauptet, während des Zuhauens „reflektorisch nachgegriffen” zu haben, da angeblich das zu bearbeitende Werkstück gewackelt habe (Fälle 30 u. 50 in der Kasuistik). Beier/Schuck [5] und Bayer-Helms [4] kamen allerdings durch experimentelle Untersuchungen von Reaktionszeiten zu dem Ergebnis, daß durch ein Nachgreifen der Haltehand die Einschlagsfläche („Gefahrenbereich”) erst dann erreicht werden kann, wenn die Schlagbewegung bereits vollendet ist. „Die Beilhiebverletzung durch „reflektorisches Nachgreifen” ist also eine Fiktion, die jeglicher Grundlage entbehrt” (Bayer-Helms [4]). Allgemein sei hier auch auf Nippe [29] und Bonte/Rüdell [8] verwiesen, die sich mit den Umständen der Verletzungen bei Hiebwerkzeugen näher befaßt haben.
Von den 19 Verletzungen durch Hiebwerkzeuge, die alle als Amputationen imponieren, ist ebenfalls nur in einem einzigen Fall das Endglied durch eine Mehrfachverletzung bei Fall 51 betroffen. Dieses wäre für akzidentelle Verletzungen sehr ungewöhnlich.
Die Untersuchung des Zustandes der proximalen sowie distalen Amputationsflächen ist nach Dotzauer/Iffland [14] ebenfalls von besonderer Bedeutung, kann so doch bei der Rekonstruktion des angeblichen Unfalls mit dem Originalverstümmelungsinstrument festgestellt werden, ob z. B. eine glattrandige Amputation überhaupt möglich ist oder aber nicht. Ebenso lassen sich u. U. Richtungswechsel oder „Probierverletzungen” erkennen. Dern [12] und Bonte [10] stellten allgemein fest, daß der Verdacht der Selbstbeibringung einer Verletzung besteht, wenn glatte Wundränder vorhanden sind. Der überwiegende Teil der hier betrachteten Amputationsverletzungen zeigte diese morphologische Besonderheit - auch bei angeblichen Kreissägeverletzungen, bei denen das Auftreten von glatten Wundrändern überaus unwahrscheinlich ist, wie Gerlach [17] feststellte. Wesentlich seltener sind Quetschverletzungen durch kantige, halbscharfe Gewalt (z. B. Fälle 8, 22, 23 u. 34 in der Kasuistik). Die Untersuchung eines solchen Falles stellt eine besondere Herausforderung an den Sachverständigen, da bis auf Einzelbeobachtungen bisher nur wenige derartige Fälle zusammengefaßt publiziert worden sind (Dern [12], Bonte [10]). Durch Fall 34 angeregt, dokumentierte Koops [23] verschiedene Versuche zur Fragestellung, ob durch die Eckkante einer auf einen Steinfußboden herabfallenden 30 kg schweren Gehwegplatte eine komplette Zeigefingeramputation mit scharfer Abtrennung möglich sei. Dabei wurden zwar komplette Amputationen erreicht, aber immer in Kombination mit ausgedehnten Weichteilquetschungen und trümmerartigen Frakturen in der Umgebung der Amputationsstelle. „Glatte oder scharfe Abtrennungen waren in keinem Fall zu erzeugen” (Koops [23]).
5.3. Versicherungsrechtliche und -medizinische Aspekte
Die fehlende Endgliedbeteiligung bei den „Ärztefällen” (Fälle 1-27) ist versicherungsrechtlich insofern von Bedeutung, weil bei einer isolierten Endgliedbeteiligung eines Zeigefingers oder Daumens (z. B. Amputation) dessen Funktion nicht um 50 % vermindert wäre und es somit nach dem UVÄ nicht zu einer Auszahlung der gesamten vereinbarten Invaliditätsentschädigung kommen würde. Eine Amputation im Mittelglied des Zeigefingers wäre aber z. B. dafür schon ausreichend. Analog dazu sind die Verletzungen der „Ärztefälle” daher auch, im Vergleich zu den übrigen Fällen, nicht so schwer; es existieren weniger Beteiligungen der Grundgelenke und Mittelhandknochen.
Unter den AUB ist jedoch ein Verlust oder völlige Gebrauchsunfähigkeit eines Fingers obligat, um die vereinbarte Invaliditätsentschädigung zu erhalten. Eine Amputationsverletzung müßte dafür beispielsweise im Grundgliedbereich oder noch proximaler lokalisiert sein. Es zeigt sich ja auch, daß bei den nichtärztlichen Berufen (Fälle 28-57) die Verletzungen weiter proximal lokalisiert waren als bei den „Ärztefällen”, also auch als schwerer einzustufen sind. Da unter den o. g. AUB-Bedingungen für einen Zeigefinger nur 10 % der vereinbarten Invaliditätsentschädigung ausgezahlt werden, für einen Daumen aber 20 %, erklärt sich dadurch auch die Hauptbeteiligung des 1. Fingers der Nicht-Gebrauchshand bei den nichtärztlichen Berufen. Für Ärzte mit Betrugsabsichten gab es einen solchen finanziellen Unterschied zwischen Daumen und Zeigefinger nicht, sie wählten daher auch in der Majorität den Zeigefinger der Nicht-Gebrauchshand, da der Daumen mit seiner Oppositionsbewegung eine ungleich wichtigere Funktion für den Bewegungsablauf der Finger besitzt.
Die Tendenz der VN, Amputate nach dem Geschehen verschwinden zu lassen, ist nachvollziehbar, da eine erfolgreiche Replantation die Invaliditätsentschädigung schmälern würde. Gerlach [17] erwähnte in diesem Zusammenhang, daß von VN häufig behauptet wurde, daß ein Hund den Finger möglicherweise gefressen habe oder der Finger einfach in die Mülltonne geworfen wurde. Ähnliche Angaben finden sich auch in früheren Analysen und Fallbeschreibungen (z. B. Bach [2], Jungmichel [21], Heismann [19], Sachs [36], Gerlach [16]). So überrascht es auch hier nicht, daß bei den meist operativ tätigen Ärzten - die von Methoden der Replantationschirurgie Kenntnis haben sollten - der Anteil der verschwundenen bzw. nicht mit in die Klinik geführten Amputate, im Vergleich zu den Fällen mit nichtärztlichen Berufen keinen Unterschied ausmacht. Da sich ein VN mit Betrugsabsichten automatisch verdächtig macht, wenn er eine Replantation mit guter Prognose ablehnen würde, könnte dies den Umstand erklären, daß es nach zunächst technisch guten Replantationsresultaten in wenigen Fällen zu unerklärlichen postoperativen Transplantatversagen kam - möglicherweise bedingt durch Manipulationen der VN am operierten Finger (siehe hierzu Fall 50 im Anhang). Püschel et. al. [32] erwähnten ebenfalls diese Möglichkeit der VN, den Erfolg therapeutischer Maßnahmen zu verhindern. Nach den vorliegenden Informationen konnte ein solcher Fall aber bisher nicht bewiesen werden.
5.4. Motivation einer Selbstverstümmelung
In der Öffentlichkeit würde man, besonders konfrontiert mit der Tatsache eines sich selbst verstümmelnden Arztes, wohl nur ein unverständliches Kopfschütteln registrieren können. Wie kann gerade ein akademisch ausgebildeter Mensch, der den Einsatz für die Gesundheit gelobt hat, eine integere Vertrauensperson - eine Erwartung, die der ärztliche Beruf nun einmal impliziert - zu einer solchen Tat fähig sein?
Döhner [13] versuchte eine Klassifikation von Motiven für eine Selbstbeschädigung (SB):
1. Geplante SB im Sinne eines nüchternen Bilanzartefaktes bei asozialer Einstellung mit erstrebten materiellen Vorteilen
2. SB bei hysterischer Charakterstruktur
3. SB bei masochistischer Veranlagung
4. SB in Konfliktsituationen bei neurotischen Entwicklungen mit schwersten Schuldgefühlen und der Tendenz zur Selbstbestrafung
5. Artefakte als Ausdruck von Trotzreaktionen, insbesondere bei Jugendlichen
6. Induzierte SB, angeregt durch Mitteilung anderer
Erwähnt seien auch rituelle Fingeramputationen bei Eingeborenen im zentralen Bergland Neuguineas. Bei einem Todesfall im Angehörigenkreis ist es dort Sitte, sich einen Finger, welcher zuvor abgebunden wurde, während einer sog. „Mutilationszeremonie” mit einem Beil im Grundgliedbereich selber zu amputieren, wie Bonte [9] feststellte. Miyaishi [27] untersuchte Fingeramputationen bei japanischen kriminellen Bandenmitgliedern, der sog. „Yakuza”. Wenn ein solches Bandenmitglied einen Fehler begangen hat, muß es zur Betrafung „Enkozume” begehen (übersetzt „Fingerabschneiden”), um seine Schuld zu tilgen und die Ehre wiederherzustellen. Dabei bleiben Daumen und Zeigefinger stets verschont, unabhängig davon, wie viele Fehler ein solches „Yakuza”-Mitglied im Laufe seiner kriminellen Karriere bereits begangen hat. Es existiert die Theorie, daß der Anführer einer solchen Vereinigung seinen Untergebenen dadurch wenigstens das Essen erlaubt.
Bei den vorliegenden Fällen (zuzuordnen der Fallgruppe 1) konnten sich die VN - vorausgesetzt, die Invaliditätsentschädigung würde von den Versicherungen reguliert - einen hohen materiellen Gewinn (die Ärzte z. T. in Millionenhöhe) versprechen. Einige VN sahen sich - soweit bekannt - hohen Verbindlichkeiten ausgesetzt, unter denen sich ein großer psychologischer Druck entwickeln konnte. Deswegen könnte die Möglichkeit der Abwendung eines eventuellen Ruins gesucht und zum Mittel des Versicherungsbetrugs gegriffen worden sein.
Bei wenigen Fällen stellte sich heraus, daß der verletzte Finger schon vor dem Geschehen in seiner Funktion eingeschränkt war - entweder durch alte Verletzungen oder degenerative Prozesse. Dadurch könnte auch der Entschluß für einen derartigen Versicherungsbetrug leichter umgesetzt worden sein.
Manchmal scheint es nur eine Frage der Höhe des zu erwartenden „Gewinns” zu sein, ob ein gesunder und in Vollbesitz seiner geistigen Kräfte stehender Mensch einen Finger opfert - eine große kriminelle Energie ist dazu sicherlich nicht erforderlich.
Der Österreichische Oberste Gerichtshof [39] stellte in einer Urteilsbesprechung vom 22.11. 1979 fest: „Der Grund für eine Selbstverstümmelung muß nicht krankhafte Veranlagung, sondern kann auch Gewinnsucht sein, die auch bei geistig gesunden Menschen anzutreffen ist. Es ist eine Erfahrungssache, daß einzelne Menschen geneigt sind, ihrer Meinung nach unwichtige Gliedmaßen zu opfern, wenn daraus ein entsprechender Gewinn erzielt werden kann. Welche Gliedmaßen und welcher Gewinn hier in Frage kommen, ist eine reine Kalkulationsfrage. Stellt man die tatsächlich verstümmelten Körperteile dem geforderten Betrag gegenüber, kann auch für geistig gesunde Menschen ein Kalkulationsergebnis zu Gunsten des Geldes nicht ausgeschlossen werden.”
In einem Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) [40] vom 10.07. 1985 heißt es hierzu weiter: „Allein die Tatsache eines sehr guten Einkommens des Verletzten und das Vorhandensein entsprechender Vermögenswerte stehe dem (Versicherungsbetrug durch Selbstverstümmelung) nicht entgegen.”
Dieser Weg der Beschaffung von finanziellen Mitteln ist zwar sehr ungewöhnlich, wird aber von potentiellen Tätern wohl als relativ sicher bewertet. Die wenigsten VN werden auch Kenntnis davon haben, daß bei dem Verdacht einer Selbstverstümmelung z. T. sehr aufwendige Ermittlungsarbeiten von den Versicherungsgesellschaften initiiert werden. Bezüglich der Motivation anders zu bewerten ist Fall 16 als nicht erfolgreicher Suizidversuch, der dann nachträglich (keineswegs überzeugend) als angeblicher Unfall nach dem UVÄ dargestellt wurde.
5.5. Die rechtsmedizinische Begutachtung
Das Prozedere einer Begutachtung sollte stets nach einem Grundschema ablaufen, wobei auf den Einzelfall abgestellte Schwerpunkte herausgearbeitet werden können. Dotzauer/Iffland [14] erarbeiteten dazu eine umfangreiche, empfehlenswerte Checkliste; Andere Übersichten existieren beispielsweise von Reuter [35], Bonte [10] und Gerlach [18]. Die Darstellung der Vorgehensweise der rechtsmedizinischen Untersuchung erfolgt komprimiert in nachfolgender Aufzählung; neue Aspekte schließen sich an.
1. Genaues Studium aller von Gericht, Staatsanwaltschaft oder Versicherungen übersandten Unterlagen, um z. B. mit bereits aus ihnen ersichtlichen offenen Fragen bzw. Unstimmigkeiten den VN bei einem späteren Explorations- und Demonstrationsbesuch (Ortstermin) zu konfrontieren.
2. Gespräch mit dem behandelnden Arzt über Anamnese und Verletzungsbefund bei der Erstversorgung, therapeutische Maßnahmen und Verlauf. Der Gesprächsinhalt ist zu protokollieren. Das Protokoll ist dem befragten Arzt zum Zwecke der eventuellen Korrektur und Unterschriftsleistung vorzulegen. Alle vorhandenen bzw. eventuell noch fehlenden medizinischen Unterlagen sind - möglichst im Original - beizuziehen.
3. Gespräch mit eventuell vorhandenen Zeugen des angegebenen Ereignisses. Auch dieses Gespräch ist sorgfältig zu protokollieren. Wenn möglich sollten die befragten Zeugen das Protokoll lesen und unterzeichnen.
4. Gespräch mit VN und Rekonstruktion des Geschehens an der Schadensörtlichkeit (Ortstermin!), wenn möglich mit Originalwerkzeugen; dabei Video- bzw. Fotodokumentation. Eine exakte Protokollierung des Inhaltes des Gesprächs mit dem VN ist ebenso obligat wie die Unterzeichnung des Protokoll, durch den VN, im Rahmen derer ihm Gelegenheit gegeben werden muß, das Protokoll zu korrigieren; all dies, um einen späteren „Rückzieher” seitens des VN vorzubeugen. Bewährt hat es sich wiederholt, wenn bei diesem Treffen ein Vertreter der Versicherungsgesellschaft oder - besser noch - ein von dieser beauftragter Rechtsanwalt zugegen war. Im Falle einer Beauftragung durch ein Gericht sind die Prozeßparteien über Ortstermine und/oder Zeugenbefragungen immer zu informieren, da sie das Recht haben, mit ihren jeweiligen Prozeßbevollmächtigten an Ortsterminen und/oder Zeugenbefragungen teilzunehmen.
5. Umfassende Spurensicherung an Werkzeug und Gegenständen sowie im Bereich des Geschehensortes (betrifft insbesondere das Blutspurenmuster, Abnahme von Kettenfett bzw. Kettenöl einer Motorkettensäge, sonstige Begleitumstände).
6. Eigene experimentelle Untersuchungen mit Originalwerkzeug (z. B. experimentelle Untersuchungen an Leichenteilen - soweit möglich - bzw. ähnlichen biologischen Materialien z. B. vom Schlachthof, biomechanische Rekonstruktionen etc.), Literaturstudien.
Wenn möglich sollten experimentelle Untersuchungen durchgeführt werden - es hat sich bei den hier betrachteten Fällen gezeigt, daß dadurch größtenteils gerade die Diagnose einer freiwilligen Verletzung gefestigt wurde. Zusätzlich werden die Gerichte - im Falle eines Rechtsstreites - eher ein Gutachten würdigen, wenn es nicht nur auf einer Literaturstudie basiert, sondern sich auf eindeutige experimentelle Ergebnisse stützt.
Eine exakte Rekonstruktion des Geschehens - im Rahmen der Begutachtung - wird niemals möglich sein. Es muß auch davon ausgegangen werden, daß nach einer Vielzahl von experimentellen Untersuchungen (z. B. Leichenexperimente, Versuche mit anderen Werkstoffen oder biologischen Materialien wie Schweineschwänze - zeigen bei Verstümmelungstraumen ähnliche biomechanische Eigenschaften wie Finger - u. ä.) ein Ereignis nicht einmal approximativ so eintritt, wie es ein VN zu Protokoll gibt. Gerade der Erfahrene im Umgang mit Werkzeugen und Maschinen, welche für verstümmelnde Verletzungen ursächlich sein können, wird bestätigen, daß es zufallsbedingt zu unberechenbaren Situationen kommen kann. Gegenteilige Untersuchungsergebnisse sind lediglich Hilfen, die dem Gutachter Tendenzen zur Wahrheitsfindung vorgeben. Zu bedenken ist auch, daß die Ablaufschilderung durch den VN häufig im Detail unklar bzw. unsicher bleibt - wobei unterschiedliche Erklärungen für etwaige Erinnerungslücken gegeben werden.
Bei einigen Fällen mußten sich die Sachverständigen auch mit wechselnden Geschehensversionen auseinandersetzen - besonders, wenn Gutachter die erste Hergangsschilderung für ein akzidentelles Geschehen als nicht vereinbar hielten. Im Laufe des Verfahrens wechselnde (evtl. „angepaßte”) Hergangsschilderungen durch den VN lassen aus Sicht der Versicherungsgesellschaften wiederum Zweifel an der Glaubwürdigkeit des VN aufkommen. Gerlach [17] hatte ebenfalls schon darauf hingewiesen.
Der besondere Umstand, daß es sich bei den VN um Ärzte handelt, sollte bei entsprechender Verdachtslage Anlaß dazu geben, Blutspuren an Werkzeug bzw. Umgebung zu asservieren und einen Nachweis auf Lokalanästhetika sowie Analgetika zu führen. Dieses ist - soweit bekannt - nur in einem einzigen Fall geschehen (bei einem Anästhesisten), mit negativen Ergebnis. Wenn erst einmal der Entschluß gefaßt wurde, sich eine gezielte verstümmelnde Verletzung zu setzen, dürfte der dabei zu erwartende Schmerz wohl den Haupthinderungsgrund für den Vollzug darstellen. Nach einer Lokalanästhesie oder Analgesie würde auch dieser wegfallen und der VN könnte den Entschluß leichter umsetzen. Gerade ein operativ tätiger Arzt wäre durchaus in der Lage, je nach ausgewähltem Finger, eine periphere Nervenblockade (N. medianus, N. ulnaris, N. radialis sowie nach Oberst) oder gar eine axilläre Plexusanästhesie an sich selbst durchzuführen; entsprechende Einzelfallberichte - auch mit Dokumentation von typischen Nadeleinstichstellen - liegen vor.
Der Sachverständige könnte sich ebenso die sehr aufwendige Rekonstruktion des Ereignisses ersparen, wenn er beispielsweise bei einem angegebenen Kettensägeunfall keine Gewebebestandteile im Kettenfett bzw. Kettenöl oder andererseits entsprechende Anhaftungen im Verletzungsbereich am Finger nachweisen kann. Auch bei dekorativen und verdächtig erscheinenden Blutspurenmustern sollte untersucht werden, ob es sich überhaupt um Blut des verletzten VN handelt. Einzelfälle sind belegt, in denen mit Tierblut falsche Spuren gelegt wurden.
Weitere, der medizinischen Begutachtung zugehörige Verdachtsmomente, welche gegen ein akzidentelles Geschehen sprechen könnten, sind nach Dern [12] Dotzauer/Iffland [14], Bonte [10] sowie Bonte/Goldberg [11]:
· Amputationsebene senkrecht zur Fingerlängsachse
· totale Amputation mit glatten Wundrändern
· scharfrandige Knochenkanten
· keine Hautlappen
· keine Knochensplitter
· keine Quetschungen
· keine Sehnenausfransungen
· Isolierte proximale Fingerverletzung
· Blutspuren bzw. Blutanhaftungen sind nicht mit dem Geschehen kompatibel
· Zauderverletzungen, Probierschnitte
· Hinweise, daß das betroffene Glied vor dem Trauma abgebunden wurde
Gemäß Bonte [10] mündet die Rekonstruktion des angeblichen Unfallhergangs letztendlich in drei Fragen ein, welche ebenfalls für die Gerichte zur Urteilsfindung von zentraler Bedeutung sind: Konnte der entsprechende Körperteil bei der vorgeblichen Unfalldynamik überhaupt in eine verletzungsgefährdete Lage geraten? Befand sich die Hand bereits vorher in einer besonders gefährdeten Lage bzw. handelte es sich um eine unphysiologische und unnatürliche Handhaltung? Kann die vorgewiesene Verletzung nach Lage und Aussehen durch den vorgetragenen Unfallmechanismus erklärt werden? Wenn diese Fragen vom Gutachter beantwortet werden können, ist er in der Lage, die Diagnose Unfall bzw. vorsätzliche Selbstverstümmelung mit einer hohen Wahrscheinlichkeit zu stellen.
Die Besorgnis, als Rechtsmediziner im Auftrag von Versicherungsgesellschaften die Objektivität und Unparteilichkeit zu verlieren, spiegelte sich nicht deutlich in den Ergebnissen der Gutachten wieder. Bonte [10] meint, daß selbstverständlich auch der für eine Versicherungsgesellschaft als Parteigutachter tätig werdende Rechtsmediziner Objektivität bewahren kann. Allerdings schien es bei den untersuchten Fällen problematisch, Gutachtenaufträge von Privatpersonen (VN) anzunehmen, wenn sich der Verdacht einer Selbstverstümmelung bereits erhärtet hatte; selbst bei nahezu infauster Beweislast gegen den VN wurden Gutachten vorgelegt, die eine unfreiwillige Verletzung als erwiesen sahen. Diese „Gefälligkeitsgutachten” stammten im hier untersuchten Fallmaterial ausnahmslos von Ärzten anderer Fachdisziplinen, meist nachdem Rechtsmediziner es zuvor abgelehnt hatten, als Sachverständige für die VN tätig zu werden.
6. ZUSAMMENFASSUNG
Es erfolgte eine retrospektive Analyse von 57 Fällen fraglicher Selbstverstümmelungen (Finger- bzw. Handverletzungen) unter phänomenologischen, forensisch-medizinischen und versicherungsmedizinischen Aspekten.
17 derartige Verletzungen werden ausführlich kasuistisch abgehandelt.
Bei allen bestand z. T. der erhebliche Verdacht, zum Zwecke eines Versicherungsbetruges einen Unfall inszeniert zu haben, wobei fast ausschließlich Männer betroffen waren. Es handelt sich bei 27 der Versicherungsnehmer um Ärzte (meist operativ tätig), die fast ausnahmslos eine speziell für Ärzte konzipierte Unfallversicherung (Invaliditätsversicherung mit verbesserter „Gliedertaxe”) in Anspruch nahmen.
Die Vorfälle ereigneten sich überwiegend in der Freizeit und wurden in jüngerer Zeit hauptsächlich durch elektrisch betriebene Sägen begangen, während in zeitlich weiter zurückliegenden Fällen Hiebwerkzeuge häufiger ursächlich waren. Das Fehlen von Zeugen war ebenso auffällig wie die besondere Schwere der Verletzungen. Traumatische Amputationen im Grundgliedbereich eines Fingers (meist Daumen oder Zeigefinger) der Nicht-Gebrauchshand, ohne Mitverletzungen anderer Finger, bildeten die Majorität. Die Charakteristika von akzidentellen Verletzungen fehlten bei fast allen Fällen. Die amputierten Fingerteile wurden meist nicht mit in eine Klinik verbracht, sondern verschwanden spurlos oder verblieben am Geschehensort, wodurch Replantationen verhindert wurden.
Die Unfallversicherer beauftragten zumeist Rechtsmediziner mit der Begutachtung zur Fragestellung, ob die Verletzung freiwillig oder unfreiwillig erfolgte. Die Unparteilichkeit der dabei tätigen Rechtsmediziner spiegelte sich in den Ergebnissen der Gutachten wider. Es zeigten sich häufig spezielle, auf die unterschiedlichen Versicherungsvertragsbedingungen abgestimmte, morphologisch-topographische Verletzungsbefunde, die scheinbar jeweils auf möglichst hohe Invaliditätsentschädigungen abzielten.
Motivationskonstellationen werden diskutiert und die Vorgehensweise der Begutachtung sowie Verdachtsmomente, welche für eine absichtliche (nicht akzidentelle) Verursachung derartiger verstümmelnder Verletzungen sprechen, werden dargestellt.
Da sich in vielen Fällen eine definitive Beweissicherung zur Frage einer Selbstverstümmelung bzw. eines Unfalles sehr schwierig gestaltete, wurde die Wahrheitsfindung häufig auf mehrere Instanzen der zivilen Gerichtsbarkeit übertragen. Abhilfe würden eine sorgfältigere Dokumentation der erstbehandelnden Ärzte sowie fundierte experimentelle Untersuchungen durch die zuständigen Gutachter schaffen.
7. LITERATURVERZEICHNIS
[1] Anschütz W (1901) Über Selbstverstümmelungen. Beitr. klin. Chir. 31:670-682
[2] Bach G (1939) Versicherungsbetrug durch Selbstverstümmelung des linken Zeigefingers. Schweiz. Med. Wsch. 69:224-225
[3] Bartsch W (1959) Über Simulation und Selbstbeschädigung. Med. Msch. 13:296-299
[4] Bayer-Helms HF (1988) Experimentelle Untersuchungen zur Verletzungswahrscheinlichkeit beim Beilhieb. Med. Diss., Göttingen
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RECHTSPRECHUNG
[39] Urteil des Österr. Ob. Gerichtshof vom 22.11. 1979 (7 Ob 52/79); Urteilsbesprechung in VersR 81:1068
[40] Urteil des Bundesgerichtshofs vom 10.07. 1985 (IV a ZR 13/84, Oldenburg); Urteilsbesprechung in VersR 85:940-941
8. ANHANG
8.1. Weitere Falldarstellungen
Es folgen noch einige unter rekonstruktiven und gutachterlichen Aspekten besonders interessante Kasuistiken, die in sehr ausführlicher Referierung im Anhang präsentiert werden.
Fall 9: Totalamputation Dig. II li. durch einen Rasenmäher
Der 49 Jahre alte Urologe hatte drei private Unfallversicherungsverträge mit jeweils verbesserter „Gliedertaxe” abgeschlossen (darunter befand sich auch ein Unfallversicherungsvertrag für Ärzte (UVÄ) über 1 Mio. DM. Die gesamte Versicherungssumme betrug 2,4 Mio. DM). Fünfzehn Monate nach Abschluß des letzten Vertrages geschah nun folgendes:
An einem schönen Nachmittag war der VN gerade dabei, mit einem Benzinrasenmäher den Rasen seines Anwesens zu mähen. An einem Steilhang (30° Gefälle) sei nun der Rasenmäher an einer 3 bis 4 cm aus dem Erdboden hervorragenden Baumwurzel hängengeblieben, woraufhin er versucht habe, durch Krafteinsatz und mit seinem Körpergewicht den Rasenmäher gewaltsam bergan zu schieben. An dieser Stelle des Rasens sollen unreife Kiefernzapfen, von einer in der Nähe stehenden Kiefer, gelegen haben. Der VN gab dieses als vielleicht ursächlich dafür an, daß er daraufhin mit den Füßen nach unten weggerutscht und „wie ein Kind völlig unkontrolliert der Länge nach auf den Bauch gefallen” sei. Er habe noch während des Hinfallens und auf dem Boden liegend versucht, mit der rechten Hand den Griff des Mähers nach links zu lenken und sich dann nach rechts zur Seite hin abzurollen, denn der führerlose Rasenmäher sei nun, den Gesetzen der Physik folgend, auf ihn zugerollt. Er habe jedoch nicht verhindern können, daß der Mäher über seinen linken Arm rollte - er habe einen nichtschmerzhaften Schlag verspürt, ohne daß er lokalisieren konnte, ob dadurch die Hand oder der Zeigefinger betroffen sei. Dieser Schlag habe bei ihm zunächst nur ein Erstaunen ausgelöst. Er habe den Arm unter dem Mäher hervorgezogen, welcher nun links an ihm vorbei die Wiese hinuntergerollt sei, und habe bemerkt, daß der linke Zeigefinger fehlte. Dieser Vorfall sei zufällig, von der etwa 12 Meter entfernten Terrasse des Grundstückes aus, von einem befreundeten ärztlichen Kollegen und dessen Lebenspartnerin beobachtet worden.
Den stark blutenden Stumpf des Zeigefingers habe der VN zunächst selbst durch Abschnüren mit einem Plastikband versorgt. Eine Leitungsanästhesie sei dann vom anwesenden Kollegen gelegt worden, denn nun habe auch der Schmerz eingesetzt.
Die endgültige Wundversorgung erfolgte in der Privatklinik des befreundeten Kollegen. Die Amputationsebene war im Bereich des Mittelgelenkes lokalisiert. Nach der Beschreibung handelte es sich um eine schräg von der Streckseite des Grundgliedes zur Beugeseite des Mittelgliedes verlaufende Abtrennung. Von der Streckseite des Grundgliedköpfchens war etwa 1/3 des Knorpels und Knochens des Köpfchens tangential abgeschert, und von der Basis des angrenzenden Mittelgliedes war lediglich ein noch 5 mm großes Fragment vorhanden. Die Wundränder des Stumpfes waren stark ausgefranst. Weitere frische Verletzungen an der linken Hand lagen nicht vor, allerdings war der linke Mittelfinger, durch eine kurz vorher erlittenen Verletzung, in Streckstellung an der Beugeseite geschient gewesen. Es erfolgte vor der operativen Versorgung keine Dokumentation der frischen Amputationsverletzung durch Lichtbilder oder Röntgenaufnahmen. Der Stumpf wurde nachamputiert und mit dem beugeseitigen Hautlappen gedeckt. Ein Amputat wurde nicht mit in die Klinik geführt, später seien vom VN und dem Zeugen auf dem Rasen zwei „zerfetzte” Amputationsfragmente (ein Endglied und ein Mittelgliedfragment) gefunden worden.
Der VN meldete seinen Unfallversicherern den Schaden, woraufhin jene einen Rechtsmediziner mit der Begutachtung beauftragten. Es stellte sich heraus, daß der linke Zeigefinger schon vor dem Geschehen in seiner Funktion eingeschränkt war - es bestand eine leichte Streckhemmung. Zwei Aspekte waren von besonderem Interesse: Warum wurde bei dem Ereignis nur der linke Zeigefinger verletzt und welche Handhaltung führte zur Amputation? Warum wurde die linke Hand nicht sofort unter dem Rasenmäher hervorgezogen, als der VN einen Schlag an der Hand bzw. dem Zeigefinger verspürte? Eine isolierte Fingerverletzung war insofern ungewöhnlich, da der linke Mittelfinger ja in Streckstellung geschient war und damit nicht gebeugt werden konnte. Dieser Umstand sowie die Streckhemmung des Zeigefingers würden eher für eine Mehrfachverletzung sprechen. Der Gutachter meinte insbesondere, daß der Kontakt des rotierenden Messerbalkens des Mähers mit dem linken Zeigefinger einen Schutzreflex hätte auslösen müssen, der ein unwillkürliches Zurückziehen des linken Armes unter dem Rasenmäher zur Folge gehabt hätte. Solch ein Zurückziehen wurde nicht vom VN angegeben. Im Gutachten wurde weiterhin postuliert, daß die linke Hand flach auf dem Rasen auflag und der linke Zeigefinger isoliert und abgespreizt, über das Niveau der übrigen Finger, in den Gefahrenbereich hineingehalten wurde - dieses entspräche einer „Exekutionshaltung” (der VN konnte keine genauen Angaben zu seiner Handhaltung während des Vorfalls machen). Diese Umstände veranlaßten den Gutachter zu dem Schluß, daß der VN den Verlust seines linken Zeigefingers nicht unfreiwillig erlitten hatte. Die Unfallversicherer lehnten daraufhin eine Schadensregulierung ab, mit der Folge einer Verklagung durch den VN. Dieser hatte nun seinerseits einen rechtsmedizinischen Gutachter beauftragt. Es wurden Rekonstruktionsversuche mit dem Originalrasenmäher und Schweineschwänzen (zeigen bei Verstümmelungstraumen ähnliche biomechanische Eigenschaften wie Finger) durchgeführt. Es konnte festgestellt werden, daß eine abgespreizte Haltung des linken Zeigefingers aus der Ebene der übrigen Finger nach oben z. Zt. des Schadensereignisses nicht zu beweisen war. Ein vom zweiten Gutachter beauftragter renommierter Neurophysiologe kam zu dem Ergebnis, daß bei Amputationen eine Reflexauslösung im Sinne eines Schutzreflexes nicht zu erwarten sei, somit das vom VN geschilderte und gezeigte Verhalten (nach dem nichtschmerzhaften Schlag zunächst nur Erstaunen, erst später setzte Schmerz ein) nicht ungewöhnlich war, wie es der erste Gutachter postulierte. Der zweite Gutachter stellte fest, daß die Verletzung des VN sehr wohl unfreiwillig entstanden sein konnte. Der Klage des VN wurde stattgegeben - die federführende Versicherungsgesellschaft legte Berufung ein, dieses allerdings ohne Erfolg.
Fall 22: Mehrfachverletzung beider Hände beim Radwechsel
Es war Ende November, als der 42 Jahre alte VN (Rechtshänder, Arzt für Allgemeinmedizin und Teilhaber einer Gemeinschaftspraxis) gegen 20.30 Uhr zu einem Krankenbesuch fuhr. Bei der Wohnung des Patienten angekommen, habe er bemerkt, daß aus dem rechten Vorderreifen des VW-Golf Luft entwichen war. Im Reifen sei noch soviel Luft vorhanden gewesen, daß die Felge ca. 3 bis 4 cm über dem Boden gestanden habe. Nach dem Krankenbesuch sei das Rad noch etwas weiter abgesunken. An diesem Ort habe der VN jedoch den Reifen wegen Nieselregens und schlechter Beleuchtung nicht wechseln wollen. Die Heimfahrt mit dem unvollständigen „Plattfuß” sei ihm durchführbar erschienen. In dem offenen Autostellplatz, der auf dem Praxisgelände lag, angekommen, habe er den Radwechsel vorbereitet. Wie der VN später angab, habe er den Reifen sofort wechseln müssen, da er Bereitschaftsdienst hatte. Außerdem sei ein Radwechsel für ihn überhaupt kein handwerkliches Problem: „Ich war mit den Händen kräftig und geschickt und hatte derartige Arbeiten immer selbst getan”, wie der VN selbst anführte, gerade eine Woche vorher habe er bei seinem eigenen PKW Vorder- und Hinterreifen ausgetauscht. Er habe nun Werkzeug und Reserverad aus dem Kofferraum entnommen und es neben dem rechten Vorderrad abgelegt, dabei sei ihm aufgefallen, daß das Reserverad deutlich kleiner und leichter war als ein normales Rad. Daraufhin sei er zum gegenüberliegenden Autostellplatz gegangen und habe Arbeitshandschuhe sowie ein Kantholz mitgenommen. Er habe das Kantholz zum Unterlegen mitgenommen, um einen rutschfesten Untergrund für den Wagenheber zu bekommen und um eine „lästige Kurbelei am Wagenheber einzusparen”. Nachdem er mit dem Bordwerkzeug die Radmutterverkleidungen entfernt und die Radmuttern etwas gelöst gehabt habe, habe er das Kantholz unter den Türstock vorne rechts geschoben. Nun habe er den Wagenheber auf das Kantholz gesetzt und mit einigen Kurbelumdrehungen den Wagen soweit angehoben, bis das Rad gerade freikam. Er habe alle Radmuttern abgeschraubt, das defekte Rad heruntergenommen und es vorne rechts neben der Stoßstange abgelegt. Danach habe er den PKW einige Zentimeter abgelassen, da das Reserverad ja kleiner gewesen sei und er sich damit ein leichteres Anpassen und Eindrehen der ersten Radmutter erhofft habe. An das folgende Geschehen (ca. 10 - 15 Min.) habe sich der VN nicht mehr erinnern können, so daß später nur noch eine Rekonstruktion mittels Zeugen möglich war.
Im Nachbarhaus hörten drei Zeugen gegen 21.20 Uhr mehrere Hilferufe. Am Unglücksort angekommen bot sich folgendes Bild: Der VN kniete vor dem vorderen Kotflügel an der Beifahrerseite in tiefgebückter Haltung. Den Kopf hatte er im Kotflügelausschnitt, er rief: „Meine Hände sind ab.” Beide Hände waren zwischen Bremsscheibe des abmontierten rechten Vorderrades und dem Verbundpflaster eingeklemmt. Der VN wurde mittels des Wagenhebers - der jetzt neben der Beifahrertür lag - aus seiner mißlichen Lage befreit und in das nächstgelegene Krankenhaus gebracht.
Dort wurden folgende Verletzungen diagnostiziert und behandelt: Schwere Quetschverletzung beider Hände mit völliger Zerquetschung des linken Zeigefingers von Mittel- und Endglied, starke Quetschung rechter Zeigefinger mit Berstungsfraktur des Mittelgliedes, Quetschung Endgelenk rechter Daumen, Schädelprellung, Schädelhirntrauma 1. Grades, Platzwunde an der Stirn und an der Nase. Durch eine sofortige Operation konnte der rechte Zeigefinger erhalten werden. Den linken Zeigefinger konnte man jedoch nur noch im Bereich des Grundgliedes amputieren.
Vom VN wurden jetzt hohe Zahlungsleistungen (es ging um mehrere Millionen DM) gegenüber diversen Unfallversicherern geltend gemacht. Auf Seiten der Unfallversicherer entstand der Verdacht, daß die Verletzungen willentlich hervorgerufen wurden. Sie erstatteten Anzeige bei der zuständigen Staatsanwaltschaft. In dem folgendem Rechtsstreit wurden insgesamt acht Gutachter von Versicherungen, Staatsanwaltschaft und auch dem VN beauftragt, zu einer Wahrheitsfindung über das Unfallgeschehen zu kommen. Unter den Gutachtern befanden sich sowohl Rechtsmediziner, Ingenieure als auch ein Neurologe. Der Zeuge, der nach dem Vorfall den Autostellplatz sicherte, gab an, daß an der Innenseite des linken Vorderrades zwei etwa 1/1- zöllige Eisenrohre von ca. 30 cm Länge gelegen haben. Diese Rohre hätten direkt am und parallel zum Vorderreifen gelegen. Der VN könnte also beim Einparken in den Autostellplatz, von ihm unbemerkt, mit dem linken Vorderrad auf diese beiden Rohre aufgefahren sein. Der PKW könnte sich dann, mit dem linken Vorderrad auf beiden Rohren stehend, mit hochgehobenem rechten Vorderrad solange im Gleichgewicht befunden haben, bis eine entsprechende Kraft den PKW zum seitlichen Abrollen über die Eisenrohre brachte. Warum sich der VN gerade zu diesem Zeitpunkt mit beiden Händen und dem Kopf unter das Fahrzeug beugte, darüber kann nur spekuliert werden. Der VN gab für diesen Zeitraum Erinnerungslücken an, bedingt durch das Schädelhirntrauma - bezüglich einer retrograden Amnesie wurde letztendlich kein Gegenbeweis geführt.
Besonders schwierig gestaltete sich die Klärung der genauen Handhaltung zum Zeitpunkt der Gewalteinwirkung. Aufwendige Rekonstruktionen zeigten dann jedoch, daß die Fingerverletzungen des VN durch Einquetschung unter der herabstürzenden Bremsscheibe erklärlich waren. Beide Hände könnten sich im Sinne einer Such-/Greif-/Abstützbewegung unter der herabstürzenden Bremsscheibe befunden haben und wurden - von streckseitig her - durch die Bremsscheibe eingeklemmt. Vier Sachverständige kamen zu dem Ergebnis, daß der VN die Verletzungen willentlich durch gezieltes Anpressen der Zeigefinger (beugeseitig) unter die abstürzende Bremsscheibe herbeigeführt hat - die restlichen Gutachter gingen davon aus, daß eine Verkettung von Zufällen zum Abstürzen der Bremsscheibe mit den beschriebenen Folgen führte.
Das Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft wurde nach langwierigen Verlauf schließlich eingestellt. Im zivilen Rechtsstreit vor dem OLG sprach sich der Gerichtsgutachter für die Unfallversion aus. Daraufhin wurden von einer der betroffenen Versicherungsgesellschaften weiter sehr aufwendige Rekonstruktionen in Auftrag gegeben (wobei ein modellgleiches Fahrzeug mehrfach zum Abstürzen gebracht wurde). Der VN erhielt letzten Endes von den Versicherungsgesellschaften auf dem Vergleichsweg eine Summe in Millionenhöhe.
Fall 23: Totalamputation Dig. I re. beim Zufallen eines Eisentores
Der 59 Jahre alte Versicherungsnehmer und Chirurg besaß - nach eigenen Angaben - eine gutgehende chirurgische Praxis (Umsatz: 428.000,-- DM im letzten Jahr), als folgendes Ereignis eintrat: An einem Pfingstsonntag gegen ca. 18.30 Uhr habe der VN seine Frau zum Abendessen ausführen wollen; er habe festgestellt, daß das ca. 2,50 m breite und 1,72 m hohe und aus sehr schweren kantigen Stahlblechrohren zusammengebaute zweiflügelige Eisentor klemmte und nicht abzuschließen war. Das Türschloß sei defekt gewesen und er habe den verrosteten Schnapper eingeölt und dann mit der linken Hand durch mehrfaches Hineindrücken des Schnappers versucht, diesen wieder gangbar zu machen. Dabei habe er sich mit der rechten Hand an dem Pfosten des anderen Torflügels festgehalten. Der Torflügel, an dem er hantierte, habe ca. 50 cm weit offengestanden. In dieser Situation sei seine Ehefrau herangekommen. Als diese noch ca. 1 m vom Tor entfernt gewesen sei, sei sie plötzlich gestolpert und habe sich an dem 50 cm weit offenstehenden Tor abgestützt, welches nun mit großer Wucht zugefallen sei und ihrem Mann den rechten Daumen eingeklemmt und regelrecht zerquetscht habe. Nun habe er reflektorisch den rechten Arm zurückgerissen - der zerquetschte Anteil des Daumens sei zwischen Schloß und den Eisenteilen des Gartentores hängengeblieben. Er sei im Schock gewesen, habe starke Schmerzen gehabt und sei nicht mehr in der Lage gewesen zu stehen. Seine Frau habe nun das Tor wieder geöffnet - der Daumen habe kurz in Höhe des Schnappers gehangen, sei dann aber heruntergefallen. Sie sei dann in die Praxis gegangen und habe Gaze sowie eine kleine Schlauchbinde geholt. Auch den Rest-Daumen habe sie in Verbandszeug eingewickelt: „Alles, was da war, habe ich mitgenommen, es war alles weich, zerquetscht, blutig. Weitere Teile habe ich nicht gefunden.” Sie habe ihren Mann dann in das Krankenhaus gefahren. Als sie aus dem Krankenhaus zurückkam, habe sie den Garten gewässert und bei der Gelegenheit auch mit dem Gartenschlauch die Platten in der Umgebung des Tores abgespült, um sie von einer dort befindlichen großen Blutlache zu reinigen.
Abb. 24: Vom VN demonstrierte Haltung des rechten Daumens beim Zufallen des
Eisentores (während des Ortstermines)
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Vom Handchirurgen wurden folgende Verletzungen festgestellt und behandelt: Glattrandige Amputation des rechten Daumens im Grundgliedbereich. Nach Abnahme des provisorischen Verbandes blutete die Wunde stark aus einer palmaren Arterie, alle Kriterien einer frischen Verletzung lagen vor. Die Amputationsebene lag streckseitig in Höhe des suprabasalen Grundgliedes, hier waren der streckseitige Haut- und Weichteilmantel, der Streckapparat und der Knochen durchtrennt. Die Amputation verlief horizontal etwa in Höhe des Endgelenks. Das mitgebrachte Amputat war lediglich ein kleines zerfetztes Haut- und Weichteilareal - ohne Knochen und Fingernagel - und nicht replantationswürdig. Die Weichteil-Abtrennungslinie war „wie von einem Chirurgen gesetzt”, so daß eine plastische Deckung des Stumpfes problemlos möglich war.
Drei Tage nach dem Vorfall meldete der VN seinem privaten Unfallversicherer den Schaden. Als Entschädigungssumme hätten dem VN 315.000 DM bei Verlust seines Daumens zugestanden. Die Versicherung beauftragte daraufhin einen Rechtsmediziner mit der Begutachtung des Falles. Seit dem Unfall waren gerade einmal 3 Wochen vergangen. Bei dem Ortstermin wurde eine Rekonstruktion mit dem VN durchgeführt. Dabei fiel auf, daß der VN (Rechtshänder) sich mit rechts abgestützt hatte, während er angeblich mit links die durchzuführende Reparaturarbeit machte. Die Haltung des Daumens war sehr unnatürlich, als die Tür endlich auf die angebliche Amputationsebene paßte (siehe Abb. 24). Bei dieser Arbeit gab es auch keinen Grund sich abzustützen. Sinnvoller wäre es eigentlich eher gewesen, etwas mehr in die Hocke zu gehen und mit beiden Händen am Schloß zu manipulieren. Die beiden gegenüberliegenden Torschloßbeschläge bildeten bei geschlossenen Tor einen Spalt von 3 mm Breite. Mit einer derart „stumpfen Schere” konnte es nicht zu einer glattrandigen Amputation kommen, wie experimentelle Untersuchungen zeigten; möglich wäre eine vollständige Abquetschung mit entsprechendem morphologischen Befund (zerfetzte Wundränder und unregelmäßige Knochenabtrennungslinie, z. B. mit Knochensplitterung). Gegen eine freiwillige Verletzung sprach hier die ungewöhnliche Lokalisation der Verletzung (rechter Daumen als wichtigster Finger für einen Rechtshänder). Die Anamnese des VN ergab dann, daß er sich beim Boxsport mit 18 Jahren eine Fraktur des Grundgliedes des rechten Daumens zugezogen hatte. Das aktuelle Röntgenbild, welches nach der Verstümmelung angefertigt wurde, zeigte alte, mittelgradig arthrotische Gelenkveränderungen im Bereich des rechten Daumengrundgelenkes. War der rechte Daumen vielleicht in seiner Funktion so eingeschränkt, daß der VN leichter auf ihn verzichten konnte?
Die Begutachtung führte schließlich zu dem Ergebnis, daß eine Amputation mit dem geschilderten Unfallmechanismus zwar möglich, aber mit der vorgewiesenen Morphologie der Verletzung nicht in Einklang zu bringen war. Der VN (der inzwischen seine Praxis abgegeben hatte) erreichte dann mit anwaltlichen Beistand eine außergerichtliche Vergleichszahlung durch den Unfallversicherer in Höhe von 225.000,-- DM.
Fall 32: Totalamputation Dig. I li. während eines Raubüberfalles
Ein 54 Jahre alter VN (Rechtshänder), Geschäftsführer eines kleinen Familienunternehmens, war über die eigene Firma mit einer sehr hohen Versicherungssumme (4,5 Mio. DM) gegen Invalidität versichert. Finanzielle Engpässe waren beim VN bekannt, als sich folgendes ereignet haben sollte:
Der VN habe sich an einem Montagabend Ende September gegen 20.30 Uhr gerade im Gartenschuppen seines Wochenendgrundstücks aufgehalten, als ein Mann mit vorgehaltenem Revolver in den Schuppen eingedrungen sei. Dieser habe den VN dann mit einem im Schuppen hängenden Spanndraht-Stück die Arme nach hinten gefesselt. Der Täter habe nun nachdrücklich Geld gefordert und den VN im Schuppen eingeschlossen, um den vom VN im Wochenendhaus vorhanden genannten Geldbetrag (etwa 10.000 DM Geschäftseinnahmen) an sich zu nehmen und das Wochenendhaus nach weiterer Beute zu durchsuchen. Der Täter sei danach in den Schuppen zurückgekehrt und verlangte nun auch Gold. Er habe dem VN dessen goldene Armbanduhr - unter Zerreißen oder Zerschneiden des Metallarmbandes - abgenommen und drei Ringe vom Ring- bzw. Zeigefinger abgezogen. Da es dem Täter nicht gelungen sei, den Goldring vom linken Daumen abzustreifen, habe der VN darauf hingewiesen, er könne den Ring abziehen, wenn die Fessel abgenommen werde, was der Täter jedoch mit der Bemerkung, er habe einen „Abzieh”, abgelehnt habe. Kurz darauf habe der VN einen stichartigen Schmerz in der linken Hand verspürt und dann sehen können, daß der linke Daumen abgeschnitten gewesen sei und die Wunde heftig blutete. Dann habe der Täter ihm den abgeschnittenen Daumen - ohne den Ring, mit der Bemerkung: „Den kannst Du Dir wieder anpappen lassen”, in die linke Brusttasche seines Parka gesteckt. Schließlich habe der Täter den VN wieder im Schuppen eingeschlossen und sei einige Minuten später mit dem PKW des VN losgefahren (das Fahrzeug wurde ca. 8 Stunden später - etwa 20 km entfernt - auf einem Wiesengelände einer größeren Stadt aufgefunden). Nach erfolglosen Versuchen, die Tür des Schuppens gewaltsam mit einem Vorschlaghammer zu öffnen, sei es dem VN gelungen, den Schuppen durch das Fenster zu verlassen.
In der naheliegenden Chirurgischen Universitätsklinik wurde eine quere, im Weichteil- und Knochenbereich glatte Amputation des linken Daumens, ca. 1 cm distal des Daumengrundgelenkes, festgestellt. Die Wunde wurde ohne den Versuch einer Replantation versorgt, nachdem das Amputat weder bei dem VN in der Brusttasche noch in dem PKW des Nachbarn, der ihn in die Klinik gefahren hatte, gefunden wurde. Bei der ersten polizeilichen Untersuchung des angegebenen Tatorts wurde die Tür des Schuppens verschlossen (mit außen steckendem Schlüssel) und das Fenster des Schuppens geöffnet vorgefunden. Neben Blutspuren, die auf ein Verlassen des Schuppens durch das Fenster hinwiesen, weiteren Blutspuren im Inneren des Schuppens, insbesondere zahlreichen facettenförmigen Blutspuren in der Nähe der Tür, wurden Blutspuren auf der außen vor der Türschwelle verlegten Betonsteinplatte sowie direkt auf der Türschwelle festgestellt. Das Amputat wurde, trotz intensivster Suche, niemals aufgefunden - der VN vermutete, daß er es unbemerkt durch das schon löcherige Futter der linken Brusttasche des Parka verloren habe. Für das Abtrennen des linken Daumens habe der Täter eine, von ihm dann mitgenommene, Rosenschere benutzt; der VN habe jedenfalls später eine derartige, früher in dem Schuppen vorhanden gewesene Schere vermißt. Eine Fahndung nach dem Täter blieb erfolglos; der Fall wurde letztendlich sogar in der Fernsehsendung „Aktenzeichen XY...ungelöst” vorgestellt. Ein Rechtsmediziner sah durch Zufall diese Sendung und informierte die Kriminalpolizei über ihm aufgefallene Ungereimtheiten und den Verdacht einer Selbstverstümmelung. Der Unfallversicherer betraute diesen dann mit der Erstellung eines Gutachtens zu den folgenden Fragen:
War es aus rechtsmedizinischer Sicht zu bestätigen, daß das Fesselwerkzeug dem VN vom Täter angelegt wurde? War es möglich, mit einer Amboß-Gartenschere eine derartige Amputationsverletzung des linken Daumens zu verursachen? War das Blutspurenmuster am Tatort mit den Angaben des VN zum Tatablauf zu vereinbaren? Der Gutachter kam nach experimentellen Untersuchungen zu den folgenden Ergebnissen: Eine Selbstfesselung war prinzipiell möglich, sogar sehr leicht zu bewerkstelligen. Die Amputationsverletzung des linken Daumens mittels einer Amboß-Gartenschere war mit dem ärztlicherseits festgestellten Verletzungsbefund nicht zu vereinbaren. Das Blutspurenmuster am Tatort, speziell auf der Türschwelle und außerhalb davor war mit den Angaben des VN zum Tatablauf ebenfalls nicht zu erklären, wenn der VN bei vom Täter verschlossener Tür im Schuppen eingesperrt geblieben und nur durch das Fenster ins Freie gelangt sei, ohne sich an den Türbereich von außen zu begeben. Der Unfallversicherer lehnte daraufhin eine Schadensregulierung ab.
Der VN klagte vor dem Landgericht, welches sich den Ausführungen des o.a. Sachverständigen anschloß und die Klage zurückwies. Zu diesem Zeitpunkt waren schon über 4 Jahre seit dem Vorfall vergangen. Der VN legte Berufung ein und beauftragte seinerseits einen pathologischen Gutachter zu der Frage, ob mittels einer einhändig zu bedienenden Gartenschere ein Daumen horizontal und glatt amputiert werden könne. Umfangreiche Experimente (die Untersuchungen wurden an entsprechend dicken Zehen amputierter Beine vorgenommen) führten hier zu dem Ergebnis, daß in allen Fällen eine glatte Amputation möglich war, es war sogar in keinem Fall eine maximale Kraftanstrengung dafür notwendig. Das für die Berufung zuständige OLG berief einen weiteren Rechtsmediziner als gerichtlichen Sachverständigen, der ebenfalls nach einer Vielzahl von experimentellen Untersuchungen (an Leichenhänden sowie Schweineschwänzen durchgeführt) mittels unterschiedlicher Amboß-Gartenscheren zu der Einsicht kam, daß glatte Amputationen durchaus mit dem angegebenen Werkzeug möglich seien. Der gerichtliche Gutachter führte außerdem an, daß die konkret durchgeführte Fesselung ohne Zweifel vom Versicherten hätte stammen können, jedoch konnten sich keine durchgreifenden Argumente gegen die Schilderung des VN in bezug auf den Zustand des Fesselungsdrahtes herleiten. Es wurden mehr oder weniger wahrscheinliche Erklärungsmöglichkeiten für die Blutspuren außen und auf der Schwelle im Rahmen der Schilderung des VN aufgezeigt, so z. B. die Möglichkeit, daß das Blut vom Tatwerkzeug des Täters abgetropft sein könnte oder durch ein ruckartiges schnelles Öffnen der Tür von außen, durch die Polizeibeamten, ein Abspritzen von der Türunterseite erfolgt ist. Der gerichtliche Sachverständige führte aber an, daß die entwickelten Ablaufmodelle, die zur konkreten Blutspur geführt haben könnten, eher „gekünstelt”, also sehr unwahrscheinlich aber doch nicht vollkommen auszuschließen seien. Das OLG änderte das Urteil des Landgerichts insofern, als der Unfallversicherer jetzt zur Zahlung von 900.000,-- DM an den VN verurteilt wurde. Die Versicherungsgesellschaft beantragte Revision vor dem Bundesgerichtshof, der die Revision allerdings ablehnte, da die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung aufwies und im Endergebnis auch keine Aussicht auf Erfolg hätte.
Fall 50: Totalamputation Dig. II - IV li. bei einer Frau durch eine kleine Axt
Mit ihrer Nachbarin und deren 17 Jahre alten Enkel war die 51jährige VN (Hausfrau, Rechtshänder) gerade beschäftigt, im Freien hinter dem Haus Holz zu hacken. Die VN und ihr Mann heizten ausschließlich mit Holz, so daß diese Arbeit von der VN als Routine betrachtet wurde. Sie hackte mit einer kleineren Axt, fixierte dabei mit der linken Hand die Holzscheite auf einem Hackklotz. Plötzlich hätten die Nachbarin und deren Enkel ein „au, meine Finger” von der VN vernommen. Als sie zu ihr hinüberschauten, habe jene vor dem Hackklotz gekniet und mit der rechten Hand die linke umschlossen. Drei abgetrennte Finger hätten vor dem Hackklotz gelegen. Diese wurden eingepackt und mit der VN durch einen Rettungshubschrauber in eine Spezialklinik verbracht.
Es handelte sich um eine frische Hackverletzung im Bereich der linken Hand mit totaler Amputation der Finger 2, 3 und 4, wobei der Zeigefinger im Grundglied, der Mittelfinger im Mittelgelenk und der Ringfinger im Mittelglied relativ glatt amputiert waren. Die VN lehnte eine Replantation ab, nachdem sie über mögliche Operationsrisiken und Folgen nach der Replantation informiert wurde. Wegen der unfallbedingten psychischen Ausnahmesituation wurde die Replantation dennoch vorgenommen. Postoperativ war zwei Tage später der Zeigefinger unzureichend durchblutet; die Perfusion der Finger 3 und 4 war inzwischen zufriedenstellend. Wegen des Zustandes des Zeigefingers wurde eine Revision nötig, welche die Patientin wieder anfangs ablehnte. Erst nach längerem Gespräch war sie zu einer erneuten Operation bereit. Am nächsten Tag war der Zeigefinger trotz erfolgreicher Revision nach wie vor minderdurchblutet. Die VN hätte über starke Schmerzen geklagt und wollte die Finger amputiert haben. Drei Tage später begann der Zeigefinger zu mumifizieren und auch der Mittelfinger war plötzlich bläulich livide verfärbt (Abb. 25). Die VN hätte eine sofortige Amputation gewünscht. Zeigefinger und Mittelfinger wurden schließlich amputiert.
Abb. 25: Zustand der replantierten Finger kurz vor der notwendigen Nachamputation
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Im Vorfeld dieser Ereignisse hatte die VN innerhalb von nur 3 Monaten vier Versicherungsverträge gegen Invalidität bei verschiedenen Versicherungen mit einer Invaliditätssumme von 1,25 Mio. DM abgeschlossen. Beim letzten Versicherungsabschluß, nur 7 Tage vor der Verstümmelung, verschwieg sie auch noch die vorher bestehenden Versicherungen. Zusätzlich bemühte sich die VN noch um eine weitere Invaliditätsversicherung in Höhe von 1 Mio. DM bei einer anderen Gesellschaft, welche den Antrag allerdings ablehnte. Schulden des Ehemannes in sechsstelliger Höhe waren ebenfalls bekannt. Die Versicherungen erklärten den Rücktritt vom Versicherungsvertrag sowie die Anfechtung des Vertrages wegen arglistiger Täuschung. Ein gegen die VN gerichtetes Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Versicherungsbetruges wurde eingeleitet, aber später vorläufig eingestellt. Die VN strengte nun eine Zahlungsklage gegen eine der Versicherungen an; die zuständige Kammer war aufgrund Würdigung aller Umstände davon überzeugt, daß die VN sich die erlittene Verstümmelung freiwillig zugefügt habe. Nach der Klageabweisung legte die VN gegen dieses Urteil Berufung ein, woraufhin das zuständige OLG einen Rechtsmediziner zur Frage eines freiwilligen oder unfreiwilligen Ereignisses beauftragte.
Während eines Ortstermines bei der VN demonstrierte diese ihre Handhaltung während des Hackens. Dabei habe sie die linke Hand derart auf die Schlagfläche gelegt, daß sich die drei mittleren Finger approximativ mittig und bündig auf der Schlagfläche befanden und etwa in einem Winkel von 60 ° zur Innenseite des Scheites zeigten. Der Daumen sei dabei von vorn leicht gegen den Holzscheit gedrückt worden, der kleine Finger sei etwas abgespreizt gewesen und habe sich außerhalb der Schlagfläche befunden. Die Finger hätten nahezu flächenhaft auf dem Holzscheit gelegen. Sie vermutete, daß sie beim Versuch ein Holzstück zu zerteilen entweder die Hand zu spät weggezogen habe oder noch einmal nachgefaßt habe.
Ein „Nachfassen” bzw. reflektorisches „Nachgreifen” während der Schlagbewegung war nicht möglich, urteilte der Sachverständige später, da die Reaktionsgesamtzeit, also die Zeit von der Reizauslösung (z. B. Wackeln des Objektes) bis zum Erreichen der Einschlagfläche, zwei- bis dreimal so hoch ist, wie die Schlagzeit (vom Ausholpunkt zum Einschlag); die Haltehand kann beim „reflektorischen Nachgreifen” also erst zu einer Zeit auf das Hiebobjekt geraten sein, zu welcher das Schlagwerkzeug längst das Ziel erreicht hat. Dieses war in der wissenschaftlichen Literatur schon längst bekannt. Die beschriebene Handhaltung der VN war sehr unphysiologisch und überaus unvorsichtig, gerade für erfahrene Holzwerker. Untersuchungen hatten ergeben, daß die Haltehand von unbefangenen Versuchspersonen niemals spontan in eine derartige Position gebracht wurde, daß die Finger direkt im zu erwartendem Einschlagbereich des Werkzeuges ausgestreckt auflagen, denn nur diese Haltung („Exekutionshaltung”) erlaubt derartige Amputationsverletzungen. Diese Punkte sprachen für eine freiwillige Verletzung; das Gericht schloß sich den Ausführungen des Sachverständigen an und wies die Berufung zurück. Dieses Urteil erhöhte die Gerichtskosten der VN auf mittlerweile 280.000 DM. Letztendlich beantragte die VN noch eine Revision vor dem Bundesgerichtshof, welche allerdings nicht in der erforderlichen Frist begründet und somit abgewiesen wurde.
8.2. Übersicht zur Rechtssprechung
Die anschließend aufgeführte Liste zeigt die Rechtsprechung, welche bisher in Selbstverstümmelungsfällen seit dem Inkrafttreten des § 180 a VVG erfolgt ist.
Tab. 6: Rechtsprechung in Selbstverstümmelungsfällen nach Inkrafttreten des
§ 180 a VVG
1 LG Lüneburg, VersR 73:180
2 OLG Hamm, VersR 73:416
3 OLG Oldenburg, VersR 76:657
4 LG Flensburg, VersR 77:323
5 LG Dortmund, r + s 78:248
6 LG Paderborn, r + s 79:116
7 OLG Koblenz, VersR 80:819
8 OLG Bamberg, VersR 81:73
9 Österr. Ob. Gerichtshof, VersR 81:1068
10 OLG Hamm, VersR 81:953
11 LG München I, VersR 82:466
12 OLG Koblenz, r + s 83:115
13 OLG München, VersR 83:1053
14 BGH, VersR 85:940
15 OLG München, VersR 86:379
16 LG Tübingen, r + s 86:242
17 OLG Saarbrücken, VersR 87:98
18 LG Freiburg, ZfS 82:248
19 OLG München, r + s 87:82
20 OLG Braunschweig, VersR 88:907
21 OLG Nürnberg, r + s 88:230
22 OLG Frankfurt, r + s 89:133
23 OLG Hamburg, VersR 89:945
24 OLG Hamm, r + s 89:373
25 OLG Saarbrücken, r + s 90:175
26 OLG Hamm, VersR 90:966
27 OLG Karlsruhe, VersR 90:967
28 OLG Saarbrücken, VersR 90:968
29 OLG Hamburg, VersR 91:763
30 BGH, r + s 91:285
31 OLG Hamm, ZfS 90:318
32 OLG Koblenz, VersR 92:229 u. r + s 92:103
33 LG Hamburg, VersR 92:864 u. r + s 92:215
34 BGH, VersR 94:1054, NJW-RR 94:1112, ZfS 94:313 u. r + s 94:394
35 OLG Celle, NJW-RR 94:1113 u. r + s 95:198
36 OLG Köln, r + s 95:37
37 OLG Ffm, ZfS 96:64 u. VersR 96:837
38 KG, r + s 96:377
39 OLG Hamm, VersR 96:1134
40 OLG Köln, ZfS 96:387 u. VersR 96:1530
9. DANKSAGUNG
Herrn Prof. Dr. med. Klaus Püschel danke ich für die Überlassung der faszinierenden Thematik und die freundschaftliche, wertvolle wissenschaftliche Betreuung und Unterstützung bei der Anfertigung dieser Arbeit sowie deren Veröffentlichung.
Herrn Rechtsanwalt Klaus Hitzer danke ich für viele interessante Hinweise und die Hilfe bei der Beschaffung des Aktenmaterials sowie die Nutzung der Räumlichkeiten seiner Anwaltskanzlei zur Auswertung.
Frau Folger (Sekretariat des Instituts für Rechtsmedizin) möchte ich besonders danken für ihre Freundlichkeit und die jederzeit mögliche Entgegennahme meiner Anliegen.
Herrn Medizininaldirektor a. D. Dr. med. Hildebrand und Herrn Dr. med. Koops danke ich für die freundliche Überlassung von Literatur und Falldarstellungen.
Allen beteiligten Versicherungsgesellschaften sei gedankt, daß sie Aktenmaterial zur Verfügung gestellt haben.
10. LEBENSLAUF
Am 3. Dezember 1970 wurde ich in Winsen/Luhe geboren. 1977 bis 1981 besuchte ich die Grundschule in Winsen. Im Mai 1991 legte ich das Abitur am Fachgymnasium Wirtschaft, Winsen/Luhe ab.
Von 1991 bis 1992 leistete ich den Grundwehrdienst.
Vom Wintersemester 1992/1993 bis zum Sommersemester 2000 studierte ich Medizin an der Universität Hamburg. Die Ärztliche Vorprüfung bestand ich am 13.03.96. Am 25.03.1997 bestand ich den ersten und am 23.09.1999 den zweiten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung. Am 06.12.2000 schloß ich mein Studium der Medizin mit dem dritten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung in Hamburg ab.
Erklärung
Ich versichere ausdrücklich, dass ich die Arbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe verfasst, andere als die von mir angegebenen Quellen und Hilfsmittel nicht benutzt und die aus den benutzten Werken wörtlich oder inhaltlich entnommenen Stellen einzeln nach Ausgabe (Auflage und Jahr des Erscheinens), Band und Seite des benutzten Werkes kenntlich gemacht habe, und dass ich die Dissertation bisher nicht einem Fachvertreter an einer anderen Hochschule zur Überprüfung vorgelegt oder mich anderweitig um Zulassung zur Promotion beworben habe.
Hamburg, 13. Dezember 2000
Dirk Harms