Vorwort «Die Asiaten?», «Was unterscheidet die Asiaten von uns?», «Wie sollte man sich ihnen gegenüber verhalten?», «Werden sie uns nicht immer ähnlicher?» und «Gibt es sie überhaupt, die Asiaten?» Fragen dieser Art sind letztlich Fragen nach dem Wertesystem, das in der westlichen Forschung bisher sträflich vernachlässigt wurde. Man untersucht zwar Rohstoffe, Ausbildungsleistungen, gesamtwirtschaftliche Zielsetzun- gen und Verwirklichungsdefizite, doch bleibt die Frage unbeantwortet, warum China bemerkenswert stabil, das politische Indien aber unstabil, warum das rohstoffarme japan reich, das rohstoffreiche Indonesien aber arm, warum das einst kolonisierte Singapur höchst modern, das nichtkolo— nisierte Thailand aber modernisierungsgehemmt ist. jeder Betriebsleiter weiß, daß die Motivation seiner Mitarbeiter zwar in keinem Bilanzeintrag vorkommt, daß sich fehlende Motivation aber augen-x blicklich in Verlustposten niederschl'a'gt. Mit dem Wertesystem der Völker verhält es sich nicht viel anders! Vor allem in den sechziger jahren — man denke zum Beispiel an das dama— lige China oder Vietnam — glaubte man, die Vergangenheit abschreiben zu können, doch heute weiß man, daß die Tradition noch lange nicht zum alten Eisen gehört: Die meisten Asiaten beginnen sich auf ihre überkommenen Werte zu besinnen und zeigen ein neuerwachtes Selbstbewußtsein. In den islamischen Ländern wirkt der Fundamentalismus als treibende Kraft, in China kommen, allen marxistischen Lippenbekenntnissen zum Trotz, über- all wieder metakonfuzianische Vorstellungen zum Durchbruch, und in ja- pan hat der wirtschaftliche Aufschwung erneut zum Glauben an die Einzig- artigkeit der eigenen Nation geführt. Überall beginnt sich die Überzeugung durchzusetzen, daß das 21.jahrhundert ein «asiatisch—pazifisches» sein werde. In diesem Sinne ist die in Malaysia verbreitete Parole «Look East» zu verstehen, die den Blick von Europa nach japan oder Südkorea lenken soll. Wie sehr sich das Blatt gewendet hat, wurde für den Autor des vorliegen- den Buches auch bei seinen Vorträgen spürbar. Richtete sich das Interesse in den sechziger oder siebziger jahren noch ganz auf den Vietnamkrieg, auf die Chinesische Kulturrevolution oder auf die Spielformen des asiatischen Sozia— lismus, so gehört heute auf die Tagesordnung fast jedes Seminars ein Exkurs über Vorstellungs— und Verhaltensweisen asiatischer Geschäftspartner. Galt es ferner jahrzehntelang als ausgemacht, daß für das Schicksal eines Landes die Entscheidungen der Elite und keineswegs die meist traditionsbehafteten Wertvorstellungen der breiten Massen prägend seien, so hat sich nach dem 14 Vorwort Abtritt der charismatischen Führerpersönlichkeiten vom Format eines Mao Zedong, Ho Chi Minh, Nehru oder Sukarno deutlich die Tradition wieder zu Wort gemeldet und beginnt, ihr Recht einzufordern. Fast physisch greifbar wurde dies in China, wo die seit 1978 laufenden Reformen wie eine Eigenblutimpfung wirken, nachdem die Bevölkerung vorher drei Jahrzehnte lang mit «körperfremden» Mitteln behandelt werden war. Ähnliche Entwicklungen zeigen sich auch im Indonesien der Nach—Su— karno-Zeit oder im neuen Malaysia, das im Zeichen der Re-Islamisierung steht. Überall regen sich wieder die alten Werte, die sich in der Zwischenzeit freilich erheblich modifiziert und den neuen Bedingungen angepaßt haben. Es sind nicht mehr die «Großen Traditionen» der mandarinären, der brah— manischen oder der javanischen Prijaji-Welt, die das Denken besetzt halten, sondern die zähen und mit tausend Organen klammernden «Kleinen Tradi— tionen» des Handwerker— und Bauernkonfuzianismus, des Dorfhinduismus und des «Ada-Islam», die sich in soliden, für den Überlebenskampf im All- tag nutzbringenden Regeln niedergeschlagen haben und die völlig unabhän— gig sind vom Verschwinden oder Fortbestehen der traditionellen Eliten. Angesichts dieser neuen Situation steht die nachfolgende Darstellung un- ter einem Doppelziel: Zum einen geht es darum, die traditionellen Wertesy- sterne durch die asiatische Brille zu sehen und «verstehen» zu lernen, zum anderen ist danach zu fragen, inwieweit die traditionellen Elemente der «Modernisierung» dienen oder wieweit sie ihr im Wege stehen. Was der Autor vermeiden möchte, ist eine Darstellungsweise, wie sie zur Kolonialzeit noch durchaus üblich war, als nämlich asiatische Wertesysteme entweder als «Eingeborenen-Brauchtum» abgetan oder umgekehrt zu weih- rauchumkräuselten Weistümern hochstilisiert wurden. Vermieden sei des— halb auch das in der Asienliteratur so beliebte Wort «geheimnisvoll». Ein Land wie China ist, wenn man es mit seinen eigenen Maßstäben begreifen lernt, nicht «geheimnisvoller» oder «rätselhafter» als etwa Frankreich oder Italien. Ein moderner Autor befindet sich in der angenehmen Lage, häufig reisen, Erfahrungen sammeln und Arbeitshypothesen immer wieder falsifizieren oder verifizieren zu können. Gleichzeitig weiß er sich unter der Kontrolle zahlreicher Leser, die ebenfalls empirische Eindrücke sammeln konnten. Darüber hinaus hat sich sogar die Optik solcher Zeitgenossen verändert, die keine praktischen Reiseerfahrungen haben. Man vergleiche nur einen In- dien—Film aus den fünfziger mit einem solchen aus den achtziger Jahren. Die Versuchung, von den Realitäten abzuheben, ist angesichts dieser Doppel— kontrolle nicht besonders groß. Der Autor hat sich bemüht, ein Begegnungsbuch zu schreiben, wie er es selbst gern zur Hand gehabt hätte, als er — vor einem runden Vierteljahrhun— dert — zum erstenmal nach Asien kam. Vorwort ‚5 Grundbegriffe wie «Asien», «Die Asiaten», «Wertesystem», «Normali— tät», «Entwicklung» und «Kulturwandel/Wertewandel» werden im Text nä- her erklärt. Als Leitkulturen sollen «China» und «Indien» in der Darstellung eine Hauptrolle spielen. Noch bei keinem seiner Bücher hat der Autor das ursprüngliche Manu— skript so radikal zusammenstreichen müssen wie bei der vorliegenden Dar— stellung. Jedes einzelne Kapitel hätte sich mühelos auf den zehn— bis zwan- zigfachen Umfang ausspinnen lassen. Möge die vorliegende Darstellung zu besserem Verständnis, zu einer kon— fliktfreieren Kommunikation und vielleicht sogar zur «Begegnung» mit «den» Asiaten beitragen. Besonders zu danken hat der Autor seinen Mitarbeiterinnen Frau Ma- rianne Kühne, Frau Grethe Meier-Gildemeister und Frau Wiebke Timpe, die Niederschrift und Korrektur des Manuskripts besorgt haben. Oskar Weggel I. «Asien» und «Die Asiaten» Mit «Asien» sind hier fünfundzwanzig Staaten und Stadtstaaten gemeint, die diesem Kontinent üblicherweise zugerechnet werden: die sieben Länder Ostasiens‚ China, Hongkong, Japan, Korea—N., Korea-S., Macao und Tai— wan; ferner sieben Staaten Südasiens, Bangladesch, Bhutan, Indien, Maledi— ven, Nepal, Pakistan und Sri Lanka; zehn Länder Südostasiens, und zwar die sechs ASEAN—Mitglieder Brunei, Indonesien, Malaysia, Philippinen, Singapur und Thailand, die drei Indochina-Staamn Kambodscha, Laos und Vietnam sowie Birma und schließlich ein zentralasiatischer Staat, die Mon- golische Volksrepublik. Drei Schritte sollen der Annäherung an die Asiaten und ihre Verhaltens- kultur dienen. Zunächst ist die Frage zu beantworten, ob es überhaupt «die» Asiaten sowie panasiatische Verhaltensmuster gibt; sodann sind die asiati- schen Subsysteme zu ermitteln, und schließlich gilt es zu untersuchen, in welcher Weise sich wiederum die Angehörigen dieser jeweiligen Subsysteme voneinander unterscheiden. Die Antwort auf die erste Frage, ob es panasiatische Verhaltensmuster gibt, fällt deshalb nicht leicht, weil Asien zwar als geographische, nicht aber als soziokulturelle Einheit existiert. Zwar ist «Asien» großstaatlicher, ge- schichtlich tiefer verwurzelt, religiös autochthoner und historiographisch äl— ter als die Kulturen irgendeines anderen Erdreils. Gleichwohl handelt es sich hier nicht um eine Einheit, sondern um eine Vielheit, sogar ein Vielfaches Gegeneinander. «Asien» war sich auch nie einer Zusammengehörigkeit be- wußt und darf deshalb wohl als europäische Erfindung gelten. Sieht man einmal von kurzlebigen lntegrationsbestrebungen unter Führung Japans während der vierziger Jahre ab, so gibt es auch im zo.Jahrhundert nirgends panasiatische Zielsetzungen, die darauf hindeuten, daß Asien in absehbarer Zeit zu einer Einheit zusammenwachsen könnte.1 Dies gilt grundsätzlich auch für die Verhaltenskulturen. Gleichwohl lassen sich zahlreiche Gemein- samkeiten ermitteln, die einen durchaus panasiatischen Eindruck erwecken, freilich nicht deshalb, weil sie wirklich gesamtasiatisch wären, sondern weil sie so erscheinen müssen, sobald sie mit jenem europäischen Wertesystem konfrontiert werden, das in der Geschichte der Menschheit zwar als Aus— nahmefall gelten muß, das inzwischen aber gleichwohl universale Verbind- lichkeit gewonnen hat. Die bei einem solchen Vergleich hervortretende asiatische «Gemeinsamkeit» ist nachfolgend unter dem Stichwort «Ganz— heitlichkeit» im Gegensatz zur europäischen Differenzierungstendenz zu beschreiben. 20 Einleitung Sieht man jedoch von diesem größten gemeinsamen Nenner ab, so treten schnell zwischenasiatische Unterschiede zutage, aus denen srch bei näherem Zusehen freilich immer noch verhältnismäßig homogene Verhaltenssubsy— sterne herausfinden lassen, und zwar fünf an der Zahl: I. Zu nennen sind hier einmal die metakonfuzramschen Gesellschaften, denen sich die Chinesen, die japaner, die Koreaner, die Vietnamesen sowie die Auslandschinesen in Südostasien — und hier wiederum die meisten Be— wohner Hongkongs und Singapurs — zurechnen lassen. Bei ihnen handelt es sich durchweg um stark «zellularisierte» Gruppierungen mit zentralistischer Staatsideologie und ausgeprägt wirtschaftsfreundlichen «Tugenden». Ma— gneten für den Zellenbildungsprozeß sind überschaubare Gruppen mit Dan— wei—Charakter (siehe S. 57ff.). 2. Ganz am entgegengesetzten Ende der Skala stehen die Thai, die Laoten, die Birmanen und die Khmer, aber auch die Singhalesen, deren gemeinsames Wertesystem so nachhaltig vom Theravadabuddhismus (siehe S. 59ff.) ge— prägt ist, daß ihre vorbuddhistischen Traditionen fast zur Marginalie zusam- menschrumpfen. All diesen Völkern ist eine höchst «individualistische» Le— benshaltung eigen, die sowohl von der überkommenen Produktionsweise als auch vom Theravadabuddhismus beeinflußt ist und deren «aufgelockerte Gesellschaftsstruktur» Aufspaltungstendenzen fördert, die eine staatliche bürokratische Gegensteuerung nötig machen. 3. Die hinduistische Gesellschaft setzt sich aus zahlreichen Lokalkulturen unterschiedlichster Prägung zusammen, deren Verschiedenheit aber letztlich doch wieder durch eine Reihe von Gemeinsamkeiten überbrückt wird. Man denke an die Organisation des Alltagslebens durch das Regelungsfiligran des Kastenwesens, an literarische Hauptüberlieferungen wie die beiden Epen Mahabharata und Ramayana oder die zahlreichen Regelbücher, nicht zuletzt aber auch an religiöse Grundüberzeugungen, die sich mit Stichworten wie Karma, Samsara, Atman oder Brahman wiedergeben lassen. Auch hier gibt es ein ausgeprägtes Gruppendenken, das jedoch, anders als in den metakon- fuzianischen Gesellschaften, nicht an Danweis, sondern an Familien— und Subkastenstrukturen orientiert ist. 4. Die islamischen Gesellschaften Asiens weisen noch weniger Gemein— samkeiten auf als die verschiedenen hinduistischen Völkerschaften; gibt es bei ihnen doch gleich zwei Varianten, nämlich die malaio—islamischen — Bru— nei, Indonesien, Malaysia, Südphilippinen, zum Teil auch Singapur — und die indo—islamischen Gesellschaften — Bangladesch, Malediven und Paki— stan —, denen zwar der Islam gemeinsam ist, die sich aber angesichts des äräftigen Nachlebens vorislamischer Traditionen voneinander unterschei— en. 5. Eine Gesellschaft eigener Art bildet die Mehrheit des philippinischen Volkes, das den Katholizismus angenommen hat und dem außerdem ausge- pragtes Großfamiliendenken eigen ist. [. «Asien» und «Die Astaten» }, Das hier gezeichnete Bild wäre unvollständig, würden nicht auch noch die über ganz Asien, vor allem aber Südostasien, verstreuten Minderheiten er— wähnt, die teils «absorbiert», teils «verschichtet» (vgl. S. 331 ff.) wurden die aber daneben auch, wie in Birma, ihre Identität bewahrt haben, ja um staatli— che Eigenständigkeit kämpfen. Auf die im vorliegenden Zusammenhang nicht erwähnten Nomadenvöl- ker Zentralasiens wird auf S. 87 eingegangen. Bei aller Differenzierung gilt es Proportionen zu wahren: Java und Suma— tra beispielsweise mögen zwar aus der Sicht eines Indonesien—Spezialisten äonenweit auseinanderklaffen —— aus der Perspektive eines China— oderjapan- Wissenschaftlers oder gar aus dem Blickwinkel eines «unvoreingenommenen Europäers» tun sie es ganz gewiß nicht! Es gilt a150‚ eine mittlere Schärfen— emstellung zu finden, die weder die Gemeinsamkeiten noch die Unter— schiede übertreibt. II Verhaltenskultur, Volkscharakter und Wertesystem Ob in Hongkong, Jakarta oder Bombay: überall findet der westliche Besu— cher Kontaktpersonen, die in Städten leben, nicht selten auch im Ausland studiert und praktiziert haben und die mehr od ' ' jektiver Geist» (<3w Mama sdmaerzen dal.lali- zur danke salmuckwerda pen ken „song Men- reszeil Midi! Slim- ndvfung übern IWW Osten Gruner Frühling Auf Morgen Holz Jupiter Milde Grun \Mnd Sauer Leber Augen Bänder Tränen Errgguuq Drache Nutten üben Süden Roter Sommer Reden Mittag Feuer Mars An- Rot Hitze Bmer Herz Ohren Arterien SchweißFreude Mei leuem Men \Mußor Herbst Emien Abend "man Venus Richten vera Trok- Scharf Lunge Mund Hann. 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So entspricht zum Beispiel in der altindischen Fünf—Tage—Woche der erste Tag dem Frühling, der irdischen Welt und den Füßen eines Menschen; der zweite dem Sommer, der Schicht oberhalb der Erde (aber unterhalb des Luftraums) und dem Ab- schnitt des Menschenkörpers, der über den Füßen, aber unterhalb der Mitte liegt; der dritte der Regenzeit und dem Herbst, dem Luftraum und der Kör- permitte, der vierte dem Winter, der Schicht oberhalb des Luftraums (aber unterhalb des Himmels) sowie dem Abschnitt zwischen Leibesmitte und Haupt und endlich der fünfte Tag dem Vorfrühling, dem Himmel und dem Haupt. Es herrscht hier eine magische Verkettung von Opferzeit, Jahr, Kos— mos und Menschenleib durch die symbolische Fünferzahl‘. Analogisierungen zwischen Körper und Landschaft nimmt der Daoismus vor: Pagoden, Schreine oder Male stecken beispielsweise wie Akupunktur- nadeln in den geomantisch zu ermittelnden «Meridianen» der Landschaft * Wie sie auch in den Meridianpunkten des Körpers angebracht werden. Gilt doch der Mensch als Mikrokosmos, in dem sich alles analog zum Makrokos- II. Der eigentliche Unterschied: Ganzheitlichkcit 41 mos und zur Konstellation der Planeten abspielt. Einige Daoistenschulen bevorzugten deshalb bestimmte Meditationsübungen, mit denen sie ver- suchten, Teile ihres Körpers mit «analogen» Sternen eins werden zu lassen und auf diese Weise dem generellen daoistischen Ziel, unter die «Unsterbli— chen» (xian) einzugehen, näher zu kommen? Die Grundidee dieser Philoso— phie bestand darin, daß die Ewigkeit der Sterne zur Ewigkeit des individuel— len Lebens führen, daß man also eine Sterngottheit werden könne, habe man sich nur einmal das analogistische Weltbild sowie eine Lebensweise zu eigen gemacht, die aus fünf Elementen (»Reinigung«, Alchimie, Diät, Magie und Zeremoniell) besteht. Populär und überall auf ostasiatischen Flohmärkten zu haben ist der Nanhai shouxing, der «Stern des langen Lebens vom Süd- meer», die Figur eines fröhlichen Greiscs mit einer riesigen «Denkerstirn» und der Pflaume der Unsterblichkeit in der Hand. Der einzelne wird durch den Himmel, die Umgebung und die Gemein- schaft genauso beeinflußt, wie er durch sein Verhalten umgekehrt Einfluß auf diese drei Elemente seiner Umwelt nehmen kann. De Groot hat diesen durch «Analogismus» oder «Verkettungsdcnken» konstruierten Zustand als «Universismus» bezeichnet. Der Ausdruck «Universismus» wird manchmal auch als Oberbegriff für die «drei Lehren» (Konfuzianismus, Daoismus und sinisierten Buddhismus) verwendet. 17) Vorsicbtsmaßnabmen In einer so «verkettcten» Welt unterliegt alles den gleichen Gesetzen und hat alles im Himmel, in der Natur und unter den Menschen seine analoge Ord— nung; nichts ist zufällig, nichts darf aber auch dem Zufall überlassen bleiben; daher das reiche Regelwerk von Verhaltensanweisungen für die private und die Öffentliche Sphäre. Wer sich nicht daran hält, ruft «luan» (Verwirrung, Unordnung) hervor und muß zur Rechenschaft gezogen werden: nicht weil er für eine «Schuld zu sühnen» hat (dieser Begriff ist so gut wie unbekannt), sondern weil das Gleichgewicht im Sinne analoger Ordnungen wiederhcrzu- stellen ist. Da für die Bauernbevölkerung freilich das kühle Wirken automatischer Ausgleichsmechanismen und strenger Analogien schwer nachvollziehbar war, stellte sie sich diese Kräfte lieber als persönliche Wesen (Geister, Dämo— nen, Animae) vor. Was konnte man tun, um die Mächte der Natur und die Von ihnen verkörperten Geister und Dämonen wohlwollend zu stimmen? Wie kann ich wissen, daß ich mich nicht auf einen Dämonen niedersetze, der es sich gerade in der Ecke bequem gemacht hat und der nun für eine solche Beleidigung Rache nehmen könnte? Was sind die Folgen, wenn ich eine Kersähre hastig abschneide und dabei die Reisscele erschrecke? Immer und überall gilt es auf der Hut zu sein: Man bewegt sich zwischen den «Animae» Wie in einem Laden, der mit Gläsern und Porzellangefäßen vollgestellt und 42 Asien und «der Westen» in dem tunlichst jede hastige Bewegung zu vermeiden ist. Gläser und Por- zellanvasen sind greifbar, und man kann sie stets im Auge behalten, die Gei— ster dagegen sind es nicht. Was bleibt also anderes übrig, als ihnen mit «Ge— spür» und «innerem Radar» zu begegnen? Wie aber kann ich wissen, ob ich mich zwischen dem «Porzellan» auch richtig bewege und «Scherben ver- meide»? Vor allem die javanische Kultur hat hier besonders feine Antennen ent— wickelt. Man kann die dortigen Denkgewohnheiten folgendermaßen aus— drücken: Angesichts der analogen Verkettung aller Ursachen und Ereignis— abläufe «erspüre» ich aus der Unruhe in meinem Inneren oder aber aus der Aufgeregtheit meiner Umgebung, daß auch die Welt der Geister in Aufruhr ist. Fühle ich mich umgekehrt mit mir selbst eins und erlebe ich Harmonie mit meiner Familie, meinen Nachbarn und meiner dörflichen Umwelt, so weiß ich, daß auch kein Dämon (und damit auch keine Naturgewalt) etwas gegen mich im Schilde führt“. Dieses von meinen Vorfahren ererbte «Wissen» liefert mir die Maxime meines Handelns, die nämlich in dem kategorischen Imperativ besteht, um jeden Preis zu vermeiden, daß Konflikte an die Oberfläche treten. Stürme dürfen erst gar nicht aufkommen. «Harmonie» wird hier zum obersten Ge- bot, vor dem alle anderen, im übrigen noch so anerkannten Werte zurücka treten haben. Um etwa der «Gerechtigkeit» willen einen Prozeß vom Zaun zu brechen und damit Streit unter meine Nachbarn hineinzutragen, wäre ein unverzeihlicher Verstoß gegen die Gesellschaftsordnung. je animistischer also eine Lebensordnung ist, um so vorsichtiger, ja ängst— licher — und am Ende auch harmoniebedachter —— bewegt sich der einzelne, um wenigstens das Seine zur Harmonie beizutragen und dadurch vielleicht auch die natürliche und die numinose Welt zum Wohlverhalten zu zwingen. Hier liegt die Wurzel des «guten Vorbilds», dem vor allem in der konfuziani- schen Welt magische Bedeutung zugemessen wird. Je säkularer und naturwissenschaftlicher umgekehrt die Welt interpretiert wird, um so selbstbewußter, berechnender, planender und entschlußfreudi- ger geht der Mensch vor. Er kennt seine Umwelt und nimmt notfalls auch Konflikte in Kauf, sei es nun aus egoistischen oder auch aus durchaus mora— lischen Erwägungen. Hierzu drei Beispiele: Ein westlicher Entwicklungs— helfer geht vor Gericht, um die Einhaltung von Zusagen zu erzwingen, die ihm um des lieben Friedens willen ursprünglich gemacht, dann aber nicht eingehalten worden waren; er zeigt einen Dorfvorsteher bei den Behörden an, weil dieser Entwicklungsgelder der Regierung in die eigene Tasche ge- steckt hat; er legt sich mit einer Dorfgemeinschaft über technische Fragen elnes Kanalisationsprojekts an. In allen diesen drei Fällen pocht er ganz ge- Wlß auf Werte, die in allen asiatischen Gesellschaften anerkannt sind, wie Gerechtigkeit, Ehrlichkeit und Wahrheit; am Ende aber bleibt er moralisch doch im Unrecht, da er die oberste aller Wertkategorien, nämlich das Har- 11. Der eigentliche Unterschied: Ganzheitlicbkeit 43 monieprinzip, verletzt hat. Sein Verhalten wird damit verwerfenswert, auch wenn seine Absichten noch so lauter und seine Schritte noch so «korrekt» gewesen sein mögen. Nirgends in Asiens, und schon gar nicht in Java, wird ihm nämlich das Recht zugestanden, autonom, d. h_ unter Berufung auf sein eigenes Gewissen, zu entscheiden, ob er der «Gerechtigkeit» notfalls auch auf Kosten der Harmonie die Ehre geben darf. Das Gebot, Störungen der Harmonie zu vermeiden, ist der individuellen Disposition entzogen, wo— durch letztlich freilich auch die Moral relativiert wird7. Zwei Prinzipien sind in der javanischen Gesellschaft von alles überragen- der Bedeutung, nämlich Konfliktvermeidung und Rangrespektierung, wo- bei für letztere ein Repertoire streng stilisierter Sprach- und Gebärdeforrnen zur Verfügung steht. 50 stark ist das Bedürfnis, soziale Mißklänge zu vermeiden daß man selbst dann ja sagt, wenn man nach Lage der Dinge eigentlich mif Nein ant— worten müßte. Im ]avanischen gibt es sieben Arten des ]a—Sagens, deren Be— deutung von ja über vielleicht bis hin zu nein reichen kann. Spitzt man das Problem zu, so kann man es in die Frage kleiden: Soll ich ehrlich (treu, gerecht usw.) oder aber harmoniebedacht sein? Die traditio— nelle asiatische Antwort fiele allemal in letzterem Sinne aus. Dieses existentielle Harmoniebedürfnis ist ein idealer Humus für konser- vatives Denken: Wer Konflikte vermeiden will, renne bitte nicht gegen Ka- sten—, Familien-, Clan- und Danwei—Ordnungen an. Warnend heißt es sogar manchmal: «Kastenordnung oder Anarchie», wobei vorausgesetzt wird, daß die Kastenordnung keine menschliche, sondern eine göttliche Stiftung sei. 3. Die «Drei Harmonien» Entsprechend dem vor allem in der konfuzianischen Tradition beheimateten Dreiklang «Himmel, Erde, Mensch» seien nachfolgend drei Exemplifizie— rungen des ganzheitlichen Umgangs mit dem Mitmenschen, mit der Natur und mit dem Ubersinnlichen gegeben. 4) Im Einklang mit der menschlichen Umwelt Eine Warnung vorweg: «Sanfte» Konfliktbewältigung ist keineswegs Kon— flikt105igkeit, wie eine Rundfrage in dem äußerlich so harmoniebedachten Malaysia8 gezeigt hat. Eine Grundvorstellung bei den Befragten war der Wett- bewerb um ein gleichbleibend großes Stück Kuchen, von dem eine wachsende Zahl von Konkurrenten zehren möchte. Die Menschen befänden sich dabei in einem steten Uberlebenskampf; von Natur aus seien sie schlecht, verstünden es aber, ihre wahren Absichten hinter einer Höflichkeitsmaske zu verbergen. Außerhalb der eigenen Familie gebe es keine Moral; man handle nicht nach 44 Asien und «der Westen» den Befehlen des Gewissens, sondern nach äußerlicher Schicklichkeit. Die Regierung Sei gut beraten, wenn sie vor allem die Polizeifunktionen des Stan- tes stärke. Gleichzeitig gaben die Befragten aber auch zu, daß angesichts die- ser durch begrenztes Güterangebot, wachsenden Wettbewerb und soziales Mißtrauen gekennzeichneten Grundbefindlichkeiten der Bedarf an Mecha— nismen der Konfliktvermeidung steige. Ob «Harmonie» aus edler Absicht, aus Berechnung, Trägheit oder aber Opportunismus geübt wird, spiele letze lich keine Rolle — Hauptsache, sie sei da. Wie der «Harmoniebedarf» zu ganzheitlichem Verhalten führt, sei anhand einiger Beispiele angeführt: Während der westliche Mensch bereit ist, in mehrere gesellschaftlichc Rollen zu schlüpfen, bei umerschiedlichen Sachzwängen Rollendissonanz in Kauf zu nehmen und überhaupt eine rational durchorganisierte Gesellschaft zu akzeptieren, strebt der Durchschnittsasiate nach Rollenkonkordanz und möchte eher einer organisch gewachsenen und überschaubaren Wir—(ie— meinschaft angehören. Den «Einzigen» im Sinne eines Max Stirner gibt es unter diesen Umständen in Asien genauso wenig wie die «blauen Ameisen». In den überschaubaren Kleingruppen der Dörfer, Betriebe und Nachbar schaften würde kaum jemand eine 51—%—Demokratie akzeptieren. Statt des— sen wird der Konsens aller, aber auch wirklich aller Mitglieder angestrebt, wobei zeitaufwendige Harmonisierungsprozesse nötig sind, z.B. das javani— sche Musjawarah, die Ringisei-Praxis im japanischen Industrie— und Behör— denbetrieb und nicht zuletzt das so unendlich häufige und manchmal auch lästige chinesische «Kaihui» («Versammlungen abhalten»). Ganz im Gegensatz zum Westen wird in Asien ferner selten zwischen Pri- vat— und Geschäftsfragen getrennt. Beziehungen aller Art, ob im Betrieb, im Behördenalltag oder in der Nachbarschaft, sind vielmehr primär personaler und erst in zweiter Linie sachlich—funktionaler Art. Kein Wunder, daß der «Personalismus» in all seinen Ausprägungen, vom Nepotismus bis hin zur Patronage, als normal gilt! Harmoniegefährdende Situationen werden entweder durch Einschaltung einer dritten Person oder durch strikte Ritualisierung entschärft. So ist der Mittelsmann ein panasiatisches Faktotum, das bei Schlichtungen und schwierigen Geschäftstransaktionen ebenso in Erscheinung tritt wie bei heiklen Ehestiftungen. Was die Ritualisierung anbelangt, so hilft sie auf subtile Weise Streßsitua- tionen zu entschärfen. Die Trauer der Hinterbliebenen zum Beispiel hat sich vor allem in korrekten Zeremonialabläufen zu äußern, nicht in individuellen Bekundungen, die ja allenfalls andere Gemeinschaftsmitglieder «belasten>> würden. Auch sonst geht es wesentlich ganzheitlicher zu als im Westen, 50 z. B._beim Lernen, das fast immer in Gemeinschaft erfolgt. Hier wäre erstens das auch heute noch weitverbreitete Meister-SchüleF Verhältnis als Beispiel zu nennen, das nicht nur im Hinduismus oder in den [I. Der eigentliche Unterschied: Canzbeitlicb/eeit 4} Pesantren (muslimischen Internaten Mala sias ' dern sich sogar im revolutionären ()3hina fiat h:?lftii lt?jäeiielterlebt, T3”?— 5Piel bet der Vermittlung der traditionellen Medizin die erad 59 Zäm le!- Mao Zedongs eine so erstaunliche Wiedergeburt erfahreä hat eIim elta Fed hier zum Nachahmen eines majestätischen Lehrers. Einem Al' erSlfn vi," wie Arthur Koestler9 wurde höchst unbehaglich zumute llen_ :epltiker einer solchen Guru/Schüler—Situation konfrontiert sah Ei fis er "SAC ' mit Hmel tm südindischen Kerala gerade an seinem Schreibtisch f7tlte m “nem men, als die Tür sich öffnete und ein Inder ihn bat der hoh ?; geno"m- doch bitte seinem Sohn erlauben, eine Zeitlang still in seiner Iil"hast m°ge weilen. Typisch der nun folgende Kommentar: «Die ganze Zeita e zu Vi" auf dem Boden hockende ]üngling den Blick seiner großen Baritf>il-Äe er nicht von mir ab. Sie schlürften meine schweißtriefende Erscheinl ng?" Sie höhlten mich aus, sie hingen an mir wie elektromagnetisch Bxlng eul, Ob ich lächelte oder finster drein sah, ob ich schrieb oder ur elete Uteghe . für ihn keinen Unterschied: Alles war geistige Bereicherugn gEr ‚sarfiac td saugte und labte sich wie eine Zecke im Hundefell. Ich hatte äiohl über Tö- g15 gelesen, die in Himalaya-Höhlen mit ihren Gurus lebten und 1 Jahre lang me das Wort an ihn richteten — aber erst jetzt, unter dem hy nofischen Blick des Jungen, begriff ich die symbolische Wechselbeziehungp zwischen Schüler und Meister und fand sie recht unbehaglich.» In Asien hat der Leh- rer vor allem ein persönliches und erst in zweiter Linie ein fachliches Vor- bild zu sem (Näheres S. 194 f.). Ähnlich ganzheitlich wird auch die Eltern- rolle gesehen. Zweitens ist das Lernen nicht nur ein analytisches Durchdringen des Stoffs, sondern ein intuitives Erfassen und Erfiihlen, ja «Eintauchen» in die Materie (Näheres dazu unten S. 189ff.). Daher die weitverbreitete Neigung Texte auswendig zu lernen und so ein Gespür für das Erlernte zu erlangeni Schriftzeichen etwa werden im metakonfuzianischen Kulturkreis zunächst einfach nur gepaukt, wobei der Lehrende von der Erwartung ausgeht, daß die Stimmungen und Schönheiten des Ideogramms dem Schüler eines Tages schon noch aufgehen. Bezeichnenderweise erfolgt dieses Einpauken häufig mchtsolo, sondern in Gemeinschaft mit anderen. Drittens aber werden die Unterschiede zum Westen deutlich bei der Suche nach einer Definition des «gebildeten» Menschen. Im Westen ist er im allge— me1nenern Wissender, in Asien dagegen ein Bewahrender (Konfuzianis- mus), em Entsagender (der Hindu in seinem vierten Lebensabschnitt), ein Dlenender (Maoismus) oder ein Ergebener - man denke an den gläubigen Mohammedaner. Fast immer haben diese Eigenschaften Gemeinschaftsbe- Zug, vor allem im Konfuzianismus. Darüber hinaus war bis in die jüngste Zeit hinein das (ebenfalls ganzheitliche) Amateurideal verbindlich, sei es nun beim konfuziariischen Mandarinat, beim japanischen Schwertadel oder in den Hindu— und Islamschulen, deren Lehren nie bloßer «Religionsunter— Asien und «der Westen» richt» waren, sondern die stets engsten Kontakt zwischen Alltagsleben und Religion herstellten, ja deren eigentliche Legitimation auf der traditionellen Überzeugung beruht, daß nur die Heiligung des Alltagslebens den Men- schen zum Besseren führen kann und daß bloßes Fachwissen des Teufels ist_ Die Gemeinschaftsbezogenheit wird auch deutlich im Bereich der Heil— kunst, die zumindest traditionell in Asien noch eine echte Human- Und nicht eine Apparate— oder Pillenmedizin ist. Die beiden Hauptunterschiede zwischen westlicher Schul- und asiatischer Ganzheitsmedizin bestehen darin, daß nach traditioneller p;masiatischer Auffassung Krankheiten selten allein durch physische Ursachen hervorgerufen werden, sondern auf vielfa— che Einflüsse zurückgehen, die psychosomatischer, psychosozialer, ja manchmal «kalendarischer» Natur sind; kein Wunder, daß Heilung sowohl durch Medikamente als auch durch Gesundbeten herbeigeführt wird. Kran- kenhäuser waren jahrehundertelang in Tempeln untergebracht, das Heilwe_ sen wurde vielfach von Mönchen ausgeübt, zum Beispiel in der tibetischen Medizin. Zweitens kann Heilung nicht mit nur punktuellen Eingriffen in den Körper des Kranken, sondern muß ganzheitlich erreicht werden, d.h. durch Benutzung pharmazeutischer, magischer und in jedem Fall auch so- zialer Mittel. In tote beispielsweise wurde der Mensch «erfaßt» durch die alte singhalesische Zauberheilung, deren Hauptelement darin bestand, daß der Kranke im Kreise der Dorfbewohnerschaft die ganze Nacht lang im Freien zu verharren hatte, wobei die grell bemalten Masken der 18 Krank— heitsdämonen an ihm vorbeitanzten. Von dieser Prozedur mußte unbedingt Heilung ausgehen. Hatten sich doch die Erwartungen des ganzen Dorfes auf diese Therapie gerichtet! Hier wurde nicht nur eine Spritze verabreicht oder ein chirurgischer Schnitt vorgenommen, sondern das ganze soziale Umfeld des Kranken zugezogen. Ferner waren im traditionellen Asien einige der in der westlichen Schul— medizin üblichen Methoden vollends verpönt, so zum Beispiel im konfuzia— nischen China die Chirurgie, die Verabreichung von Spritzen oder Impfun— gen, Weil man die Vorstellung hatte, der Körper gehöre den Eltern; Eingriffe liefen auf eine Pietätlosigkeit ihnen gegenüber hinaus. Selbst ein aufgeklärter Intellektueller wie Gandhi ließ es nicht zu, daß seine Frau, die an einer Bronchialinfektion sterbenskrank daniederlag, Penicillin erhielt, wobei er die Weigerung mit einem entsprechenden Hindu—Tabu begründete. In China versucht man auch heute noch, den Körper eher durch Anregung der eige— nen Abwehrkräfte von innen her (zum Beispiel durch Akupunkturb€hand' lung oder Moxibustion) als durch Einschnitte von außen her zu heilen. Die chinesische Volksmedizin arbeitet mit Rezepturen, die bis heute, wenn den meisten auch unbewußt, von «Verkettungs»—Regeln (Himmel/Erde; Näheres dazu oben S. 40) mitbestimmt sind. Medizin erhielt zudem im maoistischen China noch eine politische Dimen— sion, insofern nämlich Millionen von Menschen zur Durchführung hygieni' II. Der eigentliche Unterschied.“ Ganzheitlicb/eeit 47 scherGrundregeln «mobilisiert» und Hunderttausende " auf die Dörfergeschickt wurden, die zugleich auch eine]on lißarfUßar'2tén» hatten. «Arzt» ist eben nicht einfach nur ein Beruf send pd0 1U$Cl_le MIS'S.IO}I ges Spektrum ab, zu dem früher auch noch Zauberei ueiinMedl‘lt ein v1elfalti- Besonders deutlich pflegt im allgemeinen das Befreriid 3816 geh0rten- Durchschnittsasiate dem neuzeitlichen Individualismus en ZU sem" das d'er Hauptthema der asiatischen Tradition war das Verlan entgegenbrmgt. El'n nicht nur mit dem Nächsten und der Natur, sondern augfin n'aCh Harmonie gen..Makro- und Mikrokosmos, Himmel und Erde Gätt mitdde Jensem_ hen in engem Bezug zueinander. Nichts ist in dieseni analo un' MCHSCh Ste- bild, Wie oben ausgeführt, zufällig oder isoliert. Vereinzelglsmrffnd'en W€lti als unglückverheißend, im Buddhismus als «leid»—verursaulig gdllt m China als Irrtum .— im Sinne von «Maya» — interpretiert. GlaubeC end" Oder erd emermdwduellen Seele ist sowohl nach buddhistischer 1 an 16 SUb5ta'nz duistischer Uberzeugung eine der drei Ursachen, die das feidaucllll n8Ch hm- Wiedergeburt» in Bewegung halten. Der Mensch wird als Divo'de «Rad'der als In-d1viduum begriffen. Die allseitige Rückbindung in der V} films, m€ht zelne befindet, läßt es ratsam erscheinen, alle Extreme und €}C J'e' er€1n' zu vermeiden, da sie ja nur zu entsprechenden Gegenausschléfnselfl'gllfelten sei es im Gefolge der Yin—Yang-Dialektik oder aber der Ver eltguen k renl'_ tat des Karma. Allen asiatischen Wertesystemen ist das Grunäbedrjgfs 'ausa h Gle1chgewichtigkeit und nach einem «Weg der Mitte» eigen — sd1 zms [Bac' spiel im chinesischen «Zhongyong». Jede Einseitigkeit wie etwa dilemB el- nung des Verstands auf Kosten des Gefühls oder einei einzi en men iii?- chen Charaktereigenschaft auf Kosten der anderen sind verpörgiti Auch? '1- tische Lebensweisheiten, wie sie in bibliophilen Ausgaben in'unzählisijri Auflagen auf den westlichen Buchmärkten erscheinen, kreisen fast imr%ier \Il)mldll{e'«Mltte'» und das Ganze und sind von einer alles durchdringenden Frleaui1 tikhbestimmt ... nach dem Schema: Kein Glück ohne Unglück, keine H“ de 0 ne Leid, kein ‚Licht. ohne Finsternis, alles hat seinen Preis. Für den selllr;ir;iuirilnddden Buddh15ten ist Glück und Freude nur eine Augenblickser— di g, . ie von einer trugenschen Scheinwelt vorgegaukelt Wird und auf Wil? Rzrgtlelisrittlenllilgakxtliitt)il(gielben kä‘ln, wie sie der Vertreter einer ganz anderen Eitelkeit über Eitélkeiten jin « vanlit?s vamtatum et omnta vamtas» (Oh Um d' Ab kl“ ‚_ es _ist cite) ormuliert hat. “ rer-seits liseer«aucgekegrtheig» ward Amen haufig bene1det. Dafur hat es ande— Kam und aueh — Dimnen' eeä oven oder Bach, keinen Rembrandt, keinen bus oder Fritjof Nanse;nsfn es VZillens. — keinen Vasco da Gama, Colum- Sentative westliche V n ervorge racht, um hier nur einige wenige reprä- Und Willenswelt zu ertreter 2rlier ausdifferenz1erten Gefuhls—, Verstandes— Wegen seiner Aus e rliier}ilner}il. . fetchze1t1g erscheint der Durchschmttsasiate 'Chkeit nicht besogflg c en eit ur den Europaer im allgemeinen als Persön— ers interessant. 48 Asien und «der Westen» b) Im Einklang mit der Natur? Drei Haltungen gibt es gegenüber der Natur: Man unterwirft sich ihr, man «macht sie sich untertan» oder man lebt in Harmonie mit ihr. Das erste ist der frühanimistische, das zweite der westliche und das dritte der traditionell- asiatische Weg, der sich verkürzt mit den zwei Formeln «Einfügung in die Natur» und «Die Natur noch natürlicher machen» umreißen ließe. Was Einfügung » oder besser das «Einschmiegen» — in die Natur bedeutet, Wird nirgends deutlicher als in der ostasiatischen Architektur und Land- schaftsmalerei. Man denke an die bezaubernden Teehäuser von Kyoto und an die Pavillons von Suzhou sowie an die «Shanshui» (wörtl.: Berg-Wasser)- Tuschspiele, auf denen der Mensch neben Kiefern, Felsen und Wasserfällen nur als einer von vielen Darstellungsgegenständen erscheint. Er tritt nicht Wie in der Renaissance in den Vordergrund, sondern ist Partikel einer allum— fassenden Natur und einbezogen in das Gefüge der Polaritäten: von Himmel und Erde, Fels und Baum, von Festgefügtem und Schwebendem, Alltägli— chem (Fischer bei der Arbeit) und Numinosem (Tempel auf einem nebelum— hüllten Felsgrat), von zehntausend Dingen und dem Leeren. Schöpfungsfrömmigkeit auch gegenüber Flüssen, Bergen, Pflanzen und Tieren: Heilig sind Flüsse, allen voran der Ganges, der vom Himmel auf die Erde heruntergefallen und dort vom Haupte des Shiva aufgefangen wurde, von dem nun «reinigendes» Wasser ausströmt, in dem der fromme Hindu sich badet und den feinen Sündenschmutz wegwäscht. Und was für den in— dischen Hindu der Ganges, ist für den nepalesischen Hindu der Pashputinat. An all diesen heiligen Flüssen werden die Toten verbrannt und ihre Aschem reste dem Wasser überantwortet. Auch das Weihwasser spielt eine überra— gende Rolle — wahrscheinlich hängt dies mit der Gangesverehrung zusam— men. Den Thais gilt der Menam Chao Phaya, den Birmanen der Salween und der Irrawady als heilig, den ]apanern der Fluß Isuzu, der das Gelände des heiligen Schreins der Sonnengöttin in lse durchströmt, und dem chinesi— schen Daoismus die drei Hauptflüsse Nordchinas, die zugleich symbolisch sind für die ersten drei Dynastien, nämlich der Luo (für die Xia—Dynastie) der Gelbe Fluß (für die Shang) und der Wei (für die Zhou-Dynastie). FärbIe sich das Wasser rötlich, so deutete sich damit Unglück für die Dynastie an. Alle Flüsse im alten China hatten ihre Flußgötter, denen lange Zeit Men» schen geopfert wurden. Einer der wichtigsten Bauerngötter Chinas, der re» genspendende Neunköpfige Drachen, stammt ebenfalls aus der Welt der Flüsse und Sümpfe. Überall in Asien ist auch die Verehrung heiliger Berge heimisch - man denke an die mit daoistischen Schreinen gespickten «Fünf Heiligen Berge Gh1nas», den Taishan (im Osten), den Hengshan (im Süden), den Huashar1 ("“ Westen), den Hengshan (im Norden) und den Songshan (in der Mitte) Sow1e an den Kunlun im fernen Westen, an dessen Flanke der Gelbe Fluß II. Der eigentliche Unterschied: Ganzheiilicbkgi; 49 entspringt und auf dessen neun Etagen zahllose Götter leben um 'h Xiwangmlh die «Westliche Königsmutter». Weltberühmt auch d er" 1 man sche Fuji—san, dessen maiest'a'tisch gleichmäßiger Kegel und de er lépädl- ßen Quellen und rauchenden Schlünden gespickte Vulkanu Ssenbmit dei- Landschaftsbild im mittleren Honshu bestimmen. Dem Hind mge ung das im Himalayamassiv gelegene Kailash heilig, den der Gläubi lemlils ist“her voller Pilgerreise im Uhrzeigersinn betend umschreitet und tiger Ziin Dlrubifd aller hinduistischen Bergkulte sowie zum Aug ‚ . . . . —;,an ’S u k Tempelarch1tektur geworden ist. & P n t der hmdu15t15chen Auch in Südostasien sind überall Bergkulte verbreitet was an ' h d imp053n_ten .— und numinosen — Vulkanketten eigentlich nicht gviil'f “ ff Wunderlich ist. Auf dem Adams—Peak in Ceylon werden die F ß 1bfir"vek Adams, Vishnus und Gautama Buddhas gezeigt. In der hinduistius fi rfäc e mologie wird das Zentrum der Welt durch den heiligen Berg Merü erb'ld)st- der von sieben Meeren und sieben Landringen umgeben ist und aiiedl ei, steil nach oben wachsenden Flanken die Götterwohnungen auf esetzt 223“ die niederen Gottheiten weit unten, die höchsten Götter ganz Eben Dieses Meru—Schema, das vermutlich im Gefolge der Kailash—Veri*hruhg entstand ‘n ist, wurde zum Vorbild für buddhistische und hinduistische Heili tümer (fi ebenfalls in Meerorm, d. h. bergartig, aufgeschichtet sind. g ’ € Auch Pflanzen, vor allem Bäume, gelten vielerorts als heilig. Weit verbrei— tet sind Baumkulte, so zum Beispiel in Indien und in Südostasien wo der heilige Bo—Baum, unter dessen Zweigen Gautama Buddha seine Erlduchtung fand, vor keinem Tempel fehlen darf. Verehrung genießt auch der Banyang— Baum, der sich durch Absenken seiner Zweige seitwärts immer neue Wur- gelstände schafft, bis er schließlich — ein einziger Baum ‚ ein ganzes Dorf uberwachsen hat. Uberall an seinem Hauptstamm finden sich Opfergaben aufgestapelt: Der Baum ist ein göttliches Wesen! In japan besteht die schöne Sitte, einen besonders charaktervollen Baum mit einem vielfach gezwirnten Seil zuumspannen und ihn damit als verehrungswürdig zu kennenzeichnen. Als heilig gilt ferner der Sakaki—Baum, der im Legendenkreis um die Son— nengottmeme prominente Rolle spielt. Mit seinen Zweigen vollzieht der Shmto—Pr1ester über dem Neugeborenen oder über dem Brautpaar apotro— %äscäe Bewegungen. In ‚Ghina ist die Akazie der Gegenstand fast religiöser henezr}ulrig. lm Schremgemet von Qufu, dem Geburtsort des Konfuzius, ste— 200013}, ose Gut—Baume, die zum Teil schon in der Han—Zeit, also vor etwa BUCth ren, gepflanzt wurden. Ferner besitzen derAhorn, der Bambus, der mone ;'UIIII),Hd8r Holzolbaum (Tong), die Kastame, die Kiefer, die Persi— Bedeiitule aume, die Weide, der Zimtbaum und die Zypresse symbolhafte reiner SiIt'1gelgi.dSymboltrachuge Pflanzen Sind des weiteren der Lotos — als L0rbeer 2 du dhas uber dem Schmutz der Erde —, die Chrysantheme, der Ausdau6l:lfl vor allem der Bambus, der als Symbol der Standhaftigkeit und ast in keiner kunstlenschen Darstellung Ostasiens fehlt. ;0 Asien und «der Westen» Anders 315 bei Flüssen, Bergen und Pflanzen gibt es keine einheitliche Hal» tung «Asiens» zu den Tieren. Zu den tierfreundlichsten Religionen gehören ganz sicher der Buddhismus, derjeumsmus und der Hinduismus; beim Bud» dhismus hängt dies mit dem Seelenwanderungs—, beim Hmdu15mus‘ vor allem mit dem Alleinheitsglauben zusammen: «Alles ist Gott» — auch das Tier; mit ihm lebt man im ländlichen Indien wie mit Hausgenossen — mit Kühen so— wieso, aber auch mit Hühnern, Zikaden und Kakerlaken Vor allem nachts verwandelt sich das Haus in eine raschelnde, zirpende und bellende Ge— räuschkulisse. Diese Koexistenz hat nichts mit sentimentaler Tierliebe zu tun; dies weiß jeder, der einmal einen indischen Zoo besucht hat oder Zeuge war, wie unsanft Bauern bisweilen mit ihren Zugtieren umgehen. Tiere gehören auch überall zur religiösen Aura, sei es nun als Reittiere der hinduistischen Götter, als fauchende Schlangen und Drachen an Tempeleingängen oder aber als lebendige Schildkröten, die in zahlreichen daoistischen Tempeln als Sym» bole der Langlebigkeit gehalten werden. Einem noch tief in der aniniistisehen Tradition verhafteten Politiker wie Sukarno gingen bei der Bandung—Konfe— renz von 1955 folgende Vergleiche leicht von den Lippen: «Wenn der Drache Chinas mit der Heiligen Kuh Indiens zusammenarbeitet, die Sphinx Ägyp tens mit dern Pfau Birmas, der Weiße Elefant Siams mit dem Phönix Vietnarm, der Tiger der Philippinen mit dem Banteng—Büffel Indonesiens — dann wird der internationale Imperialismus und Kolonialismus ganz sicher vernichtet werden.» In Ostasien allerdings hat man dem Tier gegenüber eine meist utili— taristischere Einstellung und fragt nach der Eßbarkeit. Aber auch hier Wäre niemand auf die cartesianische Idee von der «Maschinenhaftigkeit» und «See— lenlosigkeit» eines Tiers verfallen. In manchen asiatischen Kulturen findet eine bemerkenswerte Vergewaltk gung der Natur statt — aber nicht, um sie zu denaturieren, sondern um sie «noch natürlicher» zu gestalten: Dies gilt für China, vor allem aber fürjapan mit seiner Bonsai— und Ikebana—Tradition. Im ganzen konfuzianischen Kul— turkreis wandert man nicht durch natürliche, sondern schlendert durch «künstliche Natur» wie Parkanlagen und Miniaturgärten, deren Reiz darin liegt, daß mit einem Maximum an Künstlichkeit ein Optimum an «Natur» lichkeit» geschaffen wurde. Die Umgebung taucht in Form der sogenannten geliehenen Landschaft auf, die den bewußt perspektivisch gewählten Hinf tergrund vieler Gärten in Kyoto oder in Suzhou bildet. Und das Verhältnis Asiens zur Wissenschaft? Wissenschaft war dort, anders als in Europa, nie der Versuch, die Natur zu beherrschen, sondern mit ihr in Harmonie zu treten und die Bestätigung der Einheit zwischen Mikro— und Makrokosmos zu erhalten. Das Interesse galt in der Regel nicht den physischen, biologischen oder soziologischen Details, sondern den Beziehungen zwischen diesen einzelnen Erscheinungen. Nach chinesischer Auffassung mußten ja die fünf Elemente in genauer EntspR” Y [I. Der eigentliche Unterschied: Ganzheitlicb/eeit }! chung zu den fünf ]ahreszeiten, den fünf Stimmungen, fünf Richtungen usW- gebracht werden. Diese ganzheitliche Einstellung verbot jegliche Ent- tabuisierung der Natur, wie sie beispielsweise durch die christliche Ethik ge— fördert worden ist. «Wissenschaft» darf sich nie von ihrer Umgebung — vor allem auch nicht der Religion — abschotten. Im Hinduismus und im Islam kann sie am Ende nur Ergebnisse hervorbringen, die in den heiligen Offen— barungen ohnehin längst angelegt waren. Selbst Kernspaltung und I..aser_ technologie wären nach dieser Lehre nichts anderes als eine Art Wiederent— deckung. Ein Europäer fragt sich immer wieder erstaunt, wieso China und Indien ihre zahllosen Basiserfindungen nicht weiter ausgebaut und nutzbrin— gend umgesetzt haben. Die Chinesen haben ja bekanntlich lange vor den Eu— ropäern das Papier, den Kompaß, das Schießpulver, die Porzellan— und Sei— denherstellung, den Buchdruck und die Akupunktur entdeckt. In Indien gab es eine fortschrittliche Kalenderforschung und schon früh beeindruk— kende astronomische Erkenntnisse etwa über die Kugelgestalt der Erde, vor allem aber außerordentliche Leistungen auf dem Gebiet der Mathematik (Erfindung der Null, des Wurzelziehens und der Gleichungen z.(3rades‚ Ansätze zur Differentialrechnung und Trigonometrie. Nicht zuletzt stam— men auch die «arabischen» Zahlen aus Indien). Bedeutsam ferner medizini— sche und technische Entdeckungen, nicht zu vergessen auch die Sprachwis— senschaften und hier vor allem wiederum die Grammatik. Doch all diese Erfindungen wurden nur partikulär und zu gesamthaften Zwecken, jedoch nie um ihrer selbst willen entwickelt, so zum Beispiel Ma— thematik und Meßwesen für den Tempelbau‚ Astronomie (und Astrologie) für die Anpassung der menschlichen und politischen an die himmlischen Ge— setzmäßigkeiten und Geschichtsschreibung für die politische Legitimation. Es gab kein Bedürfnis nach Wissen um des Wissens und nach Erkennen um des Erkennens willen. Aber auch sonst bestand wenig Interesse an Innovationen, die ja erstens nur den Status der politischen Eliten gefährden und zweitens religiöse Tabus verletzen konnten — man denke an den Zorn, der durch neue hydraulische Erfindungen gereizten Boden— und Wassergeister; drittens aber bestand die Gefahr, daß das durch die Tradition einigermaßen unter Kontrolle gebrachte «Gleichgewicht» zwischen den Kräften schnell wieder in Unordnung gera— ten könnte. Außerdem war der «Fortschritt» im asiatischen Wertesystem nicht positiv besetzt: Der Hinduismus gebietet die demütige Hinnahme des e"genen Schicksals im Kastenrahmen, der Islam befiehlt die «Ergebung», der Konfuzianismus die permanente Selbstvervollkommnung im Rahmen der überkommenen Sittenordnung, und der Daoismus lehrt die Übereinstim— mung mit dem Natur—Dao, die man am ehesten durch Nichthandeln, d.h. durch Passivität, erreichen könne. Kein Wunder, wenn unter diesen Umständen Wissenschaft keine Eigenbe— deutung annahm, sondern stets in einem übergeordneten Rahmen eingebet— 52 Asien und «der Westen» tet blieb. Bezeichnenderweise gab es ja auch keinen «Wissenschaftler»; viel, mehr behielt das Amateuricleal bis in die iüngste Zeit hinein Gültigkeit. Dat mit blieb den Asiaten zerebrale Einseitigkeit wie auch der Glaube erspart‘ daß eine Darstellung um so wissenschaftlicher ist, je blutleerer sie zutage tritt. Soweit ein Asiate moderne Wissenschaft betreibt, dürfte er, von seiner hg- listischen Einstellung her, als Gestaltpsychologe, Biologe und Philologe er- folgreicher sein denn als Verhaltenspsychologe, Physiker oder als ein mit Phonemen und Morphemen arbeitender Linguist. (Weitere Einzelheiten zum Lernen und Erkennen sowie zum «ganzheitlichen» Raum— und Zeitver— ständnis vgl. unten S. 189ff.) c) Im Einklang mit dem Übersinnlicben Zumindest in drei Aspekten ist die asiati5che Haltung zur Religion weitaus undifferenzierter als die europäische: Da ist erstens die Großzügigkeit in der Abgrenzung zwischen den einzel— nen Religionen und Sekten. Einen Chinesen oder japaner zu fragen, ob er sich zum Buddhismus, zum Daoismus oder zum Shintoismus bekenne, läuft für ihn etwa auf dasselbe hinaus wie für einen Europäer die Frage, welche Blutgruppe er besitzt. Besonders großherzig ist hier der Hinduismus, der sämtliche Religionen als legitime Anleitungen auf dem Wege zum «All—Ei- nen» anerkennt und insofern unbegrenzte Glaubenstoleranz zeigt. Lediglich der Islam bildet hier eine Ausnahme, insofern er, ähnlich wie das Christen— tum und das Judentum, von Ausschließlichkeit im Dogmatischen und von Intoleranz gegenüber Andersgläubigen geprägt ist, ohne hierbei allerdings überall erfolgreich zu sein — wie das Beispiel java zeigt (5. unten S. 217ff.). Zweitens ist es im religiösen Denken Europas zu zahllosen Aufspaltungen gekommen. Aus einer ursprünglich allumfassenden Theologie, der die «artes liberales» (die freien Künste: Arithmetik, Rhetorik, Musik etc.) als «Mägdc» dienstbar waren, entwickelte sich nach und nach eine Fülle von Natur— und Geisteswissenwhaften: von der Schöpfung zur Evolution, von der Magie Zur Chemie und Physik, von der Astrologie zur Astronomie und letztlich zur Weltraumfahrt. Besonders bedeutsam aber ist eine dritte europäische Besonderheit. die Asien nie nachvollzogen hat, nämlich der Verlust des Numinosen: Wer ia eine daoistische «Baibai» (Prozession) in Taiwan, ein Krishna—cht in Indien. ein Schlachtfest zu Ehren der Schwarzen Kali in den Bergt'a'lern Nepals, eins“ von mai65tätischen Alphornklängen begleitete Mönchsandacht in l.haS-l oder eine Beerdigungszeremonie in Bali miterlebt hat, bekommt eine Ab- nung_für jenes Irrationale, «Ergreifende» und Numinose in der Religion, das Schle1ermacher, vor allem aber Rudolf Otto10 mit Ausdrücken wie «mai? stas», «Kremendum», «mysterium», «fascinans» oder «energia» umschreibß Y ”‘ Der Eigenfll'fhf’ Unterschied: Ganzheillz‘r‘b/eeit 53 um damit einen Gegensatz zu jenem rational abgeglichenen «Gott der Phi- losophen» herzustellen, wie ihn der gläubige Christ des Abendlandes seit dem Ende des Mittelalters zu verehren pflegt. In Asien dagegen ist die reli— giöse Ganzheit mit den großen Göttern, vor allem aber den vielen kleinen Geistern und Dämonen vollkommen präsent — und mit ihnen das ganze Reich des Animismus, das sich in einer Milchstraße von Abwehrmechanis— men, Verehrungsritualen, Wahrsagepraktiken und Tabus niedergeschlagen hat und auf die unten (S. 227ff.) noch näher einzugehen ist. Die panasiatische Vergangenheit war also durch Ganzheitlichkeit geprägt Wird sich demgegenüber in Zukunft der europäische Differenzierungsstil durchsetzen? Vermutlich wird es keine Entweder—oder—Entwicklung, son» dem eine gegenseitige Angleichung geben. Schon heute beispielsweise sieht die westliche Welt Veranlassung, sich verstärkt auf den Holismus zu besin— nen — man denke an die Quantentheorie, an das neue Umweltbewußtsein, an ganzheitliche Ansätze in der Medizin, an die Gestaltpsychologie oder aber an Phänomene, die einstweilen zwar noch zu den Randerscheinungen der Gesellschaft gehören, die aber doch gewisse Sehnsüchte nach Ganzheitlich— keit signalisieren — wie z.B. die zahlreichen neuen Religionen oder aber der psychedelische Erlebnishunger, der sich in so verschiedenen „ und meist höchst merkwürdigen — Formen ausdrückt. Statt eines einseitigen westlichen «Siegs» könnte es also durchaus zu Begegnungs— ja Kreuzungseffekten kom— men. Zweiter Teil Querschnitte durch die asiatischen Gesellschaften und Verhaltensstile I. Wie asiatische Gesellschaften aufgebaut sind Die Art und Weise, wie Menschen sich gesellschaftlich organisieren, beein- flußt auf fundamentale Weise ihr Verhalten in Familie, Dorf und Staat, aber auch ihr wirtschaftsgebaren. Es geht hier m. a.W. um eine zentrale Frage- stellung, die aus gutem Grund bei den nachfolgenden sieben Querschnitts- analysen an erster Stelle stehen soll. Die voneinander so stark abweichenden aSiatischen Organisationsprofile sollen dabei möglichst scharfrandig ge- zeichnet werden. Dabei stehen fünf Grundmusterpaare im Vordergrund. I. Straff und schwach gefiigte Gesellschaften China und Vietnam sollen hier als Beispiele für den «straff», Thailand und Malaysia als Vertreter des schwach strukturierten Typs skizziert werden: a) Straffgefügte Gesellschaften mit Danwei—Cbam/eter: der meta/eonfuzianiscbe Gesellschaftstyp Nirgends in Asien sind die Dörfer von alters her eigenständiger gewesen als in China und Vietnam. In beiden Ländern gibt es seit jahrhunderten einen ausgeprägten Dualismus zwischen der jeweiligen kaiserlichen Zentralbüro- kratie auf der einen und den weitgehend autonomen Dörfern auf der ande- ren Seite. Das traditionelle Dorf hatte der Zentrale gegenüber im wesentli— chen drei Pflichten zu erfüllen, nämlich Ruhe zu wahren. Steuern zu zahlen und gewisse Dienstleistungen zu erbringen, z.B. Mauern zu bauen, Kanäle auszuheben, bei den staatlichen Werften auszuhelfen oder aber Militärdien— ste zu leisten. Im übrigen jedoch «endete das Recht des Kaisers an der Dorf- hecke». Die Dörfer hatten ihr lokales Gewohnheitsreeht, ihren eigenen Dorfgott‚ ihren eigenen Ältestenrat, ihren höchst ortsgebundenen Ahnen- kult sowie ihr (zumeist in Tempel— und Schreinfesten zutage tretendes) alt— ehrwürdiges Dorfritual und bestritten im übrigen auch die eigene «Daseins— Vorsorge» sowie, in Zeiten der Gefahr, sogar die Dorfverteidigung — man denke an die mächtigen Wehrtürme in Guangdong. Bisweilen bestand, wie Zum Beispiel in weiten Bereichen Südchinas, die Idealgleichung I Dorf = 1 Clan, 1000 Dorfbewohner : 1 gemeinsamer Ahne. Nichts Zäheres ließ sich denken als der permanente Kampf der Dörfer gegen mandarinäre Beschrän- ungSVersuche, wie sie sich im Laufe der ]ahrhunderte unzählige Male wie— derhOlten. Was diese traditionelle Selbständigkeit des Dorfes auch heute 53 Asiatische Gesellschaften und Verbaltensstile noch so bedeutsam erscheinen läßt, ist die Tatsache, daß jeder Vietnamesc oder Chinese, der in eine Stadt umzieht, stets «sein Dorf mit sich herUm- „ägp‚_ Möglichst schnell schließt er sich emer_neuen «Grundemheir» _ chin.: «Danwei» # an, und zwar einer Fabrik, einer städtischen Nachbar. schaft, einer Universitätsfakultät oder dergleichen. Bei der Danwei tendieren Produktions— und Konsumtionsbereich 7‚ur Deckungsgleichheit. In den Städten brechen beide Bereiche zwar manchmal auseinander, insofern der einzelne dort nicht immer am gleichen Ort arbci- tet, wo er lebt, doch gehen auch in den heutigen Stadtgemeinden die Bemu_ hungen dahin, solche Trennungsfälle auf ein Minimum einzuschränken und überall «Siemens—Siedlungen» einzurichten. Selbst die größte Stadt der Welt, Shanghai, ist kein Ort anonymen Wohnens, sondern ein nach «Nachbar— schaften» durchparzelliertes und mit Nachbarschaftsbetriebcn gespickm Gmßzellengebilde, in dessen Untereinheiten jeder jeden kennt. Die Damwi fühlt sich nicht nur für die Produktion und Verteilung, Sicherheitsfragm, Freizeitgestaltung, Hygiene und «Kultur» verantwortlich, sondern kümf mert sich auch um das Privatleben ihrer Mitglieder und wird notfalls im Wege der Schlichtung (zum Beispiel bei einem Ehestreit) tätig'. Die Danwei begünstigt also die «Zellularisierung» der Gesellschaft, för— dert partikuläre Loyalitäten sowie «ethischen Relativismus» (man fühlt sich nur dem Danwei—Genossen, nicht aber der anonymen Öffentlichkeit im Transdanwei—Bereich verpflichtet), und sie sorgt durch ihre struktureigenen Mechanismen dafür, daß es Danwei—Demokratie und Danwei—Sozialpolitik gibt, während im Transdanwei-Bereich von Partizipation oder sozialer Un— terstützung nur ganz ausnahmsweise die Rede sein kann. Der Dualismus von Danwei— und Transdanwei-Bereich ist das Hauptstrukturmerkmal der metakonfuzianischen Gesellschaften. Wegen ihrer Überschaubarkeit vermiv telt die Danwei—Gemeinschaft eine Art Wir—Gefühl; auch ist sie örtlich stabil und auf lange Dauer angelegt: man stelle sich einen Augenblick lang vor, daß nur ein Teil der chinesischen Milliardenbevölkerung umzöge oder mit dem Privatauto einen Feiertagsausflug unternähme. Ein Zusammenbruch der In— frastruktur und der Benzinversorgung Wäre die direkte, eine Umweltkaia» Strophe die indirekte Folge. Kein Wunder, daß die mit Grundrechten sonst SO großzügig ausgestattete Verfassung von 1982 keine Freizügigkeit enthält. Zwei ]ahrzehnte lang versuchte Mao Zedong die altehrwiirdige Danwei« Autonomie durch Volkskommunen sowie durch Parteigremien auszuböh- len, die er wie Nägel in die Danweis hineinhämmerte, ohne sich allerding,S gegen den passiven Widerstand vor allem der Dörfer durchsetzen zu kim- nen. Hauptmerkmal der «Reformen», die Ende der siebziger jahre began- nen, war denn auch nicht von ungefähr die Re-Autonomisierung der Dörfer und Fabrikbetriebe. ' _ D‘e h06hgmdige Gerinnungsf'a'higkeit konfuzianischer Gesellschaften läßt Sich besonders deutlich auch unter den chinesischen Auswanderern n21Ch ], Wie asiatische Gesellschaften aufgebaut sind ;9 Südostasien beobachten. Schon kurz nach ihrer Ankunft kristallis' . h überall in Indonesien, vor allem aber in den Straits Settlements vol:ert)en 51c Georgetown und_5mgapur Vereinigungen herau5, die nach Verwa d enlinfg, landsmannschafthcher Herkunft, Dialekt oder aber auch Beruf “ tT_C da t, waren und die sich als Wohlfahrts— und Unterstützungs esellenhgig le er Provinzclubs (zum Beispiel gemeinsame Herkimft aus de? Proj'c a gen, a 5 dong), als Beerdigungsvereine, als Kaufmanns— und I-Iandwerkä"?ld „ang(; - nicht zu vergessen — auch als Geheimgesellschaften verstandeiglinegvglrcll’l letzterer Eigenschaft sie Schutzmaßnahmen ge en Üb . „ _ _ schen Bevölkerung trafenl. g erg“ffe der emheim1- b) Schwacb gefügte Gesellschaften.- der thera‘vadabuddhistiscbe und malaiisclae Gesellschaftstyp Eine ganz andere Welt betritt man in Thailand, das der Amth 1 Embree3 als Paradebeispiel einer «loosely structured society» entde ko l?ge Jeder gehe hier seinen eigenen Weg; es gebe kaum festen Zusarnmenhialtt alt. ten ein «Keep in line» und fast nie ein «Be on time». Undenkbar beis ‚'Sl _ weise, daß drei oder vier Thais, die nebeneinander auf der Straße daherkbe S: men, je in Gleichschritt verfielen. Die «schwache Fügung» be innt vi?e Embree feststellt, bereits bei der Familie. Zwar sei der Vater dorfdurdhads als Oberhaupt anerkannt, doch übe er seine Funktionen anders als in Viet— nam oder China, niemals patriarchalisch aus. Über die Ausdehnung der ei- genenVerwandtschaft bestünden höchst wolkige Vorstellungen — ganz zu schweigen von einem («konfuzianischen») Verlangen, mit «drei Generatio- nen unter einem Dach» zu leben. Angesichts des losen Familienzusammen— halts konnten Sich Eltern ihrer Kinder nie ganz sicher sein; eines Tages seien s1eeben einfach weg. Auch Ehen hielten nicht lange — eine Beobachtung die ubr1gens ebenso für Kambodscha und Birma4 gilt, besonders aber, für fiialay;1a, wo die Ehescheidungsraten in manchen Gegenden bei über 70 % gen . Bindungen mit Danwei-Charakter wird man auf Dorfebene vergebens su- Clllen. Dies gilt übrigens auch für den Großteil der malaiischen Welt, wo es 221:;g igä£ijääioÄialgieäe, also etwa auf Territorialität oder auf Blutsgemein— hUngen ibt (;i e in upgen,flsondern fast nur «dyad15che» (Paar—)Beue- jedem Fi“ ;b ie gai;zAaäi hpersonl1chen Sympath1en oder auf Berechnung, in deutl' h b . er au — oc-Uberlegungen beruhen. Dies w1rd vor allem _ IC ei der Untersuchung eines beliebigen Kampung, also eines lener gäizäeiain«gorferl»‚ddie in der Regel bandförmig entlang von Straßen und Wo das eing ;:)gt Sfln änd deren Bewohner selten genau zu sagen wußten, €reieh der ; o; » en et und das andere anfangt. Diffus auch der Einzugs- einem «Zemane nen Moscheen; vergeblich wurde ein Europaer ferner nach rum mit Kirche und Rathaus» suchen". 60 Asiatische Gesellschaften und Ver/mlwnsstz/e Manche Soziologen möchten am liebsten den «Dorf„-Charakter 501Cl‘“ sich überlappender Ansiedlungen überhaupt in Zweifel ziehen und statt des_ sen lieber von Bauernhausansarnmlungen oder Weilerkonglomeraten sprc_ chen. Sogar der Dorfvorsteher sei kein Bürgermeister im westlichen Sinne, da er - in Malaysia wie in Thailand — in erster Linie nicht die Einwohner vertrete, sondern sich eher als Auge, Ohr und Mund der staatlichen Bum— kratie verstehe. Verglichen mit Vietnam gibt es in der Tat wenig, was das n1;1_ laiische oder thailändische Dorf als solches zusammenhlilt: so fehlt es an „i. nem Dorfgott, an einem Dorfgewohnheitsrecht, an innerdörflichen Dauer gruppierungen, an Berufsverbänden, Dorfsolidaritätsgruppen oder gar an einer Einrichtung wie dem vietnamesischen Dinh, in dem die dörflichen Ver» Sammlungen und religiösen Feiern stattfanden, von Clanbildungen gam „ Schweigen. Der <n der durch einen Bericht des britischen Go calfe (1832) zu einem klassischen Topos geworden noch anhing, als er im Zuge der indischen L . ., okal f ' " ' einer «Herrschaft der Funferra'te» (Panchayati Rai)eu(hrtrelr (ilfllDoncer Wieder bei er von zwei unzutreffenden Erwartungen ausging närsnleichndwolllte‚ WO— , er utono- mie des Einzeldorfs und vom Ko ' ' - “senspfm21 ‚ als " - . . . tels Komprom1ß. P 0 der Ems“mmlgkeit mit- Die moderne Indienforschung hat demgegenübe beide Prämissen falsch sind: Erstens war das Pan ‘ leimge Form der dörflichen Selbstverwaltung all konnte Retzlaff7 vier Grundtypen ausfindig mach die Dorf-, die Einzelzweek— und die Schlichtun weg 011garchischen Charakter hattenx g weder gewählt waren noch deren Interes l’anchayat-Ideologie Gandhis gilt heutzut idylle». Zweitens aber ist die Autonomie des i (16. und i7.]ahrhundeit) (I7.Jahrhundert) erlosche rungsmodalitäten, die die den «kleinen Dorfrepu- uverneurs Charles Met— r feststellen müssen, daß h_ayat—System nie die al- ein in Nordindien etwa en, nämlich die Kasten-, . s—Panchayats, die durch- da Sie von den Dorfbewohnern sen als Gesamtheit vertraten. Die age eher als «demokratische Dorf- " ndischen Dorfs mit der Moghul- , spatestens aber mit der britischen Herrschaft n, und zwar aufgrund einschneidender Besteue- _ dörfliche Selbständi k ‘ " ' . g eit aushohlte . S‘h muslimischen Moghul—Eroberer hatten auf vier Ebenen — vonndercp(r)tr)lviinlj bi . . . füi- 2ägllzllt;trr;lu den Distukten —‘Beamte eingesetzt, deren Aufgabe es war, Erwiesen sich ;eg1;rurr{g;eweds einen bestimmten Steuerbetrag auszuheben. Zugsrechre 315 _ie unbtt)ionare als punktliche Zahler, so erhielten sie die Ein- seits Steuer äCh:ererZ ares — Steuerlehen. Häufig ernannten sie nun ihrer— dürchschlagsnd Wer (d ;}Sminldare) zu Hilfseintreibern, deren Effizienz so stem der M0 hu! ar, a Mitte des i7.jahrhunderts, als das Verwaltungssy- hängigkeit vogn (Jen ZL]! verfallen begann, bereits zahllose Dörfer in die Ab- ti0nellen Dorfrät 31 ords» und Zammdaren4 geraten waren, die den tradi- Die britisch Een aum noch Handlungsfre1heit ließen. “ende Traditioen {ZStth'ldclla Company setztediese ihr höchst nützlich erschei— . on die MO th, iln em sie 179} die «indirect rule» einflihrte und sich, Un b d' g 11 en, der Zamindare als Mittelsmanner für die Steuer— g e 1ente. Lord Cornwalhs, der diese Regelung hauptsächlich * 6 Asiatische Gesellschaften und Verbaltensstile 2 durchsetzte‚ versuchte sogar, den_Zamindaren Landadelsrechte nach briti— schem Vorbild einzuräumen und Sie als Ruckgrat fur das neue politische 5y_ stem zu gewinnen). Damit freilich wurde die Dorfautonom1e nun V'Ol‘lfi'l'ltlx liquidiert. Spätestens damals verlor das indische Dorf seinen Danwei—Staun und wurde Teil des Transdanwe1—Bererches. Zwar versuchten die Briten 5p3, ter mehrere Male, die alte Selbstverwaltung neu zu beleben, um Sich so der immer habgieriger werdenden Zammdare Wieder zu entled1gen; die Page Chayat—Idee jedoch war längst tot. Dieselbe Erfahrung mußten auch dh. Nachfolger Gandhis machen, die im Geiste des Mahatma seit 1957 V_ersu°h‘ ten, die Neubelebung der Selbstverwaltung mit einem «Community 1)c‚_ velopment»—Programm zu verbinden, wobei die staatlichen Mittel uber dm Stufen, von den Distrikten (unterste staatliche Instanzen) uber die «Bl()ckg„ bis hin zu den «Panchayats», kanalisiert werden sollten”. Doch W'ar'auCh hier die Rechnung wieder ohne den Wirt gemacht worden: Zwar erhielten die Dörfer de iure zahlreiche Selbstverwaltungsrechte; da sie jedoch von An_ fang an unter chronischer Finanznot litten, sprach am Ende doch Wieder die staatliche Distriktsverwaltung, von der ia die Hilfsgelder verteilt wurden, das letzte Wort. Da deren Beamte freilich nicht von den Dörfern gewählt, sondern von Delhi ernannt wurden, verwandelte sich die eigentlich angg, strebte Dezentralisierung unterderhand zur administrativen Dekonzentrig rung. Praktisch lief dies darauf hinaus, daß nicht der dorfliche ((F.unf(irffltii' sondern die staatliche Bürokratie auch über solche Fragen entschied, die de iure zum Selbstverwaltungsbereich gehörten. Da die enttäuschte Dortbevöl— kerung daraufhin schnell wieder jegliches Interesse ander Selbstverwaltung verlor und die Entscheidungen der Beamtenschaft sowre der dorfhchen (_;env try überließ, wurde die von Gandhi geforderte Dorfdemokrane de facto zum Instrument der mit der Beamtenschaft klienteli51erten Dorfoligarclnt‘. Angesichts dieser kontraproduktiven Entwicklung warfen Kritiker den Gandhianern vor, sie hätten mit ihrer unkritischen Dorfnostalgie am Itnde das herbeigeführt, was sie gerade hatten verhindern wollen, nämlich die Yet» bürokratisierung und Verstaatlichung der Dorfentw1cklung sow1e die fort— setzung der innerdörflichen Kastengegensätze und der ungerechten Boden— verteilung“. „ \ . ’ Anders als die theravadabuddhistischen und malanschen Gesellschafttfl verfügt das hinduistische Indien allerdings über zwei weitere Auffangbs‘k“ ken, die dafür sorgen, daß die Gesellschaft zumindest in ihren Zellele lL—f‘ strukturiert ist, nämlich die Kasten/]atis sowie bisweilen auch die (;rolsfamk lien (Näheres dazu unten S. 76 ff.). Y [. Wie asiattscbe Gesellschaften aufgebaut sind 63 d) Woher die Verschiedenbez'ten? Als Erklärung bietet sich hier erstens einmal die Unterschiedlichkeit der Pro- duktionsweise an. Für die metakonfuzianischen Gesellschaften liefert die «hydraulische Theorie» Karl Wittfogels brauchbare Hinweise. In fast allen Ackerbaukulturen, die periodisch von zu viel oder zu wenig Wasser bedroht waren, bildeten sich, unter Führung verhältnismäßig großräumiger wasser— bauorientierter (hydraulischer) Fürstentümer, hochintegrierte Sippen— und Dorfgemeinschaften heraus, die gemeinsam Staudämme, Entflutungsanlagen und Wasservorratstanks erstellen, wobei es im Laufe der Zeit zur Herausbil— dung einer die Führung beanspruchenden 4 und meist in Städten lebenden — Beamtenschaft und einer breiten, Hand— und Spanndienste leistenden Bauernschaft kam. In den sechzigerjahren war die «hydraulische Theorie» an allen Universitäten und Forschungsinstituten große Mode. Es stellte sich je— doch schon bald heraus, daß sie nur auf einige wenige asiatische Gesellschaf— ten paßte, u.a. auf die altchinesische Bauernschaft am Gelben Fluß und am Yangzi, auf die altvietnamesische Gesellschaft im Bereich des Roten Flusses, in abgeschwächter Form auch auf Bali sowie auf die Reisbauernkultur des alten Angkor. Demgegenüber traf sie nicht zu auf andere klassische Reis- bauernländer wie Thailand, Birma, das nachangkorische Kambodscha oder auf java. Dort entwickelten sich zwar Königs— oder Sultanatsherrschaften heraus, doch kam es nirgends zur Bildung zentripetaler Einheiten. Höchst plausibel erscheint die Theorie, wie gesagt, für Altchina und vor allem für Altvietnam: Das Klima im vietnamesischen Stammgebiet, dem Becken des Roten Flusses, wechselt jährlich zweimal zwischen Über— schwemmung (Monsunzeit) und Trockenheit. In der Hochmonsunzeit, nämlich im August, steigt der Wasserspiegel manchmal täglich um zwei Me— ter. Auf die Saison umgerechnet, kommt es in einigen Teilen dieses Schick— salsflusses sogar zu Höhenunterschieden von bis zu zehn Meter. Schon ein halbes jahr später allerdings herrscht wieder Trockenheit, und die Saaten lechzen nach Feuchtigkeit. Dieses Hin und Her macht verständlich, warum die Wasserregulierung im Bereich des Roten Flusses einen so alles über— ragenden Stellenwert einnimmt. Eindeichungs—, Beforstungs und Bewässe— mngsmaßnahmen gehören seit jahrtausenden zum Aufgabenbereich der Gesamtgesellschaft. Kein Wunder, daß kollektive Selbsthilfe unter rahmen- hafter obrigkeitlicher Anleitung «dem» Vietnamesen — und «dem» Chinesen — zur zweiten Natur geworden ist und auch außerhalb der Landwirtschaft Zur Wirkung kommt. Auch die koreanischen und japanischen Bauern, deren Naßre15-Terrassenfelder in der hügeligen Landschaft immer mehr die Ab— hange hinaufwanderten, konnten auf die Dauer nur dann zurechtkommen, Zi;nalsllfe.sowohl beim Bau der Terrassen als auch bei der Wasserverteilung Oben koeinander Ruck51cht nahmen und zum Beispiel nicht einfach das von mmende Wasser kurzerhand auf das eigene Feld abzwe1gten. 64 Asiatische Gesellschaften und Verhaltensstile Ganz anders die Situation in Birma oder Thailand, wo die Fruchtbarkeit der Landschaft und die Problemlosigkeit der Wasserverteilung weniger ge— meinsame Anstrengungen verlangte. Was Kambodscha anbelangt, so hatte eg in der Angkor—Zeit zwar eine gewaltige hydraulische Kultur gegeben. Mit dem Ende Angkors (i431) verlagerte sich jedoch das Zentrum Kambodsclms in Gegenden, die weniger unter dem Zwang des Baus von Bevorratungs- tanks standen, und an die Stelle der hydraulischen trat in den nachfolgenden jahrhunderten eine mehr «ichthylische» (fischereibedingte) Produktion» weise, bei der es keiner kollektiven Zusammenarbeit mehr bedurfm”; Es war aber nicht nur die Produktionsweise, sondern auch der Überbaii‚ der die Vereinzelung begünstigte. Der Selbsterlösungsbuddhismus (Themvada) lehrt, daß jeder Mensch. auf sich allein gestellt, im wahrsten Sinne des Wor. tes Schmied seines Glücks oder Unglücks im nächsten Leben sei. Dies m nicht gerade eine günstige Voraussetzung für Zusammenarbeit mit anderen Wie eng Produktionsweise und Überbau miteinander in Zusammenhang wird am Beispiel des «Auszugs» der kambodschanischen Bevolke» rung aus Angkor (i43i) deutlich. Kaum war sie der hydraulischen «I’lacke— rei» entgangen. nahm sie eine neue Produktionsweise an und konvertierte gleichzeitig zum Theravada. Wo lagen hier Ursache und Wirkung? Es sollte den Roten Khmer vorbehalten bleiben, in den jahren zwischen 1975 und 1978 wieder an die hydraulische Tradition von Angkor anzuknüp- fen, das kambodschanische Volk aus seiner Beschaulichkeit herauszuredien und zu versuchen, auch den Theravadabuddhismus auszumerzen. Die aus den Städten evakuierte Bevölkerung wurde für Dammbauten gigantischen Ausmaßes eingesetzt. Die Rigorosit'a't freilich, mit der diese Politik durchge- setzt wurde, sorgte dafür, daß Schanzarbeiten zu einem Synonym für Skla— venarbeit wurden. Die schwache I"ügung an der Basis wird allerdings durch eine feste büro— kratische Gegenstruktur wieder wettgemacht. EversH weist darauf hin, daß zum Beispiel die Thai—Bürokratie alle Merkmale einer Nomenklatum auf sich vereinigt, angefangen von bestimmten Privilegien und Statussyniluilt‘fi über einen ausgeprägten Corps d’esprit bis hin zur Rekrutierung ihres Nachwuchses, der aus einem geschlossenen Personenkreis kommt. Die Bü- rokraten gelten, ebenso übrigens wie in Laos, Kambodscha oder Birma, Auch heute noch als «Regen und Sonnenschein von oben». Der Baqu 5Chreibt ihnen karmabedingte moralische Autorität zu. erwartet von ihnen Anweisungen und Initiativen, macht sie aber andererseits letztlich auch für das Ausbleiben von Regen oder Sonne verantwortlich. Diese SubordiM’ tionstradition hat sich trotz demokratischer Reformversuche bis heute erhdl’ ten. A15 1960 bei einer Versammlung von Gemeindevorsmhern ein Rclm'm’ Vorschlag verlesen wurde, demzufolge die traditionelle Demut der Bauern vor dem Beamten durch den neuen Geist gegenseitiger Freundschaft ersetzt werden solle, plusterten die Zuhörer vor Lachen”. stehen, ]. Wie asiatische Gesellschaften aufgebaut sind 6; Während also in den metakonfuzianischen Gesellschafte ‘ ' n h zwischen Staat und Dorf/Danwei stattfindet, neigen die theraiaiiralealüidgliz'ilqg schen Gesellschaften zum Monolog der Bürokratie. IS“— 1. Universale und partikuläre Gesellschaften Ging es im vorausgegangenen Abschnitt um die Verdichtungsfähigkdt Von Subsystemen‚ so ist nachfolgend auf die Integrationsf'a'higkeit von Gesamt- systemen abzustellen. „) China und Indien Als Paradebeispiele seien hier China und Indien angeführt, wobei China die metakonfuzianischen, Indien aber die meisten süd— und südostasiatischen Gesellschaften repräsentiert. Beide sind zwar Großfl‘a‘chenstaaten‘iwährend sich China allerdings durch eine nur selten in Frage gestellte Zentralstaatlich— keit profilierte, hängt über der indischen Einheit das Damoklesschwert des Kommunahsmus (i. e. unten S. 83ff.). Dabei sind die Entwicklungen in bei— den I(eichen lange Zeit durchaus parallel zueinander verlaufen. Hier w1e dort waren die Hauptvölker agrarisch orientiert und wurden im Laufe der Geschichte periodisch immer wieder von Nomadenvölkern an e— griffen — und zwar jeweils aus dem Nordwesten. Hier wie dort auch strahglte die Leitkultur von einem agrarischen und meerabgelegenen Herz ebiet hauptsächlich nach Süden aus und führte zur Konfuzianisierung bzwii‘ans- kriti5ierung; gletchzeitig erfolgte die Durchdringung weniger auf expansio— msusche als Vielmehr auf impansionistische (kulturell—erzieherische) Weise und weniger durch kriegerische Mittel als vielmehr durch Methoden der in— neren Kolonisierung, d.h. der Besetzung des Denkens mit neuen Wertvor— Siellungen. Hier wie dort auch stand das Altertum im Zeichen von Großrei— :; en (Han-Dynastie. Maurya—Reich), die von Beamtencorps geführt wur— e_n..Des weiteren hat es in Indien genauso eine lange Lernkultur gegeben Wir In China — man denke etwa an den buddhistischen Sangha oder an das ääig;edljsraéirnangntum. Ebenso wie in China hatte es auch inindien immer chen Herrsc;;ftre erggegeben, den ganzen Subkont1nent in einen}emheitli— mus ] _ tsver an einzubringen. Warum konnte s1ch der Zentralis— & som China durchsetzen, nicht aber in Indien? b D . . . ) Br chmeszsche Unwersalstaal und der indische Kastenparti/eularismus D' - - . - sc;:3afl'iontinuierlich'ste und bei aller Größe auch zentralstaatlichste Gesell— im Et ä\swns, die im Lauf ihrer Geschichte zwar häufig Spaltungen erlebt H e aber doch immer wieder zur Einheit zusammengefunden hat, ist — 66 Asiatische Gesellschaften und Verhaltenssrile neben Korea und Japan — vor allem China. Immer wieder fragt man .SiCh’ Wie dieses «Wunder» geschehen konnte, zumal die Gesellschaft ia zugleich Auch‘ wie oben festgestellt, höchst zellular gebaut ist. „ . Den Schlüssel zur Erklärung liefern zwei Kernelemente, namlich der durchgehende Normenanalogismus (zum Analogismus imallgemeinen Vgl_ oben S. 39ff.) und das Mandarinat mit seiner Wachterfunknon. Was erstens den Analogismus anbelangt, so ergibt er sich sowohl aus dem sozialen Pyramidensystem als auch aus den konfuzianischen Kontrollme_ ch;mismenz Ihrem Bauplan nach ist die chineSische Gesellschaft eine riesen- hafte Makropyramide, die sich aus Millionen von Mmtpyraimden zusam_ mensetzt, die, von lokalen Besonderheiten abgesehen, in s1ch alle nach dem gleichen Schema aufgebaut sind und denselben Normenjgehorchen. Grund. muster ist hierbei das patriarchalisch verstandene Vater—50hn—Verhaltms, das sich auch in anderen klassischen interpersonellen Beuehungen (lun) analog wiederholt, so zum Beispiel zwischen Kreismagistrat und Untertanen oder aber zwischen dem Kaiser und seiner Beamtenschaft. Was denVater in der Familie, ist der Mandarin im Kreis, der Gouverneur in der Brov1nz, der Kai- ser im Reich und der «Himmel» in der kaiserlichen Eami_he A oder, anders ausgedrückt: Der Paterfamilias ist Kaiser der familie wie umgekehrt der Kaiser Vater des Staates, genauer der «Staatsfamrlre» (guopa) ist. Die patriar— chalisch geordnete Familie als Mikrokosmos, die Gesamtgesellschaft als Ma- krofamilie — dies ist das klassische Gesellschaftsprogramm des I\Onfu7‚1ams— mus, das hier «pyramidaler Analogismus» genannt wird. . . Zur Sicherung analogen Verhaltens stellte die Tradrt10ngeme Reihe von Hilfsmitteln bereit, die teilweise typisch chinesisch, zum Teil abergaueh um- versell sind: Nicht ganz leicht nachvollziehbar für einen Europaer ist das «mingfen» (sinngemäß in etwa: bezeichnungsgerechtes Rollenspiel), das ei» nen magischen Bezug zwischen Rollenspiel und R_ollenbenennung herstellen soll. «Vater» darf sich danach nur nennen, wer die vaterhche Rolle, wie sie von der Tradition definiert wurde, auch wirklich «lebt». Dasselbe gilt fur den «König» oder «Kaiser», der, wenn er seinem «Namen» nichtmehr gc‘ recht wurde, zu einem Niemand herabsank und deshalb auch gesturzt wer- den konnte; bewies er durch sein Verhalten doch, daß er dem mit seinem Namen verbundenen «Auftrag des Himmels» nicht mehr gerecht wurde. Diese Konvergenz von Bezeichnung und Bezeichnungstreue — eine Art km 80rischer Imperativ des Konfuzianismus — sorgte dafür, daß die an 03111 «Namen» geknüpften gesellschaftlichen Erwartungen nicht unverbin< lt blieben, sondern einem permanenten Vollzugsdruck unterlagen. ‘ ' Eine weitere Sicherung bestand in der Erziehung zu hochgrad1ger l\ogi formität bei gleichzeitigem Verzicht auf individuelle Spontanertät. AHgL‘E“ / tes Verhalten galt als in sich werthaft, Anpassungsverstöße führtenzü 5’tf3. fen, vor allem aber zu Gesichtsverlusten, die niemand und zu keiner 16” riskieren wollte. Die panische Angst vor dem «shimian» (Gesichtsverlust) ]. Wie asiatische Gesellschaften aufgebaut sind 67 wird bis heute schon im frühkindlichen Stadium Verinnerlicht Kinder lernen, daß nichts schlimmer sei, als von anderen ausge den. , _ . . _ Zwar gab es zw15chendurch immer Wieder informelle und unorthodoxe Abweichungen von «der Norm», doch sorgte der pyramidale Analogismus dafür, daß alle Teile des Gesellschaftsbaus in einer Art prästabilierter Har— monie zueinander standen und im großen und ganzen berechenbar waren. Selten bedurfte es des Eingreifens der Polizei oder anderer Instanzen äußerer Kontrolle, wie ja überhaupt der Staat mit seinen untersten Ausläufern bei der Kreisebene «endete». Unterhalb davon sorgten die Dörfer, die Clans, die Familien, die Gilden und Zünfte sowie die anderen festgefügten Bezugssy— sterne dafür, daß innere Kontrolle herrschte und Verhaltensanalogien stimm— ten. Was nun demgegenüber die hinduistische Gesellschaft anbelangt, so gab es hier zwar ebenfalls ein ausgeprägtes und mit höchster Intensität verinner— lichtes Regelwerk, doch fehlte es andererseits an der universellen Verbind— lichkeit der Verhaltensmuster. Während es in China ein im großen und gan— zen durchgängig verbindliches Normensystem gab, verfügt in der hinduisti— schen Gesellschaft jede der Tausenden von Subkasten (jati) über ihr eigenes kastenspezifisches Regelwerk. Verstärkt wird diese Tendenz zum Partikulä— ren durch einen ausgeprägten Kommunalismus und Regionalismus, der das Besondere auf Kosten des Universellen und Allgemeinverbindlichen betont. Es gibt zwar den Chinesen, nicht aber den Inder. «Hindi»—Indien als Sprach—, Kultur— und Religionsgemeinschaft ist ein utopisches Kunstpre— dukt des Hindu—Establishments. Das zweite integrierende Kernelement der chinesischen Gesellschaft war die Beamtenschaft. Beim Mandarinat handelte es sich um einen durch Staats— prüfungen gesiebten und mit konservativer Gesinnung geimpften Personen— kreis, der sich nicht primär durch Fachwissen, sondern durch den aus der Tradition abgeleiteten Anspruch legitimierte, die Gesellschaft im Geiste der überlieferten Moral bewahren und erziehen zu können. Das analogistische Wertesystem war im Zeichen der hydraulischen Schicksalsgemeinschaft ent— standen. Wenn es sich weit über die Stammgebiete am Huanghe hinaus ver— breitete und über viele jahrhunderte vorhielt, so war das vor allem das Ver— dl€hst des Mandarinats und seines in sich als werthaft empfundenen Konser— Vat15mus. , indem die lacht zu wer- Mag das Mandarinat auch auf die Fortentwicklung der Naturwissenschaft remsend gewirkt haben, so muß ihm doch andererseits gutgeschrieben werden, daß es die großräumige Entwicklung Chinas gesichert hat. Als hilf— relch erWies sich dabei nicht zuletzt auch das einheitliche Schriftsystem, das Wegen Seiner idwgraphischen Form gegen Fremdeinflüsse nahezu unemp— lndllch war und das außerdem die verschiedensten Dialektregionen über— Spannte‚ des weiteren eine einheitliche Geschichtsschreibung, eine weitge— 68 Asiatische Gesellschaften und Verbaltensstile hend identisChe Ästhetik und — wie gesagt — eine einheitliche Staatsprüfung \ also durchweg Instrumente, derer sich das Mandar1nat souverän zu bedienen wußte. Universalität, Großräumigken und mandarmäre Geschicklichkeit außen ten sich nicht zuletzt auch in der «Außenpolitik», die mit der Begründu„g von Tributsystemen weitgehend identisch war. Das traditionelle China pflegte sich ja nicht durch irgendwelche Grenzbäume von der Außenwelt abzuschirmen; vielmehr konnte jedermann zur «zivilisierten Gesellschaft unter dem Himmel» gehören, der sich in «seiner» Pyramide nach dem k0n_ fuzianischen Schema verhielt — man denke an die klassischen <> . . ]apamsche Gruppen und Teams pflegen erfahrungsgemäß nur dann Wirk— lich zu funktionieren, wenn sie nach dem Oyabun/Kobun—Schema aufgebaut Sind: Tritt beispielsweise ein neuer Chefarzt seine Stellung im Krankenhaus X an, so Wird es von der dortigen Ärzteschaft fast wie ein Naturgesetz hin— äin0lllnn"ien, daß «der Neue» zumindest sämtliche bisherigen Oberärzte de:cB eigene Gefolgslcute ersetzt. Oder achtet etwa ein westlicher Leiter bei lifi]mteisetzung einer forschungsprojektsgruppt' vor allem auf fachliche Qua— «Stirn 0Fl‚kso legtse1n japanischer Kollege den Akzent eher auf personelle ür ‚Img en», Wird also im Zweifelsfall «seine» Kobun bevorzugen und da— Eeinen moghchen Verlust an Sachverstand in Kauf nehmen. ch‘;iGruppe steht und fällt mit ihrem Ovabun. Ihre Mitglieder wünschen meinscguger den personhchen Freund als Vielmehr die freundschaftliche Ge— a t und die «(;eborgenhe1t». Kaum etwas Delikateres läßt sich unter si Asiatische Gesellschaften und Verhaltensstile 70 d' sen Umständen denken als die Lösung der Nachfolge für einen (VerStor_ ie ” ‘ 0 abun. l oder aus der Puma aussche1denden) . y . beg;g,dgazfäjrriljel so unendlich viel mehr bedeutet als seine Teile und WO die «Vasallentreue» so groß geschrieben ist, entwickelt sich ein soziales Milieu, das vom Senioritäts-, Harmonie—, Faktions- und Isolationsprinzip beStlmmt Wli\iit Senioritätsprinzip ist gemeint, daß als Oyabunflnur solche Personen in Betracht kommen, die der betreffenden Gruppe am langsten angehoren oder sie womöglich gegründet haben — man denke im letzteren Fall an die nach dem Zweiten Weltkrieg neuentstandenen E1rmen Matsush1tha, Sony, Sanyo oder Honda, deren Gründungsväter auch in den achtugerjahren noch Obr_1,e jede Einschränkung als Führungspatriarchen anerkannt werden. Senioritar zählt mehr als fachliche Leistung, weshalb immer der Altere — und nicht der Tüchtigere — zuerst an die Reihe kommt.. . ‘ ' Mit Harmonieprinzip (wa, chin.z he) ist ein Gruppenverhalten gemeint, das, koste es, was es wolle, auf Vermeidung offener Konflikte, nicht zuletzt aber auch darauf ausgerichtet ist, nach außen hin ein «tadelloses»; Gruppen. bild zu vermitteln, in dem jeder seinen hierarchisch wohldef1merten Platz einnimmt Harmonie und «Gegenseitigkeit» sind Uraltbestandterle des Konfuzianismus: Loyalität soll gleichsam automatisch Loyal1tat und Dank— barkeit wiederum Dankbarkeit nach sich ziehen. In ihrer modernen I*orm hat die «Gegenseitigkeit» zu einem «Unternehmens—, Belegschafts— und An- gestelltenkapitalismus»” geführt, in dem das Wir ganz„groß geschrieben wird. Zumindest vom Selbstverständnis her gelten als Trager des modernen Großbetriebs nicht die Aktieninhaber, sondern die (festangestellten!) Be- triebsmitglieder, also das «menschliche Kapital»! Wer in einen ‚apanischen Betrieb eintritt, bringt idealiter nicht nur seine Arbeitskraft, sondern seinj ganze Person ein; der Betrieb verschlingt ihn «mit Haut und Haaren;( unl beansprucht nicht nur einen Großteil seiner Freizeitflund eine Lu;uc_ stt 7 lung seiner Familienbelange, sondern eine fast vollstandrge Id?ntlll.l€fufl]ä mit der «Kaisha» (Firma). Dies hat positive Seiten, insofern dlc(l‘lffnä & eine Art allumfassender Lebensversicherung, als Freizelitgesltalterin und T, Bedarfsfall sogar als Ehevermittlerin oder—schlichterm dient, aberpgl;a höchst negative Aspekte, insofern nämlich die Außenwelt als eine ‚Artb )c1 rb territorium betrachtet wird, gegen die man entweder im harten \)vett Lerh antritt oder die man ohne spontane Skrupel belastet — man denke an dilc [:e— lende soziale Verantwortung gegenüber «Außenstehenden» und an ( 1% “’ denkenlose Umweltverschmutzung, die in japan zwei Jahrzehnte lang staer gefunden hat. Auch der «Nächste» im christlichen Sinne ex15t1ert nur um . ', h n halb der eigenen Gruppe, i5t ansonsten aber unbekannt. In der lapzfn‚l;;hil. Praxis läßt das Oyabun/Kobun—Verhältnis überdies Sogar das VatU/it7ung “ . ' . . . . . r 5 Verhaltms in den Schatten treten - eine Tendenz, Wie Sie in dieser Lu (Emma, m der chinesischen Tradition nicht vorkommt! Die Kaisha ist als « 7 Y ], Wie asiatische Gesellschaften aufgebaut sind 71 mili£>n als «mein Haus» (uchi) und als emotionale Schicksalsgemeinschaft allzu0ft idealisiert worden. In der Japan—Literatur der letzten zwei Jahr- zehnte haben sich zwei Grundströmungen herausgebildet, die sich als Große und Kleine Tradition bezeichnen ließen, wobei zur ersteren die immer wie— der zitierten Beschreibungen des Psychologen Takeo Doi"‘, der Soziologin Nakan€ Chie sowie der beiden Amerikaner Ezra Vogel und Edwin Rei— Schauer gehören. Bei ihnen erscheint Japan durchwegs als etwas Einzigarti— ges, das nirgendwo sonst auf der Welt eine Entsprechung findet. Im gleichen Tone argumentieren auch Unternehmenszeitschnften, wie beispielsweise «Intersect», das vom Matsushita—Elektrokonzern in einer Auflage von einer Million Stück herausgegeben wird und das in jedem seiner auf Glanzpapier gedruckten Beiträge von den Wohltaten schwärmt, die japan dem Rest der Welt zuteil werden läßt. Dieses Bild der Konfliktfreiheit, des Selbstopfers für die Gruppe und der Wohltätigkeit für die Menschheit, das den Eindruck vermittelt, als handle es sich hier gleichsam um Bestandteile einer «Biologie des ]apanertums», wird inzwischen von einer Reihe linksorientierter Beob— achter gestellt, die darauf hinweisen, daß die «Sozialgeschichte ]apans größ— tenteils eine Geschichte des Konflikts» sei und daß vor allem die «Arbeiter- klasse» einer Fülle geschickt kaschierter Diskriminierungen unterliege”. Die Vorteile des so vielgepriesenen Betriebspaternalismus kämen doch lediglich den Stammarbeitern zugute, während die Leih— und Kontraktarbeiter sowie die älteren Arbeitnehmer von den Firmenwohnungen, Sonderzulagen, Frei- zeiteinrichtungen und Beschäftigungsgarantien ihrer privilegierten «Kolle— gen» nur träumen könnten. Benachteiligt seien ferner die Belegschaften der häufig vom Damoklesschwert des Konkurses bedrohten Klein— und Mittel- unternehmen, vollends aber die weiblichen Arbeitnehmer, von denen erwar— tet wird, daß sie im heiratsfähigen Alter ausscheiden oder sich ganz «klein machen». Das Faktionsprinzip ist Folge des organisatorischen Drangs zur Heraus- bildung Von Gruppen, in denen man sich geborgen fühlt. Wer sich einer sol- Cl'ien Gemeinschaft nicht anschließen kann oder beim Tod des Oyabun dort nicht mehr bleiben will — wird entweder zum «einsamen Wolf» oder aber gründet eine neue Gruppe, die sich schon bald wieder zur Faktion (habatsu) mausert“. Diese Segmentationstendenz ist eine Erklärung für die (auch hi— storische) Tatsache, daß es in japan, China, Korea und Vietnam immer wie— der Zur Herausbildung einander bekämpfender Politgruppierungen und Denk-«Schulen» gekommen ist! Damit hängt auch die «Isolation» zusammen, in die sich tendenziell jede Vertikalgmppe begibt: Man ist dann im Konkurrenzkampf mit den andern e{"Weder die Nummer eins oder ein Verlierer. Harmonie nach innen, uner- blttlicher Wettbewerb nach außen — dies ist die praktische Folge, die in ihrer °“5ec_ernz eine überbetrieblichen Arbeitsteilung entgegensteht. Wenn Fir— men Wie Sony, Toshiba u.a., die ja praktisch die gleiche Warenpalette erzeu- Asiatische Gesellschaften und Verbaltensszile 72 en sich nicht zu einem gesamtnationalen — und damit noch leistungsfähige_ gen‚_ Konzern zusammenfinden, so hängt dies mit dem erwahnten “Kais_ haismus» und Vertikalismus zusammen. Auch Berufsvereinigungen » etwa der Rechtsanwalte oder der (‚onipmcn fachleute — sind dem iapanischen Gesellschaftssystem fremd; ist es ferner ein Zufall, daß 80 % aller Gewerkschaften Betriebsgewerkschaften smd, die fast immer Hand in Hand mit dem jeweiligen Unternehmensmanagement arbei— ten? «Industriegewerkschaften» im deutschen Sinne konnten Sich nur in We— nigen Bereichen, zum Beispiel im_Eisenbahnwesen, herausbdden. Ein gutes Beispiel sind auch die japanischen.Tageszenungen,deren drei Spitzenorgane, nämlich die Asahi—, die Yom_iun- und die Sankai—Shimbum sich in Inhalt und Aufmachung fast Wie ein Ei dem andern gleichen, Ähnlich ist es bei den Hochschulen, die ebenfalls nicht zusammenarbeiten, sondern nach Möglichkeit alles «im eigenen Haus» erledigen möchten und deshalb immer gleich sämtliche Fakultäten einzurichten pflegen. je schärfer der Wettbewerb, desto mehr gleicht sich das Angebot an. . _ Pyramidal—Organisationen der erwähnten Art gibt es nicht nur in den Fir- men, sondern auch in Nachbarschaften, nicht zuletzt aber auch im Banden— wesen sowie in allen Bereichen der Subkultur. Dies gilt übrigens nicht nur für japan, sondern auch für andere metakonfuzianische Gesellschaften, so zum Beispiel für Singapur. Dort hat es die Polizei seit Mitte der achtziger jahre immer häufiger mit aufsehenerregenden Gruppen einer grol5sta'dn— schen jeunesse dorée zu tun, die sich durch besonders pittoreske Kleidung und demonstratives «Herumhängen» in Kaufhäusern oder auf der Orchard Road bemerkbar machen. Bei diesen jugendlichen «Nonkonformisten» han— delt es sich in Wahrheit um höchst konventionell aufgebaute Cliquen von jeweils 10—13 Mitgliedern unter einem «Oyabun» a la Singapur, die gruppen— spezifisches Verhalten und bizarre Rufnamen angenommen haben—‘. Ahnli- ches gilt auch für andere Gruppen: Da beispielsweise den japanischen Intelr lektuellen (<n Sondern nur unterschiedlich «reine» Personen, Tiere oder Gegenstände, und nichts im traditionellen Indien blieb von der sich daraus ableitenden Hl€fär‘ chisierung verschont: Bei den Menschen ergibt sich die Reinheitsstufenfolge aus der Rangord— nur!g der Kasten. Ganz oben stehen die Brahmanen, ganz unten die „Unbe< rührbaren». Der Brahmane hat seine «Reinheit» dadurch zu wahren, daß er sich nur mit «reinen» Gegenständen umgibt, daß er periodische Reinigungs' zeremonien durchführt und daß er den Kontakt mit «unreinen» Kaste'nälnyilfiii1 hörigen‚ Tieren oder Gegenständen vermeidet. Bei den Tieren gilt die b“ als am reinsten, während das Schwein ganz am anderen Ende der Skala steht- Was schließlich unbelebte Gegenstände anbelangt, so ist das Gold am fcm' ]. Wie asiatische Gesellschaften aufgebaut Sind 79 sten, gefolgt von Messing, Kupfer, Eisen und Lehm. Seide gilt als rein BaumW0“e dagegen bereits als «schmutzübertragend». Unter den Lebens—y mitteln sind am reinsten alle Produkte der Kuh, gefolgt von Reis, We \ und Hirse. Als unrein gelten schließlich alle körperlichen Exkremente — Urin, Stuhl und Samen, aber auch Speichel, Blut, Atem und sogar Haar— und Fingern} gelreste. .Wegen dergUnremhe1t des Spe1chels schreiben manche jatis sogar vor, daß ihre Angehongen Brot oder Obst me vom Stück abbcißen, sondern nur abgebrochene oder abgeschnittene Stücke zum Munde führen, daß sie ferner Trinkgefäße und selbst Zigaretten nie direkt an die Lippen bringen, sondern den Rauch zwischen den Fingern hindurchziehen. Blut wird so sehr verabscheut, daß manche Brahmanen sogar den Genuß von «blutfarbenem» Obst oder Gemüse vermeiden. Alle Personen, die profe5sionell mit Blut zu tun haben, bekleiden im allgemeinen niedrigste Kastenränge ‚ angefangen vom Fleischer über den Abdecker bis hin zum Gerber. Man kann sich vor— stellen, wie ambivalent die Einschätzung des modernen Chirurgen ausfa'llt! Unrein ist der Atem: Man blase deshalb nie direkt in ein Feuer. um so den Gott Agni nicht zu beleidigen. Unrein ist ferner die linke Hand „ man be— nutzt sie ja zur Säuberung der «Ausflußstellen». Auch eine noch so gründli— che Reinigung mit Seife kann an der rituellen «Beschmutxung» nichts än— dern! Frauen gelten übrigens, unabhängig von ihrer Kaste. als unter den Männern stehend, weil sie durch Menstruation und Geburt « .. . . _ .. “den—Staub hmwegwascht; Reinigungskraft kommt auch bestimmten Ols°"en Zu, vor allem aber den «fünf Produkten der Kuh». Sich mit Kuh— l_mg b65chm1eren, bringt nach dieser Auffassung Reinigung, Schuhe aus gundsleder zu tragen, führt dagegen zu extremer Verschmutzung. Zur Reini— "g fuhren auch Tonsuren — deshalb der Haarschnitt, der den Säugling von izen 3 Asiatische Gesellschaften und Verbaltensstile o r Geburt «säubert», und deshalb nicht zuletzt auch das Kahl— esten de _ _ ' . ‘ 4 den R Zeremonien sow1e die Tonsur bet den buddhlsth schneiden bei bestimmten .. n. . sclärristh/äägcäeeniale und «penetrante» Vermählung zweier Grundgedanken‚ nämlich der Karma—Legitimnät mit den Wiedergeburtsverheilsungen der Karma—Lehre, schuf, wie Max Weber“ wohl zu Recht betont, lene “Unwi— derstehliche Gewalt über das Denken und Hoffen der ‚in Sie elnng€tt_eten Menschen», die für die hinduistische Kastenordnung mit ihrer eingefleiseh_ ten Umsturz- und Innovationsfeindlichkeit so charakteristisch ist. Flexibilität contra Unoerdnderbar/eeit ‘ ‘ ‘ Aus den untersten Schichten bis zur Spitze aufzuste1gen, war in der konfu_ zianischen Gesellschaft zwar nicht gerade an der Tagesordnung, wohl aber theoretisch durchaus möglich. Sogar die Gründungskatser zweier Dyna— stien, der Han und der Ming, kamen aus dem Bauernproletanat. Auch das Mandarinatsamt war nicht vom Blut—, sondern vom Leistungsadel bescru_ Demgegenüber galt die hinduistische Kastenordnung als unveranderbar Gleichwohl gibt es, wie die moderne Forschung festgestellt hat,4subnle Mo- bilitätsreserven. Keineswegs ungewöhnlich ist der Abstieg, der in der Regel durch Verletzung der Reinheitsnormen ausgelöstw1rd. Somaler Aufstieg an— dererseits ist zwar nicht direkt, wohl aber auf indirektem Wege mogl1ch4,jund zwar durch Namensmanipulation sowie durch eine «Sanskntmerung»: der Verhaltensweisen. Der Aufsteiger legt sich zum Beispiel einen unverfangh— chen Namen wie Singh oder Lal zu oder verwischt seine Spuren, indem er — in «Wiederentdeckung» seiner höheren Kastenzugehöngken - eine hohere Varna—Bezeichnung annimmt. . Die «Sanskritisierung» erfolgt durch Einnistung in das Rege . ' höheren Kaste“. Überflüssig, zu betonen, daß wohlhabende Hommes nov1 hierbei mehr Erfolg haben als Angehörige des Proletariats. (Zum Begriff der «dominanten Kaste» vgl. unten 5. 81.) _ '_ _ Eine dritte Art der Mobilität besteht im Ubertntt zum dhismus oder zum Christentum, wobei der Konvernt allerdmgs, W1L' ‘ t ‘ ' ' teis erwähnt, sowohl von seiner alten als auch seiner neuen Umgebung mm nach seinem ursprünglichen Kastenrang eingeschätzt bleibt. lwerk einer Islam, zum Bud- oben Hierarchie contra «Gleichheit» ‚ , >le „ als Ist die hinduistische Gesellschaft «flacher» und «horizontaler» an;,t %» die metakonfuzianische? Die Antwort fällt ambivalent aus: _ di- Zu beiahen ist die Frage, wenn man der brahmanischen Auslegllnllslfi?olg tion folgt, die von der europäischen Indol0gie mit durchschlagenfk’m [Ver- weiterverbreitet wurde und bei der es sich um einen klasstschen Fall dc{x"rl(‘ wechslung von Wunsch (d.h. brahmanischem Wunschdenken) und 1 . ' ' ‘ [] lichkeit handelt. Nach diesem viele ]ahrzehnte hindurch dominiersnde [. Wie aszarische Gesellschaften aufgebaut sind 81 „Hinduismus-Modell» galt dreierlei als ausgemacht: Erstens gab es eine ge— se"schaftliche Abstufung, die sich genau nach dem altehrwürdigen Vier»Ka— ste„_5chema richtete; ganz oben stand also die Priesterkaste der Brahmanen, gefolgt von der Rnegerkaste der Kshatriyas, der Hantllerkaste der Vaishiyas und der DiehStl€istungskaste der Shudras, denen dann «ganz unten» noch die «Unberührbaren» folgten. Zweitens ging man von einer exakten Korre— lation zwischen Reinheits—, Macht— und Iiinkommenshierarchien aus. Drit— tens wurden Angehörige der gleichen Kastenstufe einander schlicht gleich— gesetzt. Von solchen «horizontalen» Gesichtspunkten war bezeichnenden weise auch noch die Volkszählung von 1902 bestimmt, bei der man absur» derweise erfahren wollte, wie viele «Brahmanen» es in Indien gibt — eine Frage, die augenblicklich heftige Rang—und Interpretationskämpfe auslöste. Dieses eindimensionale Bild wurde erst durch intensive Feldforschung kor- rigiert. Heute weiß man, daß «praktisch jede Feststellung über die Kasten- frage zwar gültig ist für die eine Region, nicht aber für die andere, zwar für das eine Dorf, aber nicht für das andere, zwar für die städtische Umgebung, nicht aber für die Vorstädte, zwar für eine religiöse Gruppe, nicht aber eine andere Sekte, schließlich zwar für eine Einzelperson, nicht aber für ihren nächsten Verwandten»“. Eigentlich hatte sich ja in Konkurrenz zum erwähnten Brahmanenmodell schon seit dem I3.jahrhundert ein alternatives «Kshatriya»—Modell heraus— kristallisiert, an dessen Entwicklung die im Gefolge der Hunnen nach Indien gekommenen Rajputen maßgebend beteiligt waren, die sich im laufe der Zeit ihre gesellschaftliche Spitzenstellung als Kriegerkaste nicht durch ritu— elle Reinheit, sondern durch Macht, Reichtum und andere säkulare Errun— genschaften verschafft hatten. Diesem Abweichungstatbestand haben erst neuere Dorfstudien auch wissenschaftlich Rechnung getragen, wobei der Begriff der «dominanten haste» eingeführt wurde. «Dominanz» wird hier— bei, wie gesagt, nicht durch rituelle Reinheit, sondern vielmehr durch Geld, Macht und Prestige begründet; säkulare \X”CI'IC überlagern das religiose Ver— dienst, allerdings in den Städten naturgemäß mehr als auf den Dörfern. Fer- ner haben die Dorfstudien den durch und durch «lokalen Charakter der Ka— St€nhierarchie» deutlich werden lassen”. Angehörige der Ich (Ölprcsser) ‘ Werden in Orissa zum Beispiel als unreine, in Bengalen dagegen als reine Shlldras betrachtet und in Bombay gar 7u den Vaishvas gerechnet. Bei der BeVölkerungsz'a'hlung von 1931 meldeten im nOrdlichen Indien }} Shudra— Kamen ihren Anspruch auf den Brahmanen—, 80 auf den Rshatriya— und 15 auf den Vaishya—Status an“. Selbst unter den Brahmanen gibt es lokale Ab— st“hingen. Manche werden nicht nur von ihren eigenen Kastengenossen, sOrldern bisweilen 50gar von Shudras als unrein betrachtet“. Mitglieder ei— ner «d0minanten Kaste» haben übrigens auch solide «Sanskritisierungs«— Chancen, d. h. die Möglichkeit, sich durch eine bestimmte Lebensweise zu “ner höheren Kaste «hinaufzuritualisieren». Asiatische Gesellschaften und Verbaltensstile 82 Kasten- und Klassenstatus mögen vielleicht in grauer Zeit einmal identisch gewesen sein — heute sind sie es längst nicht mehr; denn um die ertSchafdi_ chen Startchancen des Brahmanentums steht es im zo.]ahrhundert nicht ge— rade zum besten. Technische Berufe sind ihm wegen der damit verbundenen körperlichen Arbeit in aller Regel verbaut, und auch kaufmännische Profes_ sionen sind seit alters her an andere Kasten vergeben, so daß im wesentlichen nur eine bürokratische, politische oder aber eine Karriere als Rechtsanwalt übrigbleibt. Bemerkenswert immerhin, daß bisher sämtliche Ministerpräsi- denten der Indischen Union Brahmanen waren; ansonsten aber sind die A„_ gehörigen dieser Kaste meist mittlere Gehaltsempfänger — und insofern alles andere als «dominant»; denn wer es im Verwaltungsdienst zu einer gewissen Höhe gebracht hat, fühlt sich, gleichgültig welcher Kaste er nun angehört, weit erhaben über all jene Brahmanen, die traditionellen Berufen nachgehen, ihre Reinheitsrituale pflegen und sich den heiligen Texten widmen. Sogar auf dem Land, das ja angeblich zur Wagenburg der traditionellen Gesellschaftsordnung geworden ist, klaffen Klasse und Kaste immer weiter auseinander, wobei sich das soziale Gewicht vor allem nach dem Ausmaß des Grundbesitzes bemißt. An der Spitze der Klassenhierarchie stehen die «Oberen Zehntausend» — in aller Regel Industrielle und Großhändler, denen an zweiter Stelle jene 2 % wohlhabender Bauern folgen, die statistisch ein Fünftel des Ackerbodens besitzen. Es schließen sich die höheren Beamten, leitenden Angestellten so— wie die 6% Bauern an, denen das zweite Fünftel des Ackerbodens gehört. An vierter Stelle reihen sich die mittleren Beamten und Gehaltscmpfänger, die Facharbeiter und die 12% Bauern ein, die Eigentum des dritten Boden— fünftels sind. Hinter ihnen rangieren die kleinen Angestellten, die Industrie— arbeiter und die 20 % Bauern, denen das vierte Bodenfünftel gehört. Unterhalb dieser fünf sozialen Schichten folgt dann die Masse der Bevöl— kerung, die weit über die Hälfte der Einwohnerschaft ausmacht und die kein gesichertes Einkommen bezieht — also wirklich arm ist”. Wie nun fügen sich die traditionellen Kastenangehörigen in dieses «Saku- lare» Stufenschema ein? Unter den beiden obersten Schichten muß man Brah- manen mit der Lupe suchen; hier dominieren die Händler— und Bauernkasten; erst in der dritten und vierten Schicht treten auch die traditionellen Oberka— sten deutlicher hervor. Mit ihnen in Konkurrenz befinden sich hier freilich manchmal bereits Angehörige der früheren «Unberührbaren», die ihren Auf- stieg einer systematischen Förderungspolitik der Regierung verdanken und deshalb nicht selten als «Regierungs—Brahmanen» bespöttelt werden. In den oberen Bereichen der Gesellschaftsspitze gibt es also kaum Zu58m' “_16nhänge zwischen Kasten— und Gesellschaftsrang. Eine solche KoinzidenZ findet erst ganz unten statt, wo nämlich den Mitgliedern der untersten K’c_" sten SOWie den «Unberührbaren» als Ärmsten der Armen nur mehr d1e schmutzigsten Arbeiten bleiben. 1. Wie aszatiscbe Gesellschaften aufgebaut Sind 83 Von Gleichheit zwischen den verschiedenen Kasten und Subkasten kann also nach alledem ganz gewiß nicht die Rede sein. Und doch lassen sich im Hinduismus am Ende mehr Horizontal—Ansätze entdecken als etwa in der japanischen Gesellschaft. Da ist etwa die Familie: Während in Japan das Verhältnis des einzelnen zu seinen Geschwistern schnell an Bedeutung verliert, sobald er sich in ein au— ßerfamiliäres Gefolgschaftsverhältnis begeben hat, überdauert die Geschwi— sterschaft in Indien alle Zufälle des äußeren Lebens. Aber auch zwischenfamiliäre (durch Heiraten) und transfamiliiire Bezie— hungsnetze führen schnell zur «Seitwärts»—Bindung. Die japanerin Na— keine” nahm beispielsweise mit Erstaunen zur Kenntnis, wie schnell sich zwischen den Angehörigen des Indian Administrative Service kollegiale Be— ziehungen entwickeln, wie sie im japanischen Kontext schwer vorstellbar wären, weil sich dort eine Ministerialbürokratie fast «fensterlos» neben der anderen aufbaut. Besonders bedeutsam als Koordinierungs—lnstitution aber ist das traditio— nelle ]ajmani—System, das dafür sorgt, daß die zahlreichen nach ]atis aufge- gliederten und damit hochspezialisierten Gewerbe nicht voneinander iso— liert, sondern vielmehr miteinander verknüpft werden — und zwar nicht nur auf Grund eines Ad—hoc—Vertrages, sondern mit Hilfe einer oft über jahr— hunderte geltenden Bindungswirkung. Die hier zustande kommende Ver— knüpfung findet nicht nur zwischen Patron und Klientel (also in vertikaler Richtung), sondern auch zwischen verschiedenen jatis statt, die freilich nic}l:t völlig gleichrangig, sondern ebenfalls vertikal verschoben zueinander ste en. 4. Homogenität und VielVölkermosaik in den asiatischen Gesellschaften. Das Kommunalismus—Problem In Asien gibt es zwar höchst homogene Gesellschaften, wie beispielsweise in Korea oderjapan. Dies ist jedoch eher die Ausnahme. ln der Regel herrscht das Mosaik vor, und zwar nicht nur im Ethnischen, sondern auch in der po— litischen Organisation sowie in der Wirtschaftsweise. Ob in Vietnam, Laos, Indonesien oder Indien: überall gibt es neben dem Hauptvolk noch die zu— meist in Ungunstgebiete abgedrängten «Montagnards», neben der Nation “Och den Stamm und die Sippe, neben der Industrie den Schwendbau und neben der Hochreligion den Animismus A von den Unterschieden in der Sprache, in der Schrift oder der Folklore erst gar nicht zu reden. In Vietnam leben neben den Vietnamesen 51 völkische Minderheiten, die {IO/0 der Gesamteinwohnerschaft ausmachen, in Laos sind es sogar 68, die Zlemlich genau die Hälfte der Bevölkerung stellen”. In «Verdrängungsgebie— 84 Asiatische Gesellschaften und Verbaltensstile ten» wie dem im nordostindischen Bergland liegenden Arunachal Pradesh splittern sich die ca. 500000 dort lebenden Menschen in nicht weniger als 77 rach ru en auf. _ . SpAls %arfäebeispiel fiir einen Vielvölkerstaat darf Indien gelten. Hier Sind praktisch sämtliche Rassen vertreten, angefangen von der negr01d—australoi_ den Urbevölkerung über das drawidische Element bis hm zu den Artern und den Mongolen, die durch die klassischen Einfallstore, den Khyberpaß ,m Nordwesten (Arier) bzw. durch die Assam-und die Brath_13PUtrfl—hbcne im Nordosten, bereits in vorchristlicher Zeit e1ngedrungen smd. Die kontinu- ierlichen Bevölkerungsbewegungen aus Ost und West trafen Sich vor allem im Brahmaputra—Tal, wo sie sich ineinanderschoben und von„wo die poli— tisch schwächeren Teile in die bergigen Randgebiete abgedrangt Wurden. Obwohl der Nordwesten hauptsächlich von den Nachkommender Aner, der Nordosten von den «Indo-Mongolen» und der Süden _ubenv1egend Von Drawidcn bewohnt ist, ergeben sich doch die unterschredhchsten Überlage_ rungen und Vermi5chungen, die sich nicht nur ethmsch, sondern auch im äußeren Habitus auf Anhieb unterscheiden: Auf den ersten Blick scheint es nirgendwo auf der Welt so viele Individualisten wie in Indien zu geben_ im Gegensatz zu den in ihrer Kleidung und ihren Lebensgewohnhencm .laSt «eindimensional» wirkenden Ostasiaten zeigen sich hier die unterschiedlich- sten Trachten, Turbane, Frisuren und Bartformen, die freilich nicht Aus— druck eines persönlichen, sondern eines Gruppen-Individualisrnus sind. 4 Zusätzlich zur Kastenabstufung hat der moderne Kapitalismus fur ein Wohlhabenheitsgefälle gesorgt, das in Indien vornehmlich von West nach Ost verläuft. Daneben die Vielfalt der Religionen: 85 % der Bevolkerung sind hinduistisch, ii% bekennen sich zum Islam (in Indien leben last ge— nauso viele Muslims wie in der Islamischen Republik Pakistan!), 3% zum Christentum und daneben noch kleinere Bevölkerungsanteile zu den ver- schiedensten Animismusformen. Fast unüberschaubar ist die Spraehenviel— falt. In dem noch unter britischer Kolonialherrschaft erarbeiteten «Lingu- istic Survev of India» sind nicht weniger als i79 verschiedene Sprachen und 544 Dialekte aufgelistet » 73 % der Bevölkerung benutzenlSprachen mit indo—arischer und 20% Sprachen mit drawidischer Wurzel . Btif‘elihliii.n_ derweise hat sich im Sprachbabel Indien nicht das Idmm des <4Hindir(jufn tels» (Uttar Pradesh, Bihar) als Lingua franca durchsetzen konnen, Se1tern" [. Wie asiausche Gesellschaften aufgebaut sind 89 mußte die Klassensonde zunächst schon einmal bei den Bauern angegetu werden, wo man, wie etwa in China, schon bald zwischen «Armen und Un- teren Mittelbauern», «Oberen Mittelbauern», «Reichen Bauern» und ‘Gmndbesitzern>> unterschied, in den Städten dagegen zwischen « Kompra— deren” und «Nationaler» Bourgeoisie. Auch in Vietnam, Laos und Kam— bodscha kam es zu solchen künstlichen, geradezu an den Haaren herbeige- zogenen Klassifizierungen. Nun gibt es zwar theoretisch für Länder der Dritten Welt einen «revolu- tionären» Ausweg, den Franrz Fanon“ aufgezeigt hat, nämlich die gemein- same spontane Erhebung gegen Unterdrückung und Ausbeutung, in deren Verlauf sich (ex post) das gemeinsame Klassenbewußtsein im Sinne einer «Klasse für sich» gleichsam prometheisch herauszubilden beginnt. Auf den ersten Blick erscheint dies einleuchtend; denn ideologisch findet der Marxis— mus mit seiner Tendenz, prinzipiell alles Vergangene zu hinterfragen, alles Künftige (soweit es im Zeichen des Marxismus steht) als vollkommen hinzu— stellen und alles Gegenwärtige als gestaltbar zu betrachten, bei fast jedem asiatischen Intellektuellen lebhaften, ja fast magischen Zuspruch. In einer Welt, in der die Tradition allgegenwärtig ist, wo also die Toten weithin über die Lebenden herrschen, muß der Aufruf zur Eigeninitiative und zur Selbst— befreiung wie ein Fanal wirken oder, um einen Ausdruck Raymond Arons zu gebrauchen, wie «Opium für die Intellektuellen». ( Im asiatischen Kontext tauchen allerdings schnell drei Hindernisse auf: Zum einen fällt es nämlich vor allem im hinduistischen und theravadabud— dhistischen Kontext schwer, schöpferische Unzufriedenheit zu erzeugen, die ja bekanntlich nicht nur das Karma für die nächste Existenz verschlechtert, sondern gleichzeitig auch außer acht läßt, daß das gegenwärtige Unglück ja selbstverschuldet ist und zwar durch fehlerhaftes Verhalten in den voran- gegangenen Existenzen. Zum anderen erzeugt Gewalt spontane Gegengewalt, vor allem in Indien. Die indische «Gewaltlosigkeit» (ahimsa) und Toleranz besteht bekanntlich darin, daß sie jede Entwicklungsschicht als solche im Sinne eines Sowohl— Als-auch bestehen läßt und sie nicht etwa («Entweder-oder») auslöscht. (Zur «Verschichtung» S. 33i ff.) Doch wehe, jemand wagte gar mit revolutionärer Gewalt an den historisch eingewachsenen Strukturen zu rütteln! Elementare Gegengewalt wäre die augenblickliche Antwort ‚ Gegengewicht wohlge— merkt der breiten Massen, der gegenüber einige elitiire Leninisten kaum Chancen hätten. Die hinduistische Gesellschaft ist so lange ruhig, wie man Sie in Ruhe läßt; auf Änderungen aber reagiert sie mit einem Inferno von Unduldsamkeit und Brutalität. Zum dritten aber hält die revolutionäre Be— geisterung unter der Leitung charismatischer Volksführer erfahrungsgemäß “Ur kurze Zeit an. Geht der Kampf verloren, handelt man genauso wie in der Vergangenheit, als man den alten Dorfgott. der nichts getaugt hatte, durch einen neuen ersetzte. Wird er dagegen gewonnen, so fallen die Sieger 90 Asiatische Gesellschaften und Verballensstile liebgewordene Traditionen zurück. Mao Zedong, der im Zeichen d des «Egalitarismus» angetreten war, beendete Seine Laufbahn mit einer Orgie des Personenkults — ebenso Kim Ilsung, Ho Chi Minh, Tschoibalsan oder Kaysone Phomvihan. Schnell kehren sie Wieder zurück, die alten Muster, seien es nun die notorischen Fraktionskämpfgj die gebetsmühlenartige Verwendung von marxistischen Formeln und schließlich - am Ende allen Lateins — die «Reformen», die letztlich zur partiellen Wie! derbelebung alter Wertesysteme führen, wie etwa des Metakonfuzigmismiis im reformerischen China. Not und Elend waren seit jeher ein Stigma der asiatischen Bauerngesell- schaften, fiir die es drei Lösungsmöglichkeiten gibt: vegetieren — emigrieren — revoltieren. «Revolten» gehören zur asiatischen Geschichte seit Menschen, gedenken ‚ etwas mehr in den konfuzianischen und verhältnismäßig Wenig in den hinduistischen Gesellschaften. Man sollte sich fragen, ob die bisheri— gen angeblich «sozialistischen» Revolutionen in Asien nicht eher als Spielart jener Bauernaufst'ainde traditionellen Zuschnitts zu werten sind, denen fünf Eigenschaften gemeinsam waren, nämlich auswegloses Elend als Treibsatz, religiöse Verbrämung als Ideologie, Unbestimmtheit der Methoden (es wird schon «irgendwie» gehen!), Magier oder Priester als Anführer und Anbruch eines glückbringenden «tausendjährigen Reichs» als Ziel — daher die Be— zeichnung «chiliastisch!» «Chiliastisehe Bewegungen» dieser Art, die an die Albingenser oder die Waldenser denken lassen, gab es sowohl in japan und China («Gelbe Tur— bane», «Rote Augenbrauen». usw.) als auch in Südostasien: Im kolonialen java kam es im späten ig. und beginnenden zo.jahrhundert zu einer Reihe von antikolonialen Revolten unter Anführern, die als Verkörperung des Ratu adil (ratu: König, adil: gerecht) auftraten. In Thailand war die Ung- MawRebellion von i901 ein typisches Beispiel für die im theravadabuddhi— stischen Bereich häufigen Phi—bumAufstände (phi bun ist der höchst negativ eingefärbte Ausdruck für einen meist mönchischen Anführer)”. All diese Chiliasmen hatten stets den gleichen Ausgang. Nach vulkanartigen Eruptio» nen endeten sie wieder dort, wo sie begonnen hatten: Gewitter ohne reine gende Wirkung, die von der Geschichtsschreibung denn auch als typisChti Elemente eines normalen Zyklus registriert wurden. Offensichtlich bedarf Asien nicht eruptiver Revolutionen, sondern langsam mahlender Rein schnell in der «Massenhme» un (IUCN. Y II. Wie in Asien regiert wird Im folgenden Kapitel sollen nicht die Regierungssysteme einzelner Staaten Sondern die Probleme beschrieben werden, die angesichtg eines aus der Tra—l ditl0_n ererbten «vormodernen» Wertesystems auftreten. Dabei sind neun Bereiche zu behandeln, und zwar unter den Stichworten Stabilität Demo- kratle, staatliche.h.inheit, Macht, Recht, Verhältnis Staat/Kirche» verhältnis zum Militar, politische Philosophie und politische Kultur , I. Zw15chen Personalisierung und Institutionalisierung Wie stabil smd die asiatischen Staaten? Das traditionelle Asien bestand aus einer Girlande von Personalverbands- und nicht etwa aus Territorial—Staaten im Sinne der modernen westlichen Definition. Solche «Staaten» wurden zusammengehalten durch Treueeide oder Tributverhältnisse, durch periodische Rundreisen des Königs durch Entsendung persönlich betrauter Kontrolleure, durch Einforderung «per- sönlicher Garantien», wie sie beispielsweise unter den japanischen Toku— gawa durch Vergeiselung von Familienangehörigen am Hof des Shoguns geleistet wurden, durch Besetzung von Staatsämtern mit Verwandten oder Vertrauten des Königs, durch häufige Rotation der Funktionäre, durch re— gelmafhgen Austausch von Geschenken und Treuegeliibden, durch die Ein- schaltung von Spionen (auch dies vor allem bei den Tokugawa) und durch das Verbot an Beamte, Amter in solchen Gegenden auszuüben, in denen sie geboren wurden — letzteres eine chinesische Dienstrechtstradition, die aller- dings mittels Adoption des betreffenden Beamten durch «Eltern» aus einer anderen Region allzu häufig umgangen wurde. Nicht Freiheit und Unabhän— gigkeit, sondern (freiwilliger) Dienst und Treue, Vasallenverrat und Illoyali— tat waren die zentralen Denkkategorien. Personalverbandsstaaten in diesem Sinne waren die indischen Königreiche d€S Mittelalters mit ihren Maharaja/Samanta (Großkönigs/Nachbarschaftg— ä9nlgS)—Beziehungen, das mittelalterliche japan der Daimyos und Samurais, féfnähäjfpl'iijscmn- Sippen— und Dorfgemeinsgchafts(barangay)—Verbände, und so a zu osgasmnschen «inlandsstaaten» mit ihrer Re15bauernkultm — Staats %ü; as c ine_5ische Kaiserreich; obwohl es namhch dort eine durch fessiofien ungen lgeswbte, also «uberpersonhche» Burokrane gab, die «pro— nem het_fer» Wir te also irgendwo sonst, kam es doch immer Wieder zu ei- igen Tau21ehen zw15chen Palast— und Staatsamtern (zum Beispiel 92 Asiatische Gesellschaften und Verhaltensstile während der Han—Dynastie) sowie zwischen innerem und äußerem Kabinett (Ming-Dynastie)l, wobei sich — sehr zum Verhängnis des Reiches — in der Regel die innere Institution mit ihren Höflmgen, Eunuchen und person- lichen Vertrauten des Kaisers durchsetzte. Die ganze Variationsbreite des Personalverbandsstaates läßt sich vor allem anhand des vorkolonialen Südostasien erfahren: Folgt man der inzwischen eingeb‘i'irgerten Dreiteilung zwischen Naßreis—, Küsten— und Randkulturen’ so hat man damit auch bereits das Rahmenwerk für die drei Basisvarianten des Personalverbandsstaats, nämlich die Patrimonialbürokratie, das «Hafen, Fürstentum»2 und die Stammesfürstentümer der Bergvölker. Klassische Ver_ treter des Naßreis-Staats mit starker Patrimonialbürokratie sind die König_ reiche Zentral— und Ostjavas, aber auch die Reiche von Angkor sowie Von Cham und Annam. In diesen Staaten sorgte der dem Herrscher persönlich verpflichtete Verwaltungsstab für die Durchführung von Kanal— und Deich_ bauten. Hof» und Beamtentum enwickelten in den Kraton(Hofy8üdren eine eigene höfische Tradition, die sich von der «Kleinen Tradition.. der Dorfüberlieferung zunehmend abhob, wobei der König - als Verkörperurig eines Großgottes (Vishnu, Shiva der Avalokiteshvara) — schließlich göttli— chen Rang beanspruchte. Trennung zwischen Dorf und Stadt, Etikette, Sta— tusbetonung, Hofritual, Musik, Kulttanz und höfische Literatur waren für diesen Kulturkreis ebenso kennzeichnend wie die stationäre Lebensweise der Bauern. Die Ausdehnung eines solchen «Staats» hing von der «Königs- treue» der Vasallen ab — ein Unsicherheitsfaktor, von dem die Hafen—Für- stentümer allerdings noch ungleich stärker betroffen waren. Hier, in den Hafenstädten von Malakka, Brunei, Makassar (Südcelebes) oder Bantam, spielte die Bürokratie nur eine untergeordnete Rolle, da ja keine Wasserbau aufgaben zu lösen waren. Hauptberufsgruppen waren hier ferner nicht die Bauern, sondern Händler und Handwerker — beide oft «ausländischer» Her— kunft. Die Macht der einzelnen Hafen—Fürstentümer hing von ihrer Fähig- keit ab, die Handelsrouten zu kontrollieren und zu monopolisieren. An ih- rer Spitze stand zumeist eine malaiisch—arabisch—islamische Aristokratie (Sultanat), deren Einflußmöglichkeiten von — häufig dubiosen - Bündnissen abhing. Was schließlich die Randkulturen anbelangt, in denen Völker lebten, die aus den fruchtbaren Ebenen in die Berge abgedrängt worden waren‚ 50 blieben dort zumeist die alten Stammestraditionen am Leben, die aber eben— falls auf dem Personalverbandsprinzip beruhten. 50 unsicher diese traditionelle Methode der Personalbimiung auch war. 50 zäh erwies sie sich in ihrer Überlebenskraft. In java überdauerte ‚sie jahrhuW dene der Kolonialherrschaft, da es die Niederländische Ostindische KOT“P"" me für durchaus ratsam hielt, selbst zum «Hafen—Fürsten» 7.u werden U“ Sich traditioneller Einziehungs— und Verwertungsmethoden zu bedienen Erst mit der Einführung von Kaffee—, Tee- und Palmölplamagmkultu_fcn gegen Ende des I8.]ahrhunderts auf dem malaiisch—indonesischen Archlpel * I]. Wie in Asien regte" wird 93 soWie von Tabakplantagen auf den Philippinen begann sich das Bl den- Die Investitionen verschlangen riesige Kapitalien und fand “F fin weg— in den traditionellen Hochertragsgebieten, sondern häufi ' enälcltme ‘ Territorien und, für den Kaffee— und Teeanbau, auf Bergen s%aiiij ge egenen galt es, Arbeitskräfte aus Indien und China her;mzuschafferi fs" we'lthren Transporte zu sorgen, Verarbeitungsbetriebe einzurichten La , hl1'r SIC eife „bauen und für einen geregelten Absatz zu sorgen Auf abger äuser au _ bedurften eines modernen Managements sowie eines“ besogld 5“ Beser Art tum5, das den «asiatischen Typ» des Beamten immer mehr übeteln eamtenl In den Kolonialgebieten standen deshalb schon bald zwei Rer Sgertei f men nebeneinander, nämlich die «direkte» Herrschaft in den Pelglerungs ord die «indirekte» Herrschaft der Kolonialherren, die sich der h " aritaligien LIilrl1 ten zur Herrschaft über die Bevölkerung bedienten Auf dieu‘m\läc' enbl' b ein Reservat für die traditionelle Personalverbandsherrschaft“ heise iie' sich nun bis in die nachkoloniale Zeit hinübervererben und fiir 3 ten? dle kräftig ins Kraut schießen konnte. Nicht ganz zu Unrecht weistag(j1 “L‘? el; darauf hin, daß der Fortbestand des Personalismus (zusammen mit hel‘m dem Unternehmertum, Bevölkerungsexplosion und «Landlordismbsf) ?“" der Hauptschwächen der jungen Staaten Südostasiens sei — man sollt Bine zufügen, wohl der meisten asiatischen Staaten; wurde doch imi7u ee ä"‘ antikolonialen Befreiungskämpfe das Personalverbandsmuster übieragll neer belebt. An die Spitze fast aller Emanzipationsbewegungen traten charismatii sche Persönlichkeiten, die von weitverzweigten «Seilschaften» 7estützt waren — man denke an Gandhi, Mao Zedong, Ali jinnah, Ho Chi Minh Sihanouk, Sukarno oder Mujibur Rahman. Sie alle verstanden es eine «Be-, fre1ungs»—Botschaft glaubhaft zu machen, Massenanhang zu finden das Selbstopfer für die «gemeinsame Sache» zu popularisieren und die kulturel— len Mythen und Traditionen für ihre Zwecke zu manipulieren°. Wenn diese Fuhrer1ahrelang durchschlagende Erfolge erzielten, so hing dies mit einigen EÜSÄSÄZEHBESZ€EEÜEC?CÄ zusammen, nämlich mit einem breiten analpha— nen _ d um a s „n ang sowm vor allem mit kulturellen Traditio— P ‚ ln enen das «Halbgottertum» zu Hause war. Kein Wunder, daß der räs<;n(erärult Il;ange Zeit in hoher Blüte stand ‚ besonders kraß in Nordko— de\;tun VC1)m„sung zum gewaltigen Dbervater, ia zur «Sonne» (so die Be- h0ch dgaß diii I\slung)‘ljvuroe. Die zusemen I‘.l’ircn errichteten Statuen smd so chen., Die mid enseTenhzulfeinen hußen allenfalls das Schuhoberleder errei- eine Schar unmeürngy cc 121 jgilt als Geschenk des Puhrers; das Volk bleibt hört, Sein Gebuu? higer.‘ in.r er, die gebannt auf „das Wort des Vorsitzenden in den Zaube {r 5 81118 ist ine nationale Pilgerstatte; seine Ideologie besteht (“Zehntausenä or_rpe n{ «C uche» (Unabhangigkeitskurs) und «Cholhma» Osten auf eh me:1 enpferd»). Auch in China gab es die «Rote Sonne, die im °rsit2endgen t» ( ong anghong taiyang shen). Bilder und Fotografien des wurden Wie Ikonen behandelt; streng verpont war es, eine Zei— 94 Asiatische Gesellschaften und Verbaltensstile tung mit dem Mao—Bild zu knicken, um sie beispielsweise in die. Tasche Zu stecken. Auch in Vietnam gibt es keinen Saal oder Amtsraum ohne “Onkel Ho»-Portrait. Die Herstellung von Ho—Büsten aus Gips, Bronze Oder Stein gehört mit zu den produkt1vsten Industr1ele15tungen. ‚ . Solange der Träger des Charisma lebt, scheint alles in Ordnung. Mit Sei« nem Tod jedoch taucht jedesmal das Bedürfnis nach einer Stabilitätsfördern_ den lnstitutionalisierung der Macht auf, zumal bisweilen auch die Emmy- thologisierung (Mao, Sukarno) nicht lange auf sich warten läßt. Die Frage, wie es nach dem Tod des bisher so Unentbehrlichen denn «nun weitergehen kann», ist nicht nur ein Leitmotiv aller neuen Staaten, sondern auch Gegen- stand eines Gelehrtenstreits: Huntington hat längere Zeit mit seiner «Präto_ rianismu5»ddypothesä meinungsbildend gewirkt: Die meisten Systeme Asiens seien «strukturlos», insofern sie letztlich von der charismatischen Einzelperson abhingen, deren Macht wiederum auf einer ihr persönlich er- gebenen «Armee» — eben einer Prätorianer—Truppe — beruhe. Fast überall habe Personalberrschaft die von den Kolonialherren hinterlassenen Parteien— systeme verdrängt und ein institutionelles Trümmerfeld geschaffen, wie im Thailand Thanom Kittikarchons, dem Kambodscha Lon Nols, dem Birma Ne Wins oder dem Indonesien Suhartos. Die Gegenthese lautet, daß die «Personalisierung» langfristig durch einen Prozeß der «Institutionalisierung» abgelöst wird, wobei die Hoffnung frei- lich weniger auf Parteien oder Parlamente westlichen Zuschnitts, sondern auf die Herausbildung anerkannter Spielregeln zu setzen sei. Parteien sind das Kind pluralistischer Gesellschaften, wie man sie in Asien vergeblich sucht. Dort trifft man statt dessen entweder eine Vielzahl von Seilschaften an, die einander eher persönlich als in der Sache bekämpfen, oder man be— gegnet der Auffassung, daß es am Himmel nur eine Sonne geben darf und nicht zwei oder fünf. Dies ist vor allem in den metakonfuzianischen Gesell- schaften der Fall. Zwar gibt es in der VR China neben der KP noch acht nichtkommunistische «Parteien» und neben der japanischen LDP (Liberal— demokratische Partei) ebenfalls ein Dutzend weiterer Gruppierungen # doch wirklichen Einfluß haben sie allesamt nicht. Nicht «Parteien» (im westlichen Sinne), sondern Spielregeln sind es also, auf die sich die neuen Institutional1— sierungs—Hoffnungen richten müssen. In China gibt es die Kontroverse, ob Personen— und Institutionen-Herr- schaft vorzuziehen sei, übrigens nachweisbar schon seit dem 7.]ahrhundé“- Der Tang—Beamte Liu Zongyuan (773—814) hatte für die Institutionalisie- fung eine Lanze gebrochen, indem er den «Rebellentest» anlegte: am Unter; gang einer Dynastie seien noch allemal illoyale Vasallen schuld gewesen- Ganz im Gegensatz dazu verteidigte 400 jahre später der Beamte Die B‘ ‘“ Seiner Streitschrift «Große Geschichte» die «Zehn Vorteile» des Personal>‘l" Stem8. Der Ming—Gelehrte Gu Yanwu (1613—1682) schließlich forderte “f“; des Entweder-Oder das Sowohl—Als auch (yu fengjian yu junxian): ZUV1e 11. Wie in Asien regzert wm! 95 Institutionalismus gehe auf Kosten persönlicher Loyalität, zuviel Personalis— mus dagegen schade dem Verwaltungsapparat“. Dieses GleichgeWie—htlg_ Postulat ist einfach _in der Theorie, doch schwierig in der Ausführung. Der Versuch der chinesischen Reformer, anstelle der (partikulären) «Personal— die (universelle) Rechtsherrschaft» zu setzen und die Staatsgewalt nicht mehr von Person auf Person, sondern von Amtsträger auf Amtstr’a'ger über— gehen zu lassen,_hat bisher nur bescheidene Erfolge gezeigt. Sogar dynasti— sche Lösungen Sind noch lange nicht von der Tagesordnung verschwunden wie die Fälle Nordkorea (Kim—Familie), Taiwan (hang—Familie) und \'R‘ china (Mm—Familie), vielleicht sogar auch Indien (Nehru—hamilie} zeigen. Auch sonst sind nach Abschluß der antikolonialen Beiteiungskämpfe überall die altvertrauten Familien— und Patronagemuster wieder aufgetaucht , und mit ihnen die Loyalitäten zu jeweils ganz konkreten Bezugsgi'uppen, sei es nun zur Großfamilie und zu den «Cronies» auf den Philippinen, zu den «Cliquen» in Thailand, zu den «Patronen» in Indonesien, zu den militä— rischen Seilschaften (Vietnam, China) und Danweis (z. B. ehemalige Schule klassen) sowie zu den ethnischen Gemeinschaften Sollten diese Personal bindungen Wichtiger geblieben sein als «universalistische» Integrationsflik— toren wie Patriotismus, sozialistische Gesinnung oder aber «Dienst am Volk»? Man muß im asiatischen Kontext zwar umdenken und «Nepotismns» mit «wohlfunktionierende Patronagebeziehungen» sowie «Korruption» mit «Harmonisierung» übersetzen; gleichwohl läßt die Häufigkeit, vor allem aber die Unschuld, mit der «protegiert» und «harmonisierp er'd, immer wieder Zweifel an der Fähigkeit asiatischer Gesellschaften zur lnstitutionali— sierung aufkommen. Und doch gibt es gegenteilige Ansätze: ln Indonesien beispielsweise sieht Liddle7 im Zeichen der «Neuen Ordnung» Suhartos ei? nen gleich vierfachen Hoffnungsschimmer: Zu beobachten sei erstens die Verrechtlichung des lange Zeit höchst willkürlich (gegen Kommunisten und Islam) vorgehenden Polizeiapparats, zweitens eine neue und 1m.iglicl1erweise dauerhaftere Balance zwischen den verschiedenen Teilen des Militärs, der Bürokratie und der (zumeist chinesischen) Geschäftswelt, drittens eine Wachsende Glaubhaftigkeit des Regimes im Zeichen eines geschickt gehand— habten «demokratischen Populismus» und viertens die Itntstehung einer mittlerweile generell akzeptierten politischen Kultur. Suharto habe sich nach dem Umsturz von 1965 zwischen dem «radikalen Populismus» eines Su— kam0 («gelenkte Demokratie»), der Zusammenarbeit mit dem Islam oder ab.“ jener Spielform des «bürokratischen Populismus» entscheiden müssen, Wle fie bereits in jener Maxime des präkolonialen java verankert war, daß der *?Ve15e und kluge Herrscher sein Volk konsultiert». Unter Suharto nahm dläser Populismus Gestalt in Form der «Golkarisierung» an. Die 1971 ge— gründete Regierungspartei Golkar, die sich aus sogenannten «funktionalen Gruppen» (Berufungs- und Standesvcrtretungen incl. Militär) zusammen— 96 Asiatische Gesellschaften und Verbaltensstile Hauptgründungszweck es war, den konventionellen Par- den Segeln zu nehmen, mochte anfangs zwar noch ein Fremdkörper im politischen System gewesen sein, hat sich inzwischen aber zu einem selbstverständlichen Bestandteil des indonesischen Verfassungsle‚ bens entwickelt. Was Indien anbelangt, so setzt sich dort einerseits die «dy‚ nastische» Tradition Nehrus fort, auf der anderen Seite aber gibt es den In— dian Civil Service, dem von Anfang an eine überkommunalistische, allindi- sche Perspektive in die Wiege gelegt worden war — ein institutionalisierung; freundliches Erbe des britischen Kolonialdienstes. setzt und deren teien Wind aus z. Demokratie und Demokratie-Ersatz in Asien a) Der schillernde Demokratiebegnff Obwohl es im traditionellen Asien nie überdörfliche Demokratie gegeben hat, verstehen sich alle 25 Staaten des Kontinents, ob sie nun «parlamenta— risch» oder leninistisch regiert werden, als «Volksherrschaft». Dabei haben die meisten nachkolonialen Staaten nicht nur innerhalb kurzer Zeit alle For— men der ihnen von den Kolonialherren hinterlassenen «Westminster-Demo— kratie», sondern sogar die sich anschließend bildenden autochthonen Demo— kratien abgelegt, sei es, daß das Militär die Macht ergriff (so z.B. in Süd— vietnam, im Kambodscha Lon Nols, in Indonesien nach 1965, in Thailand periodisch seit 1932, in Birma, Pakistan und Bangladesh), sei es, daß sie das «Kriegsrecht» verhängten (Philippinen, Pakistan) oder aber kurzerhand, wie in Indonesien, die Parteienlandschaft auf drei Großgruppierungen zusam- menstutzten und Wahlkämpfe auf kurze Perioden beschränkten, um so die Bevölkerung vor «politischer Unruhe» zu bewahren. In anderen «Demokra- tien» wie in Singapur, wird die politische Opposition durch administrative Angriffe aller Art am kurzen Zügel geführt, und in Malaysia sind Grundfra- gen der Gesellschaftsordnung, die vor allem die Stellung des Malaientum5, der Sultanate und der Minderheiten betreffen, durch Verfassungsergänzung von 1969 der Abstimmung entzogen worden. Unabhängig davon gibt es durchaus demokratische Reservate, wie die 50 gegensatzlichen Beispiele China und Indien zeigen: In China herrscht D? mokratie zwar an der Basis, d.h. im Danwei-Bereich, nicht dagegen "“ Transdanwei—Bereich. In Indien verhält es sich genau umgekehrt: Hier funk“ tionierr Demokratie a la Westminster in höchst eindrucksvoller Weise auf Bündesebene, schon weniger dagegen auf Provinzebene und kaum noch 21} Bezirks- oder Gemeinde(Dorf)—Ebene (zum Absterben der Dorfdemokratle vgl. oben 5. 61 f.). Wenn Indien immmer wieder als «größte Demokratie der Welt»_ gerühmt wird, so hängt dies vor allem mit seinen eindrucksvollen I_“' st1tunonen auf höchster Ebene zusammen — der freien Presse, der freien Of’ 11. Wie m Asien regiert wird 97 fentliChen Diskussion in den Städten und in den Universitäten der k Politi5Ch auftretenden Kongreßpartei und nicht zuletzt auch niit demoiildf)k briti5Ch geprägten Rechtssystem, das von agilen Rechtsanwälten eh dh b wird. Bei näherem Hinsehen wird jedoch schnell deutlich daßg fin (f [ we!t0ffenen Reformern zahlreiche «Regionalfürsten» domiriiere “ä ed efi {eingesponnene Netze mit den dörflichen Grundbesitzern verbiiiidfl‘ Surcd die ihrerseits wiederum kraft vielfältiger Bodenverpachtun >s— und G Aldm ’ leihungsmöglichkeiten ein reichhaltiges Instrumentariufii b ' ' e ver- «ihre» Dörfler zum «richtigen» Wahlverhalten zu verpflichten DSIILKIi', um lismus wird auf Kosten der Demokratie zur Basis hin immer-stäek läge; selbst an der Spitze hat die schöne Politur der Demokratie in den lertzetr-n Ja;- ren durch einen allzu häufigen Gebrauch der Bundesexekution e inüber den Provinzen, durch Verhängung des Ausnahmezustands, dur<%thresse- zensur und Pohze1e1nsatz erhebliche Schrammen abbekommen. b) Demokratie «von oben» Demokratie beschränkt sich in Asien zumeist auf die kleine und überschau- bare Zelle, während sie im «Transdanwei—Bereich» manipuliert wird Hier— für drei Beispiele: . Da ist erstens der Volksentscheid, der häufig schon anstelle von Wahlen durchgeführt wurde. Seit dem Ende der Kolonialzeit haben nicht weniger als elf asiatische Staaten Plebiszite veranstaltet — wohlgemcrkt nicht Volksbegeh— ren, sondern Volksentscheide —, und zwar Bangladesch, Birma, Kambo— dscha, die Malediven, Nepal, Pakistan, die Philippinen, die Republik Korea, Smgapur, Südvietnam und Sri Lanka. Besonders plebiszitvcrliebt waren drei Staaten, nämlich das Kambodscha Sihanouks und Lon Nols (4mal), die Repu— blik Korea (;mal) und die Philippinen (gleich 13mal, und zwar izmal unter Marcos und einmal unter Corazon Aquino). Dabei ging es entweder um die Billigung verfassungsrechtlicher Innovationen (z. B. die Ratifizierung neuer Verfassungen auf den Malediven (1968), in Birma (1973) oder auf den Philip- pinen (1986), des weiteren um den Anschluß Singapurs an Malaysia (1962) Sowie um die Wiedereinführung des Panchayat—Systems in Nepal) oder aber, Weltaus häufiger, um nachträgliche Akklamationen für erfolgreich verlaufene Staatsstreiche (Pakistan 1960 und 198g, Bangladesch 1977 und 1985). In eini— gen amatischen Ländern, vor allem auf den Philippinen, in Südkorea, in Paki— Stan und Bangladesch, zeigt sich schon heute eine Tendenz, das Plebiszit mehr ‘"!d mehr an die Stelle von Wahlen zu setzen. Volksentscheide haben ja zahl— irCIChe Vorteile: sie können ohne lange Vorbereitungszeit und ohne Wahl— N3IT_lpf abgehalten werden, sie verlangen vom «Wähler» lediglich ein «Ja oder laiii?’ wobei ihm das jagdurch ein Trommelfeuer regierungsoffizieller Ver— m hru_ngen schmackhaft gemacht wird, und sie lassen sich mit Leichtigkeit anlpuheren, so daß 95—‘Vo—Ergebnisse keine Seltenheit sinds. In «Volksdemokratien» und «sozialistischen» Staaten wiederum nimmt der Volksentscheid schnell die Form der Kampagne (chin.: «yundong„) an die durch vier Strukturmerkmale gekennzeichnet ist, nämlich durch Kpj Führung, durch ein prozessuales Vier—Takt—Schema, durch eine «revolinio_ näre Umgebung» und durch zeitliche Eingrenzung. In China haben zwi\ sehen 1949 und 1978 rund dreißig solcher Großkampagnen stattgernden9_ Zwar haben die Reformer versucht, die Yundong durch eine (Zeitlich unbe_ grenzte) permanente Strukturreform zu ersetzen, de facto aber ist die Kam— pagne keineswegs tot, sondern lodert immer wieder hoch — man denke an die Bewegung gegen «geistige Verschmutzung» (1984ff.) oder gegen den «bürgerlichen Liberalismus» (1987). Ahnliche Kampagnen, die in Wirklich keit nicht Volks—, sondern Parteibewegungen sind, finden auch in Vietnam, Korea, Kambodscha und Laos statt. Man kann sogar behaupten, daß die Yundong drei jahrzehnte lang das Hauptsteuerungsinstrument der jewei]it gen KP gegenüber den «Volksmassen» waren. Eine dritte Möglichkeit ist die Mythenbeschwörung durch Neuinterpreta_ tion traditioneller «Demokratie»—Vorstellungm. Ein typisches Beispiel hier» für ist der Umgang ]akartas mit den Begriffen «Musiawarah» (_Einmütigkeir der Beschlußfassung), «Koperasi» (Zusammenarbeit), «Mufakat» (allseirige Zustimmung) und «Gotong royong» (wechsel;enige Hilfe), die sowohl zur Zeit Sukarnos als auch unter Suharto zum tagtägüchen Politvokabular ge_ hörten und gehören, wobei unterstellt wird, daß es sich hier um selbstver— ständliche Lebensphilosophien des indonesischen Volkes handle, die ledig— lich Während der Kolonialzeit etwas notleidend gewesen seien. Da die Be; griffe schwammig sind, lassen sie eine doppelte Interpretation zu: Man kann sie als Ausdruck echter Dorfdemokratie (von unten her) (so z.B. Mohamed Hana) oder aber als «enge Verbundenheit zwischen dem Volk und seinen Führern» (so der Adat—Experte Suporno), d.h. also im Sinne einer «Demo— kratie von oben»'°‚ interpretieren. Es muß nicht weiter verwundern, daß sich in der politischen Praxis die letztere Alternative durchgesetzt hat. Vor allem Sukarno verstand es meisterhaft, das Gotong royong für die Rechtfer- tigung seiner zunehmend autorit'a'ren Führungsmethoden zu verwerten. 1959 wurde das gewählte Parlament durch ein «Gotong royong»—Parl.iment ersetzt, wie Gotong royong ja überhaupt als Alternative zu dem vielg€- schmähten «Liberalismus» westlicher Prägung in Erscheinung trat. In einer Gesellschaft wie der javanischen, wo Gruppenbeziehungen fast ausschließ» lich vertikalen Strukturmustern gehorchen, sollte Gotong royong zum KH- stallisationspunkt für horizontal angelegte Verbindungen werden, so zum Beispiel für das berühmte NASAKOM—Konzept, das Nasionalisme, Sarekat (Religion) und Kommunisme miteinander verband, Auch unter der «Neuen Ordnlmg» Suhartos, die nach dem «Zwischenfall vom 30. September» 1965 begann, blieb Gotong royong ein beliebtes Schlagwort, vor allem wenn 51Ch dm Regierung an die Bauern wandte. Die «Inpres Desa» (Abkürzung von 98 Asiatische Gesellschaften und Verbaltensstile ' “ [I. Wie in Asien regiert wird habe Diese Sonderform des ventionscharakter an — eine Tendenz, di _ _ lung», Später aber von «Mobilisie— rung» (menggeakkan) der Dörfer die Rede war. . Die in der Inpres Desa zum Ausdruck kommende Idee der Staatsmterventio _ . n War Teil einer Politik der in ganz Asren gepflegten «selektiven Tradition» ’ _ _ ‚ mit deren Hilfe moderne Nationalstaaten versuchen, die Kluft zw15chen ” entrale und Peripherie im Geiste «demokratischer Traditionen» zu überbrücken. ;) Demokratie «von unten»: Formen spontaner Mitbestimmungwermcbe An die Stelle traditioneller Elitegruppen — der Mandarin lahs und buddhistischen Mönche — ' ‘ meist westlich erzogene nationale ' tsia» bezeichnet wird. Fast all ihren ' rischem», «sozialistischem» oder militärisch—autokratische getreten Sind, ist gemeinsam daß s' Vonoben verfügen ( Philippinen: Kriegsr aber gleichzeitig von €“: der privatwirtschaftliche Sektor in Thailand Katholische Kirche a “uf der geringste Ma hen, deren Ziel es 2 um zu brechen, so echt im Zeichen der Marcos—Herrschaft) d, Indonesien und aufden Philippinen, also in Thailand: Bürokratie und Militär, Indonesien: Militär, , in denen sich der Basis her neue politische Kraftfelder aufgebaut ha- und Indonesien oder die uf den Philippinen. Sobald sich in diesen Ländern auch növrierraum auftut, regen sich auch schon Organisatio— u sein pflegt, nicht etwa die «große Revolution» vom ndern gesellschaftliche ÄnderUngen in kleinen Schritten Asiatische Gesellschaften und Verbalrensstila 100 zu versuchen, wobei die verschiedensten Aufgaben .— vom\Verbraucher_ schutz über den Kampf gegen Umweltverpestung bis hin zur Slumsaniernng _ in Angriff genommen werden. ' \ In aller Regel handelt es sich hier um autonome Gruppen außerhalb des traditionellen Spektrums politischer Parteien, die auf die Durchsetzung Von Grundbedürfnissen abzielen und zu diesem Zweck 0rganrsatmnx— sowie Be— wußtseinsarbeit leisten, wobei sie finanziell zumeist auf eigenen Beinen ste» hen und ihre Gründung regionaler, also nicht etwa gesamtnanonaler Initiative verdanken. Auf den Philippinen verstehen sich solche Gruppen nahc7u aus— nahmslos als Vertreter der Volks—, nicht der Amtsk1rche und betreiben als solche weniger Glaubensverkündigung als vielmehr souale Hilfsdienste. Langfristig könnten diese bisher noch als «Einzelkämpfer» hervortreu-n_ den Gruppen zu Keimen einer neuen sozialen Bewegung werden, falls sie nämlich über ihre Region hinauswachsen und vorsichtig genug sind, den schmalen Steg zwischen regierungsaffirmativem und rkritischem Verhalten nicht zu verlassen. NROs greifen nicht nur Randgruppenprobleme auf, son— dern tasten sich allmählich zu all jenen zentralen Fragenbereichen vor, dic von den etablierten Regierungen nicht gelöst werden können —— angefangen von der Sanierung der Shanty Towns bis hin zum Umweltschutz oder der Frauenbefreiung“. In den metakonfuzianischen Gesellschaften müssen sie sich, wenn sie erfolgreich sein wollen, innerhalb des Danwei—Rahmenx be» wegen, da sie in der Transdanwei—Sphäre von der Bürokratie augenblicklich als unerwünschte Konkurrenz betrachtet und als solche bekämpft wurden. Eine Sozialrevolution dürften die NROS kaum bewirken, wohl aber könnte es ihnen gelingen, basisdemokratische Abhilfen in vielen bisher ungeliis‘ten Problemgebieten zu leisten und überdies den Regierungen das Gesetz so7i.r len Handelns aufzuzwingen. Eine vielbeachtete Robin—Hood—Rolle spielen, zweitens, die Studentmibe— Wegungen. Wo die Massenmedien ängsdich, die parlamentarische Qppos1— tion schwach und die Gewerkschaften rudimentär sind, kommt den Studen— ten häufig die Rolle eines «öffentlichen Gewissens» zu. Mit ihren Kommili‘ tonen im Westen teilen sie die Neigung, schnelle und möglichst kompromilt— lose Lösungen zu verlangen. Angesichts der meist zentralen Lage der Unit versitäten ist es kein Wunder, daß Studenten bisher noch bei allen Wichtiger1 nationalen Ereignissen lautstark mit von der Partie waren, sei es nun bein; Widerstandskampf gegen die früheren Kolonialmächte (Indien, Vietnam url“ Indonesien), beim Sturm auf die let7ten Festen des Konfuzmmsrnus w.ni rend der «4. Mai—Bewegung» (1919), bei der Gründung von Pakistan uns Bangladesch, beim Kampf um die Einführung der Bahasa lntloncm.ly.ll* l\ält tionalsPrache der neugegründeten Republik Indonesien, beim Aufbau (LS nati0milistischen Bewegung in Birma während der 7‚Wan7‚iger jahre uni überhauPt bei der Gründung nahezu aller KPs in den asiatischen l.;iiitlt't'n; so waren z.B. die Vorklimpfer und Mitbegründer der KP Chinas zunit15 [I. Wie in Asien regiert wird 101 Professoren und Studenten der Universität Peking. Ob es in Südkorea um den Kampf für direkte Präsidentschaftswahlen, in der VR China um «mehr Demokratie», in Pakistan um weniger Militärherrschaft oder aber in Indone- sign um weniger «Korruption» geht — stets stehen Studenten an der Spitze solcher Bewegungen. Kein Wunder, daß die Regierenden die Studentenbewe- gungen als veritable Macht empfinden und respektvol] mit ihnen umgehen (bei den Studentendemonstrationen vom Dezember i986 in Peking wurde bei5pielsweise kein einziger Student verhaftet), zumal so mancher studenti- sche Protagonist aus einer Politikerfamilie stammt und es überdies selbst bei aufgeklärten Politikern als ausgemacht gilt, daß Studentendemonstrationen eine Art Fingerzeig des Himmels sind (Näheres dazu S. I izf.)_ Auch glaubt man zu wissen, daß die meisten radikalen Studentenführer sich in nicht ferner Zukunft bereits lammfromm in die künftige Betriebs» oder Bürofamilie ein— ordnen. Hier «universitäre Freiheit», dort «betriebliche Disziplin»: das «zhengming» (vgl. dazu 5. i47ff.) findet auch hier eine erneute Bestätigung. Ist in Indien die studentische Aktivität zumeist campusgebunclen‚ verläßt sie in den metakonfuzianischen Ländern den Campusrahmen: man will hier in den Transdanwei—Bereich hinüberwirken. Während ferner die meisten asiatischen Studentenbewegungen «Anti-Establishment»—Charakter tragen und deshalb fast automatisch linksorientiert sind, hat sich in den malaiischen Ländern unter dem Einfluß des islamischen Fundamentalismus eine «rechte» Stoßrichtung zur Wiederbelebung islamischer Werte entfaltet, die fast auto- matisch die Sultanatsverfassung bestätigt. Ein drittes «basisdemokratisches» Potential sind die Geheimgesellschaf- ten, die in der Vergangenheit überall dort entstanden, wo kein reguläres Druckausgleichsventil vorhanden war — vor allem in den konfuzianischen Ländern. Obwohl Geheimgesellschaften (sihui, wörtl.: «private Vereinigun- gen») fast immer politisch motiviert waren, pflegten sie nach außen unter religiösem Vorzeichen aufzutreten. Mit zu den berühmtesten Krypto—Orga— nisationen, die sogar Reichsgeschichte machten, gehörten die während der Han-Dynastie aktiven «Roten Augenbrauen» (zhimei) —— so genannt, weil sie manchmal ihre Augenbrauen zu färben pflegten —« sowie die «Gelben Tur- bine». Die «Gesellschaft der älteren Brüder» (gelaohui) war eine Vereini- gung, die sich in der Tradition der populären «Drei Schwurbrüder vom Pfir- SiCllgarten» (3. nachchr. Jahrhundert) sah. die < sche» (matsnyaya) folgend, iahrhundertelang gegenseitig auf, bis Zum Schluß jeweils nur noch ein Großstaat übrigblieb, nämlich in China daS Reich des Ersten Kaisers mit dem Dynastienamen Qin, das allerdings nur kurze '["it (221 bis 206 v.Chr.) dauerte, um sodann von der machtvollcn 1_f‘m‘Dynastie (205 v.Chr. bis 220 ri. Chr.) abgelöst zu werden, und in In‘ die“ die Maurya—Dynastie (320 bis 185 v.Chr.). Kent Zufall auch, daß beide Kulturbereiche fast zur gleichen Zeit ($" V0rChr- Jahrhundert) «machiavellistische» Standardwerke hervorgebracht I]. Wie in Asien regiert wm! 103 haben, die sich in vielen Punkten ähneln, nämlich in China einige Kompem dien der sog. «Rechtsschule» (fajia), vor allem aber die «Kriegskunst» des Sun Zi, aus dem noch 2500 Jahre später Mao Zedong schöpfen sollte in In— dien das Arthashastra («Nutzen—Lehre»), aus dem die Könige Wirtschaftli- che, militärische und politische Lehren ziehen konnten. Beide Beamten— und Fürstenspiegel orientierten sich ausschließlich an der <Ötaatsraison» und wa— ren gänzlich frei von moralischen Bedenken. Beide Standardwerke leisteten zwar hervorragende Dienste bei der Macht- ergreifung, wurden dann aber, als das Ziel erreicht war, sogleich durch hoch- moralische Gegenlehren konterkariert, nämlich in China durch den Konfu- zianismus, der unter den Han zur Staatsdoktrin wurde, in Indien aber durch den Selbsterlösungsbuddhismus, der unter dem deCU‘L'CHLISICH Kaiser der Maurya—Dynastie, Ashoka (268 bis 233 v. Chr.), den Charakter einer Staats— religion annahm. In beiden Reichen hatte man offensichtlich das Gefühl, daß sich auf Skrupellosigkeit und sehrankenlose Snmrsmmm allein kein Weltre1ch bauen ließ. In China kam die staatsphilosophische Umschaltung übrigens der Einigung aufs vorte1lhafteste zugute: i\lorhte der Erste Kaiser den Zentralstaat auch begründet haben, so wurde seine Bewahrung doch erst durch den im Konfuzianertum angelegten «pyramidalen Analogismus» möglich (Näheres dazu S. 66f.). Indien umgekehrt, das den Staatsbuddhis— mus Ashokas schon bald wieder in Vergessenheit geraten ließ und zum «Ge— setz der Fische» zurückkehrte, bezahlte diesen Schritt mit dauerndem Zer- fall in einander bekämpfende Reiche. So ähnlich die Anfänge gewesen sein mOchten, so »erschieden fiel die wei- tere Entwicklung aus. Während nämlich in China der Zeritralstaat zur Nor— malität, die Spaltung aber zur Ausnahme wurde, war es in Indien gerade umgekehrt. Von den 2132 Jahren, die zwischen dem Anfang der Qin— und dem Ende der Qing-Dynastien lagen, standen 1718 im Zeichen der Einheit und nur 414 jahre im Zeichen der Spaltung. Blickt man andererseits auf die indischen Dynastien, so kann man überhaupt nur bei dreien von ihnen, nämlich der Maurya— (320 bis 185 v. Chr.), der Gupta— (320 bis 535 n. Chr.) und der MoghuI—Dynastie (1525—1857) von Großreichen sprechen. Ver— gleichbar mit dem Zentralisierungsgrad des chinesischen Reiches sind frei— lich allenfalls die Mauryas unter Ashoka (273 bis 236 v.Chr.), die Guptas unter Candragupta II. (37; bis 413 n. Chr.) und die Moghulen unter Akbar (1556—1605) und Aurangzeb (16584707). Von den 2177 jahren zwischen dem Beginn der Maurya— und dem Ende der Mogliul—Ii)ynastie lassen sich also nur 163 «Zentralismus»—jahre ausmachen. Verglichen mit China, wo das Verhältnis bei 4 : 1 liegt, wären die Zeiten des zentralen Einheitsstaates al.50s‘.1uantité négligeable — 1 : 13. Freilich sollte man nicht versehweigen, daß die einzelnen in der Vorherrschaft einander ablösenden Reiche Indiens in ih— rem Stammesgebiet, also regional, stets aufs solideste verankert waren, auch wenn die dynastischen Träger wechselten. 104 Asiatische Gesellschaften und Verhaltensstile In der chinesischen Gesehichtsschreibung gelten die großen Einheitsrei_ che der Han, Tang, Song und Ming als Leitbilder, während die Epochen der Dezentralisierung und der Spaltung allemal als «anomal» eingestuft Winden Mochte es durch äußere Einwirkungen oder durch innere Spannungen auch immer wieder zur Aufteilung in drei, fünf, ja sogar sieben Teile kommen: am Ende stand doch jedesmal wieder die Reichseinheit, deren Bannerträger be_ zeidmenderweise das Mandarinat war. Durch die chinesische Geschichte zieht sich denn auch wie ein roter Faden die Erfahrung, daß der Zentralis— mus immer dann besonders vital war, wenn das Mandarinat in Blüte stand und immer dann zu leiden begann, wenn das — zumeist in den Außenregigi nen starke — Militär an Einfluß gewann. Unter dem Einfluß der europäischen Geschichtsschreibung neigten auch indische Historiker eine Zeitlang dazu, ihre wenigen Einheitsreiche als volL kommen, den mittelalterlichen Polyzentrismus aber als Degenerationser— scheinung zu deuten. Diese Auffassung hat aber, wie Kulke” überzeugend darlegt, inzwischen einer gegenläufigen Interpretation Platz gemacht. Heute besteht eine Tendenz, gerade das hinduistische Mittelalter als einen Höhe— punkt gesamtindischer Geschichte zu betrachten, da damals, im Gegensatz zu den Großreichen des Altertums, die ausschließlich im Norden des Lan— des angesiedelt waren, zum erstenmal auch Zentral— und Südindien gleichbe— rechtigt mit ins Spiel kamen und da diese Vielheit von konkurrierenden Kräften überdies zur Herausbildung jener farbigen Regionalkulturen führte, die bis heute das faszinierende Prisma der indischen Kultur ausmachen. Großindien (Bharat) reicht, weitherzig interpretiert, von Westpakistan bis zu den Grenzen Birmas und von den Himalaya—Fürstentümern bis hinunter zu den Malediven. Auch wenn bisweilen großindische Träume aufkommen mögen: weitaus besser paßt die Selbständigkeit der sieben Staaten Südasiens ins historisch gewachsene Regionalismusbild, zumal das Territorialdenken selbst innerhalb der Indischen Union kraftvoll weiterlebt, nicht zuletzt bei den regionalen Parteien, die ihre Wählerschaft immer nur in bestimmten Schwerpunktgebieten haben, so daß ihre Wiederwahl nur dann gesichert ist, Wenn sie mit dem regionalen Pfund wuchern. Sogar einige auf den ersten Blick höchst gesamtnationale Parteien, wie die CPM (Communist Party/Marxists), die Muslim League und die Swatantra Party sind weitgehend regional veran» kert, so z.B. die CPM in Kerala und Westbengalen, die Muslim League in Kerala und die Swatantra Party in Orissa. Die CPI (Communist Party Of India) schließlich forderte Anfang der fünfzigerjahre gar einen selbständigen «State of Andhra». Die einzige Partei, die wirklich als Bannerträg“ des Unionsgedankens gelten darf und die sich schon deshalb in einem Dauer— ClinCh mit den Regionalparteien befindet, ist die Congress Party. Sie allL’In aI’Pelliffn bis heute an sämtliche Regionen, vermag ihren Unionskurs freilich nur deshalb durchzuhalten, weil sie fast überall regionale Eliten für sich ge— wmnen konnte. Da ein Großteil dieser Gefolgsleute sich freilich aus Indu‘ 11. Wie in Asien regiert wzra' 105 striellen und Grundbesitzern rekrutiert, deren Interessen mit denen der ar- men Bevölkerungsschichten alles andere als identisch sind, hat man am Ende die Bezwingung der regionalen Hydra mit unsozialer Politik zu bezahlen”. Zusätzlich ist die indische Verfassung mit zentralistischen Erzwingungsin- Strumenten ausgestattet worden, die nicht immer Beifall finden. Kenner der indischen Verfassung” haben nicht weniger als 16 einheitsstaatliche Hebel a„gemacht, wobei die Gesetzgebungszust'a'ndigkeit, die zentrale Rekrutie— rung der Beamtenschaft sowie der Armee, vor allem aber die «President’s Rule» besonders wirkungsvoll sind: Mit Hilfe der Präsidentenerlasse kann die Zentralregierung Notstandsmaßnahmen in den einzelnen Staaten ver— hängen und unter dem «dünnen Mäntelchen der Legalität . .. die politische Gleichschaltung betreiben» — dies ist bisher schon weit über zwei Dutzend Male geschehen“. Gleichwohl bleiben die Zentrifugalkr'a'fte gefährlich! Dem indischen Muster folgen die meisten Staaten Süd— und Südostasiens. 4. Zwischen «Machen» und «Wirken»: Macht in Asien a) Das über/eommene Verständnis von «Macht» Kein traditioneller Asiate wäre je auf die Idee gekommen, daß Macht auf persönlicher, physischer oder psychischer Überlegenheit einer Einzelperson beruhen und daß sie sich wesentlich durch direkten Zwang mitteilen könnte. Vielmehr galt sie als Metapher numinoser Kraftansammlung, die indirekt zur Geltung kommt. Wer sich ein animistisches Empfinden bewahrt hat, er- lebt seine Umwelt als «elektrisch geladenes» Feld, von dem Spannungen und respektgebietende «Machtäußerungen» ausgehen, sei es nun von «heiligen» Steinen, Bäumen, Tieren oder elementaren Naturerscheinungen wie Gewit- ter und Donner, nicht zuletzt aber auch von Menschen, die Herrscherfunk— tionen übernommen haben. Diese animistische, ja z. T. präanimistische Tra— dition wurde durch die spätere Einführung der Hochreligionen keineswegs ausgelöscht, sondern erfuhr nun sogar eine zusätzliche Bestätigung: Für den gläubigen Buddhisten beispielsweise hängt die Macht einer Persönlichkeit mit ihren karmischen Verdiensten aus früheren Existenzen zusammen. Im Islam gilt sie als von Gott verliehen und im Konfuzianismus als automati— sche Folge eines «himmelsgemäßen», weil rituell korrekten Verhaltens des Herrschenden (dazu oben S. 33ff.). Bei den Legalisten ist sie Ergebnis «rich— tiger» Gesetze und beim Spätkonfuzianer Xun Zi das Resultat konsequenter Erziehung und korrekter «Bezeichnungen» (zum Zhengming vgl. S. I47ff.). N.?!Ch hinduistischer Auffassung schließlich gilt Macht als «zugeflossen». Diese Sichtweise hat sich vor allem im einst hinduistischen java erhalten und 561 deshalb hier im javanischen Kontext erläutert. In dreifacher Hinsicht un- terscheidet sich der javanische vom westlichen Machtbegriff: 106 Asiatische Gesellschaften und Verhaltensstile Macht als göttliche Energie Nach europäischer Auffassung ist Macht ein Phänomen, das von MCHSChe„ auf Menschen wirkt und das deshalb bekanntlich von Max Weber als Chance definiert wurde, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen 3UCh gegen das Widerstreben anderer durchzusetzen, gleichviel, Worauf diese Chance beruht. Im Gegensatz dazu galt/gilt in Java, aber auch in China, Macht als eine außermenschliche, weil göttliche («himmlische») linergicy die dahinfließt und sich vorübergehend an numinosen Orten, auf (ie— genständen oder aber in «berufenen» Menschen konzentriert. Qualitativ ist sie unteilbar, quantitativ unveränderlich: fließt sie dem einen zu, so verläßt sie den anderen und umgekehrt— ein Nullsummenspiel. Macht entfaltet sich äußerlich (Vitalität, langes Leben, <" bru€h, der auf eine längere Etappe der Lethargie und «Apathie» folgtl! D“ Mächtige übt sich darüber hinaus gerne in Geheimniskrämerei. lnformatm’ nen werden manipulativ eingesetzt. Außerdem sind Aktionen aus hClt€rcm Himmel beliebt. Beides hat eine gemeinsame Wurzel, nämlich den Glaubcm daß Wissen und Initiative Ausdruck von «Macht» sind. ständig * 11. Wie in Asien regiert wird 107 Auf den Philippinen wird das Nullsummens i , . . __ _ gen Schuß Fatalismus angereichert. Ähnlich E,ieel Eiflliitiärrjceliniinteiigeht)fri- und beim Lotter1espiel schaltet man sich auch vehement in ol'e. ‘I‘hamÄ en einandersetzungen ein. Die Filipinos «essen, trinken und atmi itiscfeuhlgs._ spät Politik», die vielleicht freilich ebenfalls nur der Ausdy 1\on ru is hemmt” Fre“de am Glücksspiel ist”. Wie beim Glückss ff einer urigei der eine, was der andere verliert. Politische Ämtcr‘ vor alilei)ntd agu(;1 gßefvmnt meisters, amd eine Angelegenheit tiefer emotionaler Befrilbd'is urgeré gleichzeitig auch eine Gelegenheit zu materiellem Gewinn ie igpngRunl sind politische Führer Angehörige einer einflußreichen Si e d“. 3 e}i; eg? ner Fraktion der einen oder anderen Partei bekennen. Hieijfit.’r “ehSic_ zu..el_ diger Konkurrenzkampf, der am Ende «alles durchdrin yend,f5c jt;l]r(l) stän- ständige Kampf um politische Ämter steht im Mittelpunkt des [Wlr t . ir ler Bevölkerungsschichten. Bezeichnenderweise geht es hier 1)r2telre‘srses fl _ derum nicht um Sachfragen, sondern um Personen die h‘ it at ic w1-e_ stehen und denen die Macht zufließt! ‘ im“ er POlmk Macht als Voraussetzung wirtschaftlichen Erfolgs Macht ist nach westlichem Verständnis das Ergebnis von Wirtschaftli‘h Potenz, militärischer Stärke und zwischenmenschlichem Durchset7uri s£veir mögen. Nach javanischer Auffassung ist Macht dagegen nicht Folge sfb‘ek— tiver Qualitäten, sondern gerade umgekehrt die objektive Voraussetzun ifür wmschaftlichen Einfluß, militärische Stärke und zwischennienschliihes Charisma. Der «Mächtige» wird zum Magneten, der die Macht und ihre At— tribute an Sich zieht. Grundsätzlich gewährt Macht sich von selbst. Aller— dings kann der einzelne durch Askese und Meditation zum Gefäß werden Wie er umgekehrt durch ungezügelte Lebensführung jeder Chance verlustig geht. In China hat Macht, wer dem Dao folgt, wobei streitig ist, ob das Dao in der Befolgung der geheiligten Rituale (Konfuzianismus) oder im «Eintau— chen» in die Natur (Daoismus) besteht. Macht legitimiert sich selbst lelicclll] Yä5tlichfir Au£fassung muß sich Macht durch \X’ohlfalntsleistungen, rekte Einfirrte undg es Reiches Gottes auf Erden» oder aberjdurch die kor- Legitimitäta{tunyg emokranscher Spielregeln legnnmeren, w1e_ ja überhaupt hen_ Nach il.raä,en imhMittelpunkt der eurtipaischen Staatsph1losophm ste— gen gan7 VOm ulLstisc —javanischer Auffassung legltlnllt’rt Macht Sich dage— nicht we.rm n sel st, immerhin ist Sie ja gt)ttljcheri Ursprungs. Macht kann uud bedarf 3uti;}a llsjcin, Sie ist als SOlih‘i gut. Sie geht nicht «vom Volke aus» gewiß ei e es a auch keiner «SI Augen Zustimmung». Dies füyhrtgzu der fern sie gelnartigle)n Konsequenz, daß Machtergreifung stets legitim ist, so— einmal ag) t1)ngt. fie Bevolkerung wartet deshalb logischerweise immer erst , evor sie sich einem neuen Machttrager anschließt. Diese «reflek- 103 Asiatische Gesellschaften und Verbaltensstile tive Passivität» zeigt sich u. a. beim Aufstand der indonesischen Kommuni_ sten von 1965, obwohl er von gut zehn Millionen Sympathisanten getragen war. Als deutlich wurde, daß die Erhebung erfolglos bleiben würde War jede Sympathie der nicht aktiv Beteiligten im Nu vergessenzo. Obwohl Macht also eo ipso legitim ist, will dies noch lange nicht heißen daß jede Art von Machtausübung von den Untertanen auch wirklich gu[ge_l heißen wird. Akzeptabel erscheint sie nur, wenn sie ohne unerträgliche (ie» waltmaßnahmen und mit positivem Erfolg (Wohlstand und Gerechtigkeit für alle) ausgeübt wird, wenn sie also in wohltuendem Sinne wirkt Unter diesen Umständen werden sogar politischer Kuhhandel und Korruption lange Zeit geduldig in Kauf genommen. Beginnt die Obrigkeit das Volk frei— lich zu tyrannisieren, so gilt dies als Zeichen dafür, daß die «Macht» woan_ dershin zu «fließen» beginnt. Wer mit Gewalt an der Macht bleiben will, hat es nötig. Nun ist es keine Sünde mehr. den Gehorsam zu verweigern und passiven Widerstand zu leisten, der von der schlichten Nichtausführung VO„ Befehlen bis hin zur Flucht ganzer Dörfer vor dem Zugriff der Obrigkeit reichen kann. b) Eigenschaften und Umwelt des «Herrschers» Machtinhaber sind keine gewöhnlichen Menschen, sondern höhere Wesen, zu denen man mit Scheu aufblickt und denen man übrigens auch gerne ge- horcht. Der indische «Gottkönig» (devaraja) und der chinesische «Himmelssohn» (tianzi) stellten die Verbindung zwischen Diesseits und jenseits her. Dies hatte Konsequenzen für die Person, die Umgebung und das Ritual des Herr schers: Was die Person anbelangt, so tritt der Mächtige mit Attributen auf. die ihn für die Bevölkerung als solchen erkennbar werden lassen: Er führt. wie in China, ein streng ritengemäßes Leben oder er bedient sich, wie in java, klassischer Wayang(Schattenspiel)—Rituale, —Symbole oder —Sprauh— elemente; er führt ein Leben der Askese und Meditation. der rituellen Reini- gung und der sexuellen Enthaltsamkeit; er «besetzt» die Tradition und macht Sie dadurch seinen Konkurrenten unzugänglich; er besitzt strahlende Augen und verströmt Charisma. Zum klassischen Vertreter des «Mächtigen» ist in den ersten jahren der Republik Indonesien Ahmed Sukarno geworden, der in weiten Kreisen der Bevölkerung als Wiederverkörperung des sagenhaftcn «Gerechten Königs» (ratu adil) galt. Zu ihm strömte die Bevölkerung, wann immer möglich, um seinen Segen zu empfangen und sich die Hand auflchn Zu lassen. Selbst während der Unterhaltung mit ausländischen Gästen pfleg- ten Kinder oder schwangere Frauen an ihtn vorbeizudefilieren, um sich bt" fuhren und den göttlichen Funken auf sich überspringen zu lassen“. Mine de‘ Sechziger Jahre freilich begann die Macht für jedermann sichtbar WiCd_er von Ihm <Ubaif “ff" ““ de5ha"’ dem “Ge' se » n e or - ' " ' (oder wöchentlich) auf Märkten, im Tempäl‚ auf dini 3311 tr3f SlCh taghCh latz unter dem Banyangbaum oder bei d — m orfversammlungs- P 1 b wurde h' _ d en gießen Prozesaonen. Das Zu- sam}gien}e len . R h 1er wgmger urch Rechtsbesnmmungen als durch Wo ver a ter; m;) aRmfin 11 er ieäerter Brauche, Sitten und Moralvorstel— fä'äfiifffäiä' auisofänfifasr "8 ii Rigifl ““ Straf' "I’d S‘e“e"egeln’ die nungs')Verwaltung und der äeltuliins Rihdt etw;Ran L€lStungs—_ oder Pla- d [ .Öse Hein '—h g g . _ von egeln auf Tradition, Alter 0 er re ig; gung (nic t etwa positive Setzung) beschrankt. Der Staat hatte kein Gewaltmonopol, sondern mußte seine Sanktionsmacht mit vielen .Gsfäzrfiiriniiil'riieätaititi}>énci.Il\ijur;iäolr)forvfleriäundleianweis, mit Kasten, Gilden und theravadabuddhistischen oderiima(l) “lefi 6 en» 5ChW3Ch war?“, Wie m den . . __ ansc en Gesellschaften, griff die Büro— kratie direkt durch. Uberall aber wurde private («Blut»—)Rache schon früh durch Formen gewaltfreier Konfliktbeilegung abgelöst. Recht, Sitte, Brauchtum und Moralvorstellungen gingen überall ohne scharfe Trennung ineinander über. Vor allem in China galt 2000 Jahre lang das «Reg1eren durch die Sittenordnung» (li), d. h. durch die geheiligte Tradi- téon u;d mcät etwa das «Reg1eren durch Gesetze» (fa), als Ideal. Aus diesem f„zum e 1uc W}ilirlden die Amtswalter pr1_niar nicht Juristisch, sondern kon— d ianisc gesc ut — und staatlich gepruft. Ritusprudenz, nicht ]urispru— _enz, war die DeVise‚ Nicht Justiz und Verwaltung, sondern das gute Vor- bild des 1eweiligen Vorstands in der Familie, der Sippe, des Kreises und des Reiches waren gefragt. Charakteristisch für die traditionelle chinesische Ge— sellschaftsordnung war die weitgehende Ungeschiedenheit von Recht und Sitte,_ von Znil— und Strafrecht sowie von Gesetzgebungs—, Richter— und ignsltilistiationsgewalt. Maßgebend für das Gedeihen der Gesellschaft wa— dal-, 1 t ich vollkommene Personhchke1ten, nicht perfekte Gesetze. Es fehlt Reef: auc an einem e1genstand1gen JuristenstaHd und an einer spezifischen hun tsw1ssenschaft. Diese Betrachtungswe15e lebt unausgesprochen noch nachedweiter, vorallem in der Schhchtungspriontät, in der ständigen Suche Juri5t er Gerechtigkeit des Einzelfalls oder in dem Versuch, ein Recht ohne V0rheen z}t: schaffen. «Freundschafthche Verhandlungen», Arbitrage und SBrvanräsc en der «Clausularebus smstantibu5» gegenüber dem «Pacta sunr Jüri a» Slndü€lfllgöflB€lSpl€lé ftir die Sehnsucht nach einem «Recht ohne st' um», So konnte uber dem chinesischen Recht das Motto «Nicht juri— “Ch, sondern anständig» stehen. 116 Asmtncbe Gesellschaften und \/erbalterzsstzle Auch die anderen asiatischen Gesellschaftsordnungen waren durch Ungc‚ schiedenheit von Recht und Moral, darüber hinaus aber auch noch durch die Einheit von Sakral— und I’rofanrecht gekennzeichnet. Am meisten gilt die-\ für den Islam, der bekanntlich die Vorstellung von einem säkularen (Üharalc ter des Rechts, wie sie in Europa bereits in spätrömischer Zeit einsetzte, nie akzeptiert hat. Im Islam ist die Rechtsordnung nicht zuletzt deshalb von „, überragender — und sakrosankter — Bedeutung, weil sie eine Art Ersatz für das seit dem t3.]ahrhundert ausgestorbene Kalifat ist. Wenn es schon keinen Vertreter des Propheten auf Erden mehr gibt, soll wenigstens die vtm Mt» hammed direkt aus dem Himmel «empfangene» Rechtsordnung dominie- ren. Die islamische Gesetzeswissenschaft (fikh) ruht auf vier Säulen, namlich dem Koran, der Sunna (dh, der vom Propheten und seinen Zeitgenossen vorgelebten Tradition), der Analogie (zum Koran und zur Sunnay) und dem Consensus der Gelehrten. In Südostasien kommt hier noch eine fünfte Säule hinzu, nämlich das Adat, eine Art malaiisches Gewohnheitsrecht. Religiösen Ursprungs ist auch das hinduistische Recht, das auf zahlrer chen Rechtsbüchern (dharma—shastra) beruht, u. a. dem Gesetzbuch des Manu. Rechte und Pflichten der Kasten, die niedrige Stellung der frau und die Eamilienbeziehungen sind hier mit religiös verbindlicher Wirkung gere— gelt. Hier wird man in ein bestimmtes «Recht» hineingeboren, das von vor» neherein alle Seiten des Lebens vorprogrammiert und gleichsam modulisiert‚ Im Laufe derjahrhunderte entwickelten sich weitere Traditionen, die quasi— rechtliche Verbindlichkeit erlangten, wie z. B. die Kinderheimt, die Polyga— mie, die Sklaverei, die Witwenverbrennung oder die «Unberiihrbarkeit». Das buddhistische Recht wiederum ist praktisch nur innerhalb der Mönchsgemeinschaft (Sangha) von Bedeutung und iiberläßt der staatlichen Gewalt im übrigen fast ausnahmslos alle weiteren Regelungen. Insofern kann hier, genauso wie bei den metakonfuzianischen Ordnungen, von einer — informellen ‚ Trennung zwischen religiösem und säkularem Recht die Rede sein, obwohl es bei diesen Gesellschaften nie eine «Zwei—Schwerter- Lehre» im Sinne des christlichen Mittelalters gegeben hat. Im Chin.i der Frühzeit hatte das Recht zwar noch durchaus magisch—rituellc Ruckbeziige. insofern nämlich die altehrwiirdigen «Fünf Strafen» in «Beziehung» standen Zu den fünf Himmelsrichtungen, den fünf] ahreszeiten und anderen Fiinfer» reihungen; spätestens seit der Tang—Dynastie (7‚jahrhundcrt) gibt es it’tl0Cl‘ bis ins Detail ausgearbeitete Codices, die mit leichten Abänderungen biS Zum Jahr 1911 weitergalten. Zwar kannte man auch jetzt noch keine scharft' Trennung zwischen Zivil—, Straf— oder Verwaltungsrecht und auch der Rich- ter pflegte identisch mit dem Ankläger zu sein; doch war die religiöse Veran— kerung im Laufe derjahrhunderte verlorengegangen; eine Ausnahme davon bildete lediglich das «Ritenrecht», das Bestimmungen über die Person des Kaisers, über die kaiserlichen Opfer an Himmel und Erde sowie uber den kaiserlichen Clan enthielt”. Y 11. Wie in Asien regiert wird „7 Wegen seines Mischcharakters war das traditionelle Recht zumeist weit weg von jener abstrakten und volksfremden Strenge der später auch in Asien rezipierten europäischen Gesetzbücher. Sachenrecht wurde tendenziell durCh Schuldrecht verdrängt, und auch das flexible 5Chuldrecht W d ] t [ich nicht als rechtliche, sondern eher als sittliche Kategorie versiJr d3 etz _ die sich jeder «anständige Mensch» zu halten hatte. Im chinesisili en,Gaeri wohnheitsrecht ist nicht von «Sachen» und «Vermögens»—Ge: anstänle die Rede, sondern von «Maulbeerblättern» und «Erdnüssen» Vegr fändetenFel— der müssen zur Zeit der «aufgeregten Insekten» eingelöst werdie)n Ein «Do- kument mit einem großen Kopf» ist ein Schriftstück, in dem ein höherer Preis angegeben ist als der, den man in Wirklichkeit erhält und das «Zwei- und-Acht—Spatenland» bedeutet, daß von den Erträgen zwei Zehntel an den Pächter und acht Zehntel an den Verp'a'chter fallen. Unterschieden wird fer- ner zwischen «weißen Feldern» (mit Beerdigungsplätzen) und «roten Fel— dem», zwischen «Feldhaut» (dh. der Erdoberfläche) und «Feldknochen» (d.h. dem Erdinneren), aus dem z.B. Kohle geschürft wird”. b) Überlagerung des traditionellen durcb das westliche Rec/at Mit der Kolonialzeit und der damit einhergehenden Verstädterung Indu- strialisierung und Monetarisierung ließ vor allem in den Ballungsgebieiten die bisherige Uberschaubarkeit nach. Gemäß dem Grundsatz: «Je überschauba- rer, desto gesitteter, je anonymer, desto verrechtlichter» entstand ein Bedarf nach neuen angepaßten Regelungen, der zumeist durch Übernahme europäi— scher Gesetzesordnungen gestillt wurde. Dabei rezipierten die kolonial ge— bundenen Staaten nolens volens das Recht ihrer Kolonialherren, während die ungebundenen oder halbkolonialen Länder mit Vorliebe zum deutschen Recht griffen, so z. B. japan, China, Korea und Thailand. Mit dieser Rezep— tion_wurde die Situation aber nicht etwa erleichtert, sondern eher noch kom- pliziert, da ja das alte Recht seinen Geist keineswegs aufgab. So war z.B. die chmesische Rechtsentwicklung nach 1949 das Ergebnis einer Auseinander— setzung zwischen nicht weniger als Vier Rechtstraditionen, nämlich dem in Zwe1]ahrtausenden gewachsenen und bis 1911 geltenden Recht, ferner dem Recht der Guomindang, das in den zwanziger und dreißiger jahren in An- lehnung an deutsche Vorbilder erlassen worden war, des weiteren dem Recht der «Basisgebiete», von denen aus die Kommunisten die Städte erobert hat— ten, und schließlich dem Recht der Sowjetunion. Jeder dieser vier Rechts- kre1se hatte nach 1949 seine große Stunde: zunächst kam das Sowjetmodell fm die Reihe; im Zuge der sog. «Rechtsabweichlerkampagne» von 1958 trat iii-loch eine Gegenbewegung ein, die zur Ausschaltung des gesamten Juri- gel;tstandes undüzur schlagartigen Vernachlässigung des bisherigen Gesetz- ein "gswerks fuhrte. Mit der Kulturrevolution (1966 ff.) w1ederum begann € EntW1cklung, die man als «Rückkehr nach Yan’an», also zum rechtli- 118 Asiatische Gesellschafter: und Verbaltensstile chen Zustand der alten «Basisgebiete», bezeichnen könnte: Gesetze wman durch Ad—hoc-Regelungen und durch persönliche Direktiven Mao Zedongg ersetzt, und gleichzeitig zog die «Massenlinie» in die Rechtsprechung ein: Gerichtsverfahren sollten also nicht mehr im Amtsgebäude, sondern am Tat— ort erfolgen; der Laienrichter trat in den Vordergrund, und die «Massem wurden in die einzelnen Gerichtsverfahren aktiv einbezogen. Diese Ad_l1oc_ Gesetzgebung und Volkstribunalpraxis dauerten bis in die späten SiCbllger Jahre. Erst nach den Reformbeschlüssen vom Dezember 1978 begann eine Renaissance der Gesetzgebung, in deren Verlauf zahllose formelle Gesetze und Rechtsverordnungen erlassen wurden, die durchweg nach dem Vorbild des während der zwanziger und dreißigerjahre verkündigten und 1949 offi- ziell wieder abgeschafften Guomindang—Rechts tnodelliert waren — man denke an das StGB, die StPO, die ZPO, das Vertragsgesetz, das neue Patent— gesetz usw. Ihrem äußeren Aufbau nach erinnern die neuen Bestimmungen also an das Guomindang— und damit letztlich an das deutsche Recht. Man täusche sich jedoch nicht: Wirft man nämlich einen Blick auf die Praxis der Rechtsumsetzung, so wird deutlich, daß das äußerlich deutsche Recht letzt» lich in traditionellem Geiste interpretiert und damit von innen her wieder sinisiert wird: der Kreis zwischen Gestern untl Heute schließt sich also teilv weise. Ein wirkliches «Gesetz» im Sinne von «fa» soll nach chinesischer Auffassung wie ein strahlender Fixstern am Himmel stehen und ist eigent» lich gar nicht für den Alltagsgebrauch bestimmt. Um sich dieser Spannung von Modellhaftigkeit und Wirklichkeit zu entziehen, erläßt der Gesetzgeber statt formeller Gesetze, die womöglich wieder abgeändert werden müßten, lieber Regelungen mit dem Zusatz «zur versuchsweisen Anwendung», «Einstweilige Bestimmungen» etc. Nicht weniger kompliziert als in China fiel die «Verschichtung» zwischen mehreren Rechtskreisen in den islamischen Ländern, z.B. in Malaysia, aus, wo drei Rechtsschichten übereinander «kleben»: das geschriebene, zumeist westlich inspirierte Recht, das muslimische Recht (Shariah) und das Adat. Die Shariah enthält juristische (fikh) und ethische Vorschriften, mit denen ein klarer Trennungsstrich zwischen Gut und Böse im Sinne des Allm.ichti- gen gezogen wird. Sie gilt als göttliche Offenbarung und kann deshalb nicht abgeändert werden, es sei denn, man entgeht ihrem strengen Zugriff durch geschickte Interpretation, woraus eine Fülle miteinander wetteifernder Rechtsschulen entsteht. Die Handhabung des muslimischen Rechts erfolgt dürcb Richter (<«Kadi», «Kathi» auf malaiisch) sowie Muftis, die eine Art Beraterfunktion einnehmen und deren Entscheidungen in speziellen Samnr lungen, den sog. «Fatwa», gesammelt sind. In Indonesien gibt es seit 1957 neben den staatlichen Gerichten noch die «Pengadilan Agama» («Gerichts höfe für Religionsjustiz»), die Fragen der Eheschließung, der Scheidung 50_Wle andere Familienangelegenheiten, nicht jedoch Erbfragen judili€f9“- Dle Shariah regelt hauptsächlich Familien—, Eigentums— und Erb— sowie * [I. Wi ' in Amen regiert wird 119 Strafrecht und bringt auch einige prozedursle V"“Chffp „ N Shariah dominiert die Atlathradi[i0n. ohne den,“ Bearl'h m ' . eben der laiisch—islamischen Ländern nichts läuft. «Adat» ist C'“ tung in den ma- wort, das mit dem Verb ada (zurückkehren. sich wieddibfia tsches Lehm- hängt. Statt einer abstrakten Definition des ftir Eu“) ‘1‚Je_n) zgsammen— ständlichen Begriffs sei hier eine eindrucksvolle timif}iii-£O sc wer ver; Königsmann Wi€dergegebenrl3; «Adat “‘.ü'lt das menschliili «ung "voii JOSed pflanzliche Leben. Adat sorgt für das geordnete ; eben is T) t;ärtsc elunk und Chaos liegen außerhalb der vom Adat geordneten \x,‘ cAtii , Ung ude Bestrafung eines Diebes, die Auflösung einer 5cliu.d itrdtidiK _"jt regdelt: im den, Tischsitten und Kleidung. Adat bestimmt die feste d. 2eä un k räe— Tänze und die Besuche. Geburt, Hochzeit und Tod isin’l cp .cArtäuc ‚. ge denkbar (starke Akzente legt das Adat auch \ 01m at mc [ auf die Ausgestl I _ _ \ . atun von o— deszeremomen und Nachtodesferern am = 7 g ,m „ !4„ is. und 100. lag, cl.Vf.). Opfertiere und Tiere für ein liest werden nemi'ß «lem \d schlachtet. Die Regel der Frau wird die Adat trageir gt'nlilnt 51 atl'gli_ Naturabläufe sind gemäß ihrem Adat geordnet. Adilt ist (ielcl'ieitkfffflfi e Göttern, ererbt von den Ahnherren. Adat wird gescltut7‚t von den Toten uretii den Alten einer Gruppe. Adat wird erzahiend überliefert in Pabeln 9a en Mythen, Sprichwörtern und Redensarten. Adat wird als Ganzheit ‚als iind Einheit empfunden und enthält Gesetze, Recht, (icwullnllt‘lt‘cti Siften Ge— bräuche und Religion in einer undifferenzierten Einheit. Adat isi die Einheit all der vielen Elemente. Adat wird als Erbe iibernonnncn. Darum ist Adat eine Rechtsordnung, die nicht von den jetzt lebenden Menschen gemacht w1rd. Weil Sterne, Pflanzen, Tiere und Menschen Adat besitzen oder in ih— rem Adat leben und sich bewegen, darum ist Adat durch eine bestimmte Notwendigkeit bestimmt. Entscheidungsfreiheii kennt das Adat nicht sie wird aber auch nicht als wünschenswert empfunden.» Adat entstatnm£pa— tr1archalisehen und matriarchalischen Quellen „ das letztere «Adat pcrpea— teh» stammt aus der Tradition von Minangkabau (im indonesischen 5umatra und im malaysischen Bundesstaat Ncgri Sembilanl. lm patriarchalischen «Adat Temenggong», das in den übrigen rn.tl;tiischen Staaten gilt, vermi— schen stch vorhinduistische, hinduistische und islamische Elemente ineinan- der”. Der Kampf ums Adat ist in Malaysia und lndonesmn noch lange nicht ent— SCl'neden: konservative Gruppen befürworten eine geduldige Fortentwick— Lung des Adat, während progressive Gruppen in ihm eine l\10dernisierungs— $$$;er e;bl(tjclgerg d(;15 Adat fordere beispielsweise eine gemeinsame Feldbe— technoi]go ;; . e m 1ere damit die Linfuhtung moderner Lanthrts‘chafts— schäfts singt, es ver ar;ge‚ daß ein Unternehmer bet der ltroffnung eines Ge— konkUrsreif ges/a\mftge damtlre mttbeterhgen musse, so daß er prakttsch bald die verwandstei. u er em fuhre der hohe B„rautprets. der nachdem Adat an en der Ehefrau zu leisten ist. nicht selten zum Rum der neuge— 120 Asiatzsche Gesellschaften und Verhaltensstile gründeten Familie. Obendrein «reiht sich» das Adat häufig an der Sharigh; Während die Shariah beispielsweise Polygamie gestattet (und zwar bis zu vier Frauen für einen Mann), geht das Adat vom Grundsatz der Monogamie aus“. Nach der Shariah ist das Brautgeld an die Frau, im Adat dagegen an die Verwandten der Frau zu zahlen”. Was die Scheidung anbelangt, so kann sie nach der Shariah von seiten des Mannes durch das ein-, zwei— oder drei_ malige Aussprechen der Verstoßungsformel (talak) vollzogen werden, wäh‚ rend das Adat in Gebieten mit matrilinearer Tradition verlangt, daß dem Ta— lak eine Schlichtung vorangeht, die erfahrungsgemäß höchst wirksam ist“. Bei der Teilung des ehelichen Vermögens nach einer Scheidung kann die Ehefrau gemäß der Shariah schlimmstenfalls leer ausgehen, während sie ge— mäß Adat bis zur Hälfte des gemeinsam erworbenen Eheguts erhält". Das Adat ist also wesentlich frauenfreundlicher als die Shariah. Wird es, bei» spielsweise bei Vertragsabschluß, nicht eingehalten, so ist der betreffende Vertrag nach allgemeiner Volksmeinung null und nichtig, auch wenn er nach dem (rezipierten) westlichen Recht durchaus keine Fehler aufweist: auch dies wieder ein Kollisionsfall zwischen Recht und Moral. Verhältnismäßig reibungslos ist es andererseits um die Nachbarschaft zwi» schen westlichem und theravadabuddhistischem Recht bestellt. Gautama Buddha hatte bekanntlich mit säkularen Dingen und vor allem mit der Pol} tik nichts im Sinn. Zwar legte er ‚ und seine Nachfolgerschaft — ein umfang— reiches Regelwerk für das Leben innerhalb der Mönchsgemeinschaft (Sangha) fest, doch verzichtete er andererseits auf säkulare Gesetzgebung. Diese blieb, wie im europäischen Protestantismus, ganz dem Staat überlas— sen. Kein Wunder, daß die weltlichen Rechtsordnungen in den fünf klasse schen Ländern des Theravada, Ceylon, Thailand, Birma, Laos und Kam» bodscha, recht verschieden ausgefallen sind. Da der Buddhismus mit so we nigen rechtlichen Vorgaben verknüpft war, konnte er von allen möglichen Gesellschaften in Asien ohne die geringsten «Verdauungsbeschwerden» übernommen werden, zumal tler Sangha bemüht war, sich so selten wie möglich in die Politik einzumischen. Trotz der später so engen Beziehungen zwischen Mönchsgemeinschaft und Königtum Wurden die Königswahlen kaum je vom Sangha, dafür um so mehr von den Hofbrahmanen beeinflußt. Was den Sangha selbst anbelangt, so ist er von einem Regelfiligran über» zogen, das im «Vinayana», einem der klassischen drei «Körbe» (Tripitakah niedergelegt ist. Drei Arten von Regelungen finden sich hier, nämliCh das Sangha—Statut, in dem die Gleichheit aller Mönche gefordert wird sodann ca. zoo Straftatbestände von Vergehen gegen die Mönchsdisziplln und, drittens, Verfahrensregeln für die Aufnahme und Verstoßung VO“ Mönchen (bhikkhus), für die Mönchsgerichtsbarkeit und für das Alltags‘ leben der Ordensangehörigen. Die vier Todsünden eines Bhikkhu sind M9fd‚ Diebstahl, Geschlechtsverkehr und Eigenlob im Sinne von Selbstbe- wexhräucherung. V I]. Wie in Asien regzert wird 121 Im Gegensatz zum reichen Sangha—chelwcrk besrehen für d b ddh' . schen Laien nur fünf dürre Empfehlungen, nämlich nicht 7 "en U ' ISU— stehlen, nicht die Ehe zu brechen, nicht die Unwa iu toten, nicht zu Rauschmittel zu vermeiden. Außerdem hält es der [ q ratsam, zum Zwecke der Verbesserung des eigenen Kar richten, indem er vor allem die eigene Familie ummm ergehen des Sangha sorgt. ' Von solchen vereinzelten Regelungen abgegeben 7ei 'te "h d S h flexibel und war prinzipiell bereit, sich jeder gegebenenitasil‘ sh “Rank? 3 ordnung anzupassen. Die dem Buddhismus iriliiirente Toleraanl'L en‘h ec Its- auch hier nicht halt. Insofern sind buddhistische und islam' 1-1, )17}1{i(‚ ge a sfo fassung Antipoden im wahrsten Sinne des Wortes. i ‘ ISL ( ec tsau _ hrheit zu sagen und ie im allgemeinen für ma gute Taten zu ver— tzt und für das Wohl- () Eigenarten des asiatischen «Zz‘m'lrecbzs» Statt komplizierter abstrakter Regelungen suchte man überall im trad‘ ' l len Asien nach dem Recht des Einzelfalls — und war damit stets schnelltlltbltiiiri Vertrag angelangt, der allerdings meist etwas anders ausfiel als im Westen Bemerkenswert ist vielfach auch heute noch das Unvermögen der meisteri A51aten, in reinen Vertragskategorien zu denken, d.h. sich den Vertra als koordmat1ves Rechtsgeschäft zwischen «Rechtssubiekten» vorzusteller? In Asien denkt man vielmehr subordinativ und konkret—persönlich Dies wurde besonders deutlich im «Markt— und Pachthofmilieu». lm «Pachthofmilieu» befand der asiatische Durchschnittsbauer sich dem Bodenverpächtei' gegen— uber von vornherein in einer untergeordneten Position, weshalb es nicht zu koordmat1ven, sondern zu subordinativen Vereinbarungsmodalitäten kam Dies geschah dadurch, daß in einem Vertrag (soweit er überhaupt schriftlich abgefaßt wurde) die schwächere Partei in aller Regel in Form einer Kaufs— Oder Verkaufsbitte auftaucht und daß ferner in aller Regel nur die schwächere mehr dagegen die stärkere Partei das Dokument unterzeichnet“. ’ Ittl «Marktmilieu» dagegen, bei dem sich Bauern von gleich zu gleich ge— genubertraten, beherrschte der Realkontrakt das Geschehen; nichtdie Eini- gung der Parteien war also das Entscheidende, sondern der reale Güteraus— ;;usch. Die Vorstellung, daß eine bloße Einigung bereits synallagmatische sci;itiägigevrierlzch sichßzieht(i;nd daß zwischen Einigung und Erfüllung unter den, Man ehendmu , Wir auch heute noch uberall als fremdartrg empfun— bindet songde t davo\t]1 aus, daß es nicht die Abm)achung als solche ist, die der Re)spekt rn das [e\rärauen‚ das zw15chen denl arte1en besteht, oder aber sische bZW ‚vor yemh at, dem-Li oder dem (nn, welch letzterer der chine— her selbst k.ü]apfamse e Begriff fur Anstand und Sitte ist. Haufig werden da- moniell ab erz rist1gejAbmachungen durch Geschenke oderdurch ein Zere_ Stattfi„d g segnet, as beispielsweise In Form eines gemeinsamen Essens et. Im Vordergrund stehen hier nicht abstrakte »Rechtssubiekte», „2 Asiatische Gesellschaften und Verhaltensstzle sondern konkrete Personen oder Gruppen. Dies gilt besonders bei der Ein- stellung von Personal, das man nicht als «Arbeitskraft», sondern als künfti— gen Teil der Betriebsfamilie betrachtet. Auch innerhalb von Konzernen „- scheinen manchmal Verträge als überflüssrg. Toyota beispielsweise besteht aus einem Netz von 13 Großfirmen und fast 200 mittleren und kleinen Zu. lieferern, zwischen denen seit jahrzehnten Zusammenarbeit besteht, Ohne daß hierfür je ein Vertrag unterzeichnet werden wäre. Betrachtet man sich einer «Schicksalsgemeinschaft» zugehörig, so erscheint ein synallagmau’. scher Vertrag im westlichen Sinne als abwegig. So gesehen ist eine gewisse Abneigung gegen Juristen durchaus verständlich. Auch im traditionellen Indien gab es eine «Vertrags»—Reform, die mit dem entsprechenden westlichen Begriff nur den Namen gemeinsam hat — gemeint ist das sog. «Jajmani»-System, welches sein Entstehen dem Umstand ver» dankte, daß die einzelnen Subkasten aus Gründen der Arbeitsteilung mitein ander kooperieren mußten. Dadurch entstanden dichte Beziehungsnetze, die oft Generationen überdauerten, vom Vater auf den Sohn weitervererbt wurden und für den Dienstleistungsempfänger nicht immer nur von Vorteil waren, sondern durchaus auch zur Belastung werden konnten. Da die obe— ren ]atis keine körperliche Arbeit — und nun gar Schmutzarbeit ‚ verrichten dürfen, sind sie von den unteren (auf solche Dienste spezialisierten Kasten) seit Urgroßväterzeiten nicht weniger abhängig als umgekehrt diese von den Lohnzahlungen der oberen. Die Austauschbeziehungen waren und sind dyadisch, vererblich und bestanden zwischen den Haushalten verschiedener Jati—Angehörigen, wobei schriftliche Verträge lediglich als (deklaratorische) Beweisgrundlage betrachtet wurden. Das ]aimani—System wurde während der britischen Kolonialzeit kodifiziert — und damit rechtlich einklagbar“. ]ajmani—Beziehungen sind keineswegs immer nur «Generationsvertrdge». sondern werden neuerdings auch zwischen Stadtverwaltungen und den Banghi, also den «unberührbaren» Fäkalienbeseitigern, geschlossen. So 1. B. beschäftigt die Stadt Patna im Bundesstaat Bihar derzeit ca. 1000 Banghi ge— gen festen Monatslohn‘”. Das ]ajmani-System ist wettbewerbs—, solidaritäts— und genossenschaft& feindlich. Es läßt sich vorerst nur mühsam durch flexible Vertragsvereinba- rungen westlichen Typs verdrängen“. Durch die asiatische Brille gesehen, sind die Vorbehalte gegen das westliche Recht ohne weiteres zu verstehen. Überall trat ja im 19. und zo.jahrhundert anstelle der schuldnergniidigen und harmoniebedachten traditionellen Regelwerke von Bauerngesellschaften das gläubigerfreundliche und vom Grundsatz der Vertragsfreiheit r.;eprägtc R6Cht von Industrie— und Handelsnationen. Dieses westliche Recht ist größ— tenteils ]uristenrecht und beruht auf der Prämisse, daß die Vertragsparteien 1UrlStisch im Bilde sind, also genau wissen, was sie tun; ein Schuldner, der behaupten wollte, er habe nicht so recht Bescheid gewußt, wird belächulL Kein Wunder, daß der «kleine Mann» westliches Recht spontan ablehnt, I], Wie in Asien regiert wird 123 während die einheimische Elite gern danach greift — 7‚.T aus Moder 'sie— rungs—‚ z.T. aus Standeserwägungen. Letzteres ist vor allem bei dern'1 di— schen Elite der Fall, die schon während der Kolonialzeit entdeckt hatt „ZlAß die juristische Laufbahn, vor allem die Ausübung des Rechtsanwalt bei ufsi eine der wenigen wirklich lohnenden Karrieren für Einheimische erä5fFrete, Kein Wunder, daß das damals eingeführte britische Recht aus 7erech tn ori den einheimischen Advokaten begierig aufgegriffen wurde uiid daßnefer‘hel’ sie es waren, die dafür sorgten, daß die traditionelle Schlichtunts ra is des indischen Dorfes durch motorische Prozessiererei ersetzt wuräepundi daß nicht zuletzt auch, wie Rothermund42 es formuliert, der «indische Freiheits— kampf» weitgehend eine «Rebellion der Rechtsanwälte» war Der indische Advokat spielte hierbei eine ambivalente Rolle: auf der einen Seite führte er die Positionen des britischen Kolonialherren ad absurdum auf der anderen Seite aber trug er sogleich zu einer Art «inneren Kolonisierung» der indi- schen Bauernbevölkerung bei, da das von ihm favorisierte Recht der Kolo— nialherren zur Stärkung des Geldverleihers gegenüber dem Bauern und zur Suprematie der Honoratioren gegenüber den Schwachen führte. d) Strafrecht Ebenso wie die chinesische war die traditionelle asiatische Durchschnitts— Rechtsordnung straf— und steuerrechtslastig. Zahlreiche zivilrechtliche Re— gelungen konnten_überhaupt erst durch Rückschlüsse aus Straftatbeständen erfahren werden. Uberall wurde «exemplarisch», nicht «juristisch» entschie- den. Genau umschriebene Straftatbestände waren nicht gefragt. Teilweise ist dies auch heute noch so. Die VR China führte 2. B. erst 1979, die SR Viet— nam erst 1985 ein kodifiziertes Strafrecht ein. in den dazwischenliegenden dre1ßig]ahren war man mit wenigen Verordnungen gegen «Konterrevolutio— nare» sowie gegen Ordnungswidrigkeiten ausgekommen. Das Strafmaß re1chte von Gefängnis über Arbeitslager bis hin zur Todesstrafe; der Grund— satz der Waffengleiehheit (d.h. die Einschaltung von Verteidigern) war un— bekannt, ganz zu schweigen von genauen Prozeßregeln. Ziel aller Gerichts— Ver_f_ahren war ein zerknirschtes Geständnis. .Uberall in Asien wird hart bestraft. Es ist gewiß kein Zufall, daß sämtliche asranschen Staaten, auch das sonst so moderne japan, an der Todesstrafe festhalten und daß die Kapitalstrafe in Asien häufiger verhängt wird als in Irgendeinem Teil der übrigen Welt, sieht man einmal von den Sonderfällen H0Hgkong und Nepal ab, wo die Todesstrafe abgeschafft wurde. Die Hin— rlchtungsmethoden reichen von Henken über Erschießen bis zum Elektri— SChen Stuhl. In japan sind zwischen 1873 und 1978 insgesamt 6235 Personen eXekut1ert werden, also 59 pro jahr, davon in der Nachkriegszeit (1949—1978) allein 560 Personen, d.h. 17 pro jahr. Allerdings wurden über— all die todeswürdigen Verbrechenstatbestände drastisch reduziert, die grau— „4 Asiatische Gesellschaften und Verbaltensstile samen Hinrichtungsstrafen, wie sie in feudaler Zeit üblich waren (Viertei— lung, Wörtl.: badao : «acht Schnitte»), abgeschafft und die Hinrichtung vom öffentlichen Exekutionsplatz in die Gefängnisse hineinverlegt“_ In neuerer Zeit läßt sich eine Tendenz zu «berechenbareren» Straftatbeständen und zur Ausgestaltung formaler Prozeßregeln erkennen. Das Strafrecht soll dabei nach außen hin als glaubhafter Prüfstein der Rechtsstaatlichkeit vorge_ zeigt werden können. “ Trotzdem besteht die Neigung zu Ubergriffen weiter, so zum Beispiel in der VR China, wo Verwaltungsbehörden das mit juristischen Fußangeln ge— spickte strafprozessuale Gelände einfach dadurch umgehen, daß sie im Wege schlichter Verwaltungsakte drei Jahre «Erziehung durch Arbeit» verhängen, deren Dauer bei mangelhafter Führung beliebig verlängert werden kann, so daß ein «schlechtes gesellschaftliches Element» sein ganzes Leben in einem Arbeitslager zubringen kann, ohne je vor einem Richter gestanden zu haben_ e) Was ist Gerechtigkeit? Den asiatischen Rechtsordnungen ist vor allem ein mit europäischen VorsteL lungen nicht immer vereinbares Gerechtigkeitsverständnis gemeinsam. «Ge? rechtigkeit» läßt sich ja bekanntlich nach fünf höchst unterschiedlichen Maßstäben handhaben: (r)Jedem das gleiche; (z) Jedem nach seiner Lei— stung; (3) Jedem nach seinem persönlichen Engagement; (4) Jedem nach sei— nen Bedürfnissen und (;) Jedem nach Rang. Traditionell wurde in Asien die Option Nr.; bevorzugt; Mao Zedong plädierte demgegenüber für Nr. 3, während die chinesischen «Modernisierer» auf Nr.2 setzen. Die Option Nr. 1 gilt nur im Rahmen des buddhistischen Sangha, wo das Prinzip der Gleichberechtigung herrscht. Was andererseits die «Geltung» des Rechts an- belangt, so tauchen zwischenasiatische Differenzen auf: Im metakonfuziani— schen Kulturbereich, wo Li und Giri (jap.) (also «Moral») einsamen Vorrang vor dem Recht (fa) beanspruchen, ist man geneigt, das Recht nicht als kon— stitutiv, sondern als bloß deklaratorisch, also als Bestätigung des Li, zu be— trachten. Recht ist also nicht autonom, sondern heteronom. Sogar kurzfri- stige «Verträge» werden durch Geschenke oder aber durch ein Zeremonie“ abgesegnet, beispielsweise in Form eines gemeinsamen Mahls, wobei man davon ausgeht, daß es nicht die dürre juristische Abmachung als solche ist, die bindet, sondern der vertrauensvolle Konsens, der zwischen den Parteien besteht. Im malaiisch—islamischen Rechtsbereich andererseits kommt nicht nur der Shariah und dem Adat, sondern auch den nach Adat-Zerernoniell geschlossenen — und damit im wahrsten Sinne des Wortes «geheiligten» — V‘?mägen Autonomie zu. Nicht zuletzt aus diesem Grunde gehört auch der Richter (kathi) mit zu den angesehensten Berufen. 11. Wie in Aszen regiert wird 12; 6. Staat und «Kirche» in Asien „) Fiianmgen zur Wechselwirkung Wie mächtig ist die «Kirche» im Staat? Was diese Frage anbelan [ ' d d‘ hinduistischen Religionsgemeinschaften so gut wie unor!anif'e’ 5t0 itm le also als «Kirche» keinen direkten Einfluß ausüben _ wäh] ai‚.r " ä)nn£(u wenn sich nämlich religiöse Strömungen mit «kommunalistischeitr 112 lite , zum Beispiel Sprachgruppen, verbinden. Auch in China sind die Reliriioriienri immer schwach organisiert gewesen. Das daoistische «Pa sttum» ha%te auf die staatliche Religion so gut wie keinen Einfluß. Allerdingi konnten reli iös verbrämte Ideologien gewaltige Sprengkraft entwickeln wenn es in ih%em Namen zu Bauernaufständen kam. Zu keiner Zeit duldi’te das Mandarinat alternative Machtzentren. Wo sie sich herausbildeten, wie beis ielsweise in der Gestalt reicher Klöster während der Tanngcit, in Form i2rie erischer Mönchsorden während des i6.Jahrhunderts in Japan oder als infolerante Konkurrenzgruppen, pflegte der Staat erbarmungslos zuzuschlagen — man denke an die Vernichtung der großen buddhistischen Klöster in China (9.Jahrhundert) oder der Mönchsritterorden in Japan (16.Jahrhundert) oder an die Christenverfolgungen in Japan, Korea und China. Der Theravada— buddhismus verfügte zwar immer schon über W0lll0rgani5ifl‘tti Mönchsge— meinschaften, den Sangha, doch nahm dieser auf den Staat höchstens in Kri— senzeiten Einfluß. Ansonsten galt das Gebot politischer Abstinenz. Ganz anders der Islam. Die Ulamas (Rechtsgelehrten) sind hier zwar selten straff organisiert, doch können sie in Ausnahmesituationen zu einer geballten Kraft werden, wie es im Iran deutlich geworden ist und wie es sich in Malay— sia anbahnt (Näheres dazu unten S. 247f.). Wie eng sind Religion und Politik miteinander verklammert? Beim Hin— du1smus ergibt sich hier das Paradox, daß er als Organisation zwar kraftlos, als Lieferant gesellschaftlichcr Regeln und Normen dagegen von erdrücken— der Bedeutung ist; das wird an den Kastenvorschriften und an den überlie— ferten Hindubr'ziuchen deutlich, gegen die der Staat zwar energisch vorzu- gehen versucht (vor allem durch Abschaffung des Status der «Unberührbar— keit», der Witwenverbrennung, der Kinderehe etc.), die sich aber, vor allem auf den Dörfern, trotzdem zäh am Leben erhalten. Ganz im Gegensatz dazu hat religiöses Dogma oder Brauchtum auf die Rechtsordnung konfuziani— scher Staaten kaum je Einfluß gehabt, wie es ja überhaupt eines der Haupt— merkmale des konfuzianischen Staatswesens ist, daß es sich von religiösen Fesseln schon früh hat befreien können. In den theravadabuddhistischen Staaten beschränkt sich der Einfluß des buddhistischen Rechts weitgehend auf den Sangha. Außerhalb des Ordens ist das buddhistische Brauchtum an— Schmiegsam und trug damit erheblich zum Missionserfolg des Buddhismus bei. Konflikte mit der staatlichen Rechtsordnung treten allenfalls in extre— 126 Asiatische Gesellschaften und Verbaltensstile men Krisensituationen auf; vor allem können «politisierte» Mönche bei Wahlen und Kampagnen unberechenbare Akzente setzen. In der Politik werden überdies gern buddhistische Symbole verwandt. Die islamische Ge_ setzesordnung tendiert dazu, den Staat vollständig zu vereinnahmen In der Praxis freilich muß er sich, wie sogar das Beispiel Pakistan zeigt, Einschrä„ kungen durch «säkulare» Gegenregeln gefallen lassen. Was, drittens, das Verhältnis der Religionen untereinander anbelangt, so zeichnen sich Hinduismus und Buddhismus durch außergewöhnliche Tole_ ranz in Glaubenssachen aus, wobei der Buddhismus auch darin konsequ€nt ist, daß er das Kastensystem ablehnt. Die blutigen Auseinandersetznngen der Hindus mit den Muslims und Sikhs sowie der buddhistischen Singhale. sen mit den Tamilen haben nichts mit «Glaubenskrieg» zu tun, sondern sind kommunalistischer Natur. Auch die chinesischen (bzw. sinisierten) Religio— nen Daoismus und Buddhismus waren so tolerant gegeneinander, daß sie sich teilweise fast unentwirrbar ineinander vermischt haben. Selbst der Kon. fuzianismus, der in seiner Substanz keine Religion ist, pflegte sich in religiö- sen Fragen nachgiebig zu verhalten, solange er in seinen Grundpositionen (pyramidaler Analogismus, Kaiser— und Ahnenkult) nicht in Frage gestellt wurde; es war ein Kardinalfehler des Katholizismus, dies verkannt zu ha— ben. Ganz im Gegensatz zu den indischen und chinesischen Religionen ist der Islam in Glaubensfragen von rigorosem Ausschließlichkeitsdenken ge— prägt, das freilich in Pakistan, Bangladeseh, Malaysia und Indonesien erhelr lich einlenken mußte — man denke an die zur Nachdenklichkeit und zum Kompromiß zwingenden Santri—Abangan—Reibungen (s. unten S. 245 f.) oder an die Konflikte zwischen den strengen und «humorlosen» Anhängern der ]amaad al Islam mit anderen weniger rigorosen Gruppierungen. Wie stark interessieren sich, viertens, die einzelnen Religionen überhaupt für weltliche Vorgänge , und wie nachhaltig ist der Einfluß der religiösen Re— geln auf das Leben der Staatsbürger? Am unpolitischsten verhalten sich hier Wieder Hinduismus und Buddhismus, da die Politik nur eine flüchtige Er— scheinung ist, in die man sich nicht ungestraft (d.h. ohne Karma—Verlust) einschaltet. In Grenzsituationen freilich, wie bei den blutigen Auseinander- setzungen zwischen Hindus und Muslims in den jahren 1947/48 sowie zwischen Singhalesen und Tamilen in den achtziger jahren oder aber beim Widerstand der mahayanabuddhistischen Mönche gegen das katholische Regime des früheren südvietnamesischen Präsidenten Ngo Dinh Diem i5t intensives «politisches Interesse und Engagement» zum Durchbruch gekom» men. Für den Konfuzianismus stehen nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch geschichtliche und politische Vorgänge im Zentrum der Auf- merksamkeit. Das konfuzianisch geschulte Mandarinat hatte es denn auCh verstanden, über ]ahrtausende die Steuerung der Großen Politik zu mon0‘ pohsieren und sich die Einmischung von Religionsgruppen, welcher Cou— leur auch immer, zu verbitten. Auch der Islam erlaubt und fördert rege An— * I]. Wie in Asien regiert wird 127 teilnahme des Gläubigen an den Vorgängen dieser Welt V ll d' damentalisten neigen dazu, die Gemeinde Von Medina Z'u iC()ir allem ie Fun- von Mohammed persönlich geführt und «nach göttlichen] Gea lSleren’ dle Ja werden war. Hier herrschte vollkommene Einheit zwischenegetz>> ge;rdnet gion, zwischen Regierung und Geistlichkeit, ZWischen weltl. gaat Und Reh- lichem Recht sowie zwischen Individuum und Gemeins €me un gott— meinnützigkeit, solidarische Spendenbereitschaft VerbotC a t, W0bel„G?' gern Zinsnehmen und dergleichen selbstverständlicher Au Eon lfig.ennutzi- sinnung der wechselseitigen Heilsverantwortlichkeit zwiscsh rUcR einer ge- und Regierten war: dies zumindest ist die Idealvorstellim deerh eglere; en damentalisten. Vor allem bei den kommunalistischen Ausgein; deutigen un- in Malaysia und Indonesien kommt es zu häufigem und €.}? elisetzunlge'n schen Durchstarten, wobei Geistlichkeit und Koranschuleflä n;zh eng) po iti_ ern (Näheres unten S. 246 ff.). 35 re 613teu' b) Das vierfacbe Beziehungsmuster zwischen Staat und Religion Am Anfang der asiatischen Geschichte stand das Priesterköni turn d h d'e Einheit von Herrschertum und Geistlichkeit, von der sich Si ureh bis il zo.]ahrhundert erhalten haben — man denke an den chinesische}; «Himmde sohn» (bis 1911), an den japanischen Tenno, der die Sonnengöttin Amatä— rasu Oyikami als Urahnin verehrt (kraft Verfassung von 1947 allerdin 5 nur noch «Symbol des Staates» ist), an den tibetischen Dalai Lama und agn den letzten Hindu—Monarchen, den es noch gibt und der sich als göttliche Inkar— nation verehren läßt — den König von Nepal. Erst mit der zunehmenden Filigranisierung des Rituals gingen die religiö— sen Funktionen auf Zeremonialspezialisten über, die sich in der Regel auch durch besondere Gelehrsamkeit auszeichneten und zu Begründern des Schr1ftwesens, der Wissenschaften (Astronomie, Astrologie und Mathema— tik) sow1e des Orakelwesens wurden. Fortan entwickelten sich zwischen Staat und Religion, zwischen Beamtenschaft und Priesterschaft bzw. Monchtum die verschiedensten BeziehungskonsteNationen heraus, die sich theoretisch auf vier Spielformen reduzieren lassen: Herrschaft der Religion uber den Staat, des Staates über die Religion, Trennung oder aber Nebenein- ander von Staat und Kirche. Asien hat alle vier Varianten durchgespielt. %PWmatie des Priestertums über den Staat hit,iäifsvlifheöl:än ist Tibet. Das Königtum wurde_dort seit dem i4.]ahr— mit der FOIm dr ßen dher Gelbmutzensekte immer starker beiseite gedrängt, Sten The0klget, ad Sic in der Bergwelt des Himalaya eine der ausgeprägte- tionen erltsta l(äl er Weltgeschichte herausentw1ckelte. Ahnhche Konstella— tammessm;tm en seit dem i8.jahrhundert in einigen zentralasmtischen en, vor allem in der Mongolei, wo ein «Khutuhtu» (bis 1920) 128 Asiatische Gesellschaften und Vt'rbaltensstilc Funktionen ausübte, die denen des Dalai Lama vergleichbar waren. Auch im Staat der Sikhs galt der «Guru» als irdischer Bevollmächtigter Gottes. Der zehnte Guru, Govind Singh (gest. 1708), wurde zum Schöpfer eines theo— kratischen Militiirstaates, der sich mit den Briten anlegte, dann allerdings i849 unterworfen wurde. Im Rahmen der Indischen Union wollen sich die Sikhs bekanntlich eine erneute Sonderstellung in Form des Bundesstaatex Khalistan erkämpfen. Nach wie Vor gehen vom Goldenen Tempel im Anirit— sat kraftvolle politische Impulse aus, auf die Delhi mit militärischen Mitteln zu antworten pflegt. Iirhcbliche Macht über weite Teile des Staates übten eine Zeitlang, vor allem vom ig. bis 17.]ahrhundert, auch die großen japani_ schen Klöster auf, die mit ihren Mönchsheeren ganze Landestcile in Schach hielten und erst unter dem Daimyo Oda Nobunaga im wahrsten Sinne des Wortes ausgerottet wurden. Im Hinduismus gibt es zwar ein starkes Priesterwesen, doch ist es dort nie zu einer «tibetischen» Theokratie gekommen. Von den 15 Millionen Brain manen nimmt nur ein kleiner Teil «Tempelberufe» wahr; die anderen beklei— den die Positionen von Lehrern, Beamten und z.T. sogar von Köchm in «reinen» Betrieben. Im übrigen zerfallen die Brahmanen selbst in verschie— dene Unterkasten. Besonders kompliziert ist das Verhältnis des Islam zur Staatsführung. Der Theorie nach steht die Geistlichkeit über dem Staat ‚ man denke an die schiitische Theokratie unter Khomeni; in der Praxis frei— lich rangiert der Staat umgekehrt entweder vor der Kirche (Kemalismus), oder aber beide stehen. so ist es asiatischer Normalfall, nebeneinander, und dies sogar in Pakistan (näheres unten S. 132ff.). Die Herrschaft des Staates über die Religion Sie hatte sich im kaiserlichen China am weitesten ausgebreitet. Im Staats— konfuzianismus gab es keine Priester und auch keine «Kirche». Opfer an die kaiserlichen Ahnen, Feiern zum Geburtstag des Konfuzius etc. wurden viel- mehr von der «weltlichen» Beamtenschaft, und zwar von den Zeremonial- spezialisten des «Ritenministeriums», wahrgenommen, wobei der Kaiser Mittelpunkt blieb. jahrhunderte hindurch hatte der «Himmelssohn» im we- sentlichen eine hohepriesterliche Rolle gespielt. Obwohl mit Beginn der Ming—Dynastie (1368ff.) das Kanzleramt abgeschafft und die Kanzlerfunlv tion nun direkt vom Kaiser übernommen wurde, bekam die Politik keines wegs «religiösen» Anstrich — im Gegenteil. Das staatstragende Mandarinat berief sich auf eine dreifache l.egitimationsgrundlage, nämlich auf seine Ilär higkeit, das Volk sittlich anzuleiten, ferner auf die altiiberlieferten Institutio» nen (sog. «traditionelle Herrschaft» im Sinne Max Webers) und auf das kai— serliche Himmelscharisma. Die Kühle der konfuzianischen Staatsreligitm genügte dem einfachen Volk ebensowenig wie der Kaiserkult dem Populu5 1m_alten Rom. Aus diesem Grund entstanden unter daoistischem oder bud’ dhistischem Vorzeichen Ersatzkirchen, die vom Mandarinat wohlwollend * 11. Wie in Asien regiert wird 129 aber auch immer etwas mißtrauisch betrachtet wurden, da sie häufig die Nährmütter von Geheimgesellschaften und Aufstandsbewegungen waren Im allgemeinen war der Einfluß religiöser Organisationen auf staatliche Ent; scheidungen minimal. Machtvolle buddhistische Orden Waren in China und japan bereits im 9. bzw. I6.]ahrhundert zerschlagen worden. Auch der or— ganisierte Damsmus blieb politisch unbedeutend; er trat in zweierlei Gestalt zutage, nämlich in Form des «Berufs»— und des Kloster—Daoismus Die «Be- mfsdaoisten» gingen bei den Meistern des Longhushan («Dracheri- und Ti- gergebirge») in die Schule und erhielten von diesen ein Zeugnis das sie zur Ausübung des Exorzismus und zur Abhaltung daoistischer Andachten be- rechtigte. Das «Drachen-Tiger-Gebirge» in der Provinz ]iangxi war Begräb- nisstätte des Daoistenpapstes Zhang Ling, dessen «päpstliche» Nachfolger in der 70. Generation bis auf den heutigen Tag weiterwirken. Der Kloster- daoismus andererseits war im mittelalterlichen China weit verbreitet und hat auch heute noch Nachfolger (u. a. am Lac Shan nahe der Hafenstadt Qing- dao). Das Leben der Mönche richtet sich nach den «dreihundert Geboten», die z.T. buddhistischen Mönchsregeln nachempfunden sind“. Der «Xian» wird mit einem Zeichen geschrieben, das sich aus den Ideogrammen für «Mensch» und «Berg» zusammensetzt; er ist in. a. W. ein «Einsiedler» — und fern jeder Politik, für das Mandarinat also völlig ungefährlich. In Zeiten des Umbruchs freilich bekamen religiöse Gruppierungen Ein— fluß — man denke an die Tradition der Bauernaufst'a'nde in China, nicht zu— letzt aber auch an religiöse Gruppierungen in Vietnam, wie die Caodai, die Hoa Hao und an den südvietnamesischen Sangha. Die Herrschaft des Staates über die Religion geht in China nach 1949 weiter. Religionsgemeinschaftcn sind dort inzwischen zu «Massenorganisationen» umfunktioniert worden, die unter KP-Führung stehen. Trennung von Staat und Kirche Eine Trennung von Staat und Kirche im Sinne der Augustinischen Zwei— Welten—Lehre gibt es, sieht man einmal vom Sonderfall der ]ainas ab, prak- tisch erst unter europäischem Einfluß. Als Musterf'a'lle sind hier japan und Indien zu nennen. In Japan hatte der Tenno zwischen i868 und 194; kraft seiner göttlichen Sendung Staat und Religion im Geiste des Shintoismus mit- _elnander verklammert, um so den Neuerungsschock zu dämpfen, der dem Japanischen Volk im Zeichen der Meiii—Reform zugemutet wurde, aber 2_Uch um den sich schnell entwickelnden japanischen Imperialismus zu legi- tlm1eren. Durch die Verfassung von 1947 wurde der Kaiser als «Symbol» des Staates wieder dorthin zurückgedrängt, wo er 1000 jahre lang seinen Platz gehabt hatte, nämlich in das esoterische Milieu des Palastes. Heute herrscht Trel'lrlung von Staat und Kirche, die so weit geht, daß die Religionsgemein- schaften und Einzeltempel auch finanziell auf eigenen Beinen stehen müsv Sen. Nach Abschaffung des Staatsshintoismus gibt es ferner nur noch den 130 ASiat15t‘be Gesellschaften und \"L’Tl7altl’7lßtllr’ (privaten) Schrein—Shintoismus. In Indien wurden die beiden Berufe des «Politikers» und des «Geistlichen», dem klassischen Hinduismus entsprc_ chend, lange Zeit von verschiedenen Kasten ausgeübt, wobei die Kshairiyg, die «Königs»—, die Brahmanen aber die Priesterrolle übernahmen. In einer Art politischer Symbiose unterstützten die «Priester» die «Könige» mit Le— gitimationsritualen, («Sanskritisierung» des Herrscherstatus), woraufhin diese sich mit Landschenkungen und sonstigen Stiftungen revanehierte„ Obwohl sich dieses Beziehungsverhältnis später differenzierte, gibt es auch heute noch keine nennenswerte Konkurrenz zwischen beiden. Dies hängt nicht nur mit dem geringen Organisationsgrad des Hinduismus, sondern auch mit der hinduistischen Toleranz zusammen. Nur ab und zu kcimen Konflikte auf, wenn der Staat nämlich bestimmte «Auswüchse» des Kasten wesens beschneidet (man denke hier vor allem an die «Unberührharen Frage), oder wenn er, wie im Hindu Marriage Act von 1935, tief in die I'L'li» giöse Substanz eingreift, indem er beispielsweise Polygamie verbietet und die Scheidung zuläßt. Das Nebeneinander: Tbcrwvadabna'dhisnms Das mehr oder weniger harmonische Nebeneinander von Staat und «Kir— che» findet vor allem im Theravadabuddhismus statt. Die organisatorischm «Fahrstühle» von Staat und Sangha pflegen in den fünf klassischen 'l"herava- daländern seit jeher zueinander parallel zu laufen; so gab (und gibt es) z. B_ in Laos ein Fünfstufengebäude, das von der Zentrale über die Provinzen. Kreise und Gemeinden bis hinunter zum Dorf (hang) reicht. An der Spitze nahm früher der König die «Rechtsaufsicht» (nicht «Fachaufsieht») über den Sangha wahr; heute ist dies Aufgabe eines Religionsministeriums. Die welt- liche Provinzverwaltung fand ihr Gegenstück in der Diözese, die Ki'eisxer— waltung im buddhistischen Kreisvorsteheramt und der «Dorfbürgermeister» im Kirchenamt des örtlichen Wat (Tempel)“. Als Ganzes verfügte die Mönchsgemeinschaft freilich nie über eine zentrale Autorität oder gar so et- Was wie ein «Papsttum». Dadurch kam es zu zahlreichen Einstellungen der «Drei Kleinodien», die manchmal bis zum Identitätsverlust führten: Die Gestalt Buddhas beispielsweise wurde im Mahayana fast ganz durch (ina— dengottheiten in den Hintergrund gedrängt; der Sangha spaltete sich in im— mer neue Nikayas (Sekten) auf, und die Lehre selbst zersplitterte in zahllose «Fahrzeuge» (yana): Mit dem Yana überquert der Buddhist nach dem Volk» glauben den Fluß der Wiedergeburten und gelangt ans Ufer des Nirwafld. Die drei wichtigsten Yanas sind bekanntlich das Kleine Fahrzeug (Hinay Ana. identisch mit Theravada), das Große Fahrzeug (Mahayana) und das Tantri— sche FahrZCUg (Vajrayana), die noch ergänzt werden durch mannigfache all‘ d6re Fahrzeuge, welche ihre Entstehung lokalen Synkretismen verdanktcn Unabhängig von solchen Varianten freilich hat sich in den fünf I.andern des Th€ravadabuddhismus eine subtile Symbiose zwischen Königtum und [I. Wie in Asien regiert wird 13 1 Sangha herausentwickelt. Während der König seine Schütyende Hand über den Orden hielt, sorgte dieser dafür, daß auf den Dörfern niemals Zweifel an der Legitimität des Königtums aufkamelk Nach der Tradition Buddhas hat der Sangha politisch zwar abstinent zu sein. Er kann also keine Re ierun s- funktionen ausüben, und seine Mitglieder sind weder aktiv nth asäiv Wahlberechtigt. Die Geschichte hat jedoch gezeigt, daß der San ha if aller Regel regierungsaffirmativ ist. In jüngster Zeit gab es hier aller%lin 5 Aus— nahmen, vor allem in Laos und im — mahayanabuddhistischen _ Vietnam Wo politisch engagierte Mönche durch ihre Propagandatätigkeir für den Pa—, thet Lao oder aber, wie in Vietnam, durch spektakuläre Selbstverbrennun en die Glaubhaftigkeit ihrer Regierungen untergruben. In der Re el war ciies freilich eher das Werk von Einzelpersonen als des gesamten Ord;ens Ein weiteres politisches Charakteristikum des Buddhismus ist seine de— mokratische Grundausrichtung, die historisch damit Zusammenhän t daß die Mönchsgemeinschaft aus einer antibrahmanischen Reformbev%dgung hervorgegangen war. Ferner betrachtete sich Buddha selbst nicht als Ober— haupt des Sangha, sondern nur als Lehrer. Schüler konnte jedermann wer— den, ohne Ansehen von Rasse, Bildungsstand oder Kaste. Dieses «demokra— tische Milieu» färbte allmählich auch auf die Laiengemeinden ab und führte zu jener Konzeption der Gleichheit aller Menschen, die für theravadabud- dhistische Dörfer auch heute noch typisch ist. Nebeneinander von Staat und Kirche sowie Demokratiefreundlichkeit sind also Markenzeichen der Polit—Tradition des Buddhismus, die im zo.]ahrhundert allerdings erheblichen Schaden erlitten hat, nachdem im Kambodscha der Roten Khmer 3050 Pagoden zerstört sowie 81 500 buddhi- stische Bonzen ermordet“ und die Mönchsgemeinschaften in der (1979 aus- gerufenen) «Volksrepublik Kampuchea» sowie im volksdemokratischen Laos (seit 1975) zu «Massenorganisationen» umgebaut worden sind. Gene- rell obliegt dem Sangha heute eine fünffache offizielle Aufgabe, nämlich Glaubensverkündigung (wobei «nützliche» von schädlichen Elementen — u.a. von Einflüssen des «Aberglaubens» « zu trennen sind), Volkserziehung, Gesundheitsdienst (Neubelebung der traditionellen Kräutermedizin), Auf— rechterhaltung der Tempelanlagen (die ja auch als Mittelpunkte kommunalen Lebens nützlich sind) und Teilnahme an der internationalen Friedensbewe— fällig. Die Kommunistischen Parteien versuchen das Buddhismus—Problem bezemhnenderweise an zwei besonders neuralgischen Stellen in den Griff zu bekommen, nämlich bei der Steuerung des Mönchsnachwuchses sowie bei der Erziehung der Jugend, die ja zum Hauptträger eines neuen Wertesy— Stems werden soll. ti()I'ielllltzutage läßt sich das Nebeneinander von Staat und Sangha im tradi- lerg'e en Sinne nur noch in Birma, Thailand und Sri Lanka nachweisen. Al— nading? konnte im_ceyloneSischen Bereich immer Wieder die Forderung einem Buddhismus—Staat aufkommen, da hier die tiefverwurzelte Y 132 Asialtsche Gesellschaften und Verhaltensstile Überzeugung besteht, daß der Inselstaat, der ja bereits unter Kaiser Asholg zum Theravadabuddhismus konvertierte und dann jahrhundertelang als Drehscheibe der Mission in Richtung Südostasien diente, zur eigentlichen Heimat des Buddhismus und daß darüber hinaus das Singhalesentum zum auserwählten Volk Buddhas geworden sei. (} Islam und Stamsgewalt in Pakistan (und Bangladesch) Das Verhältnis zwischen Religion und Staat ist besonders spannungsreich in den sechs von islamischen Mehrheiten bewohnten Staaten Asiens, Pakistan (97 % Muslims), Bangladesch (80 %), Malediven (90 %) sowie in Indonesien (91 %), Malaysia (50%) und Brunei (60%), nicht zu vergessen auch die Staaten mit starken islamischen Minderheiten wie Indien (11 %), die Philip. pinen in Mindanao und auf dem Sulu—Archipel (4 "a), Südthailand (} %) und Singapur (16 %). Theoretisch geht der Islam, wie gesagt, von der Untrennbarkeit zwischen Staat und Religion aus; in der Praxis freilich herrscht das Nebeneinander vor « und dies sogar in einem Staatswesen, das mit dem Ziel einer neuen Muslinr Heimat gegründet worden ist — in Pakistan. Ursprünglich hatte das Gebiet ia bekanntlich zu Britisch—Indien gehört, sich dann aber, nach blutigen musli— misch—hinduistischen Bürgerkriegsauseinandersetzurigen, 1956 als «Islami— sche Republik» konstituiert, und zwar unter dem Kunstnamen «Pakistan», der soviel bedeutet wie «Land der Reinen», zugleich aber auch das Akronym aus Buchstaben der einzelnen westpakistanischen Landschaften ist, nämlich Punjab, Afghan—Frontier, Kaschmir, Sindh und Belutschistan. Ursprünglich hatten sich zwar Hindus und Muslims in der Congress Party zum gemeinsamen antibritischen Kampf zusammengefunden; je mehr jedoch das Ende der britischen Vorherrschaft in Sicht kam, um so stärker wuchs bei den Muslims die Furcht, durch die Hindus majorisiert zu werden; sie bauten deshalb eine breite Abwehrfront auf, die sich organisatorisch in der Gründung der Allindischen Muslim—Liga (1906) sowie der ]amaat—H» lami (1941) und ideologisch in den Schriften eines Alamat Iqbal (1873—1938) sowie des späteren Staatsgründers Ali ]innah (1876—1948) äußerte. jinnahs Staatsphilosophie gipfelte in der «Zwei—Nationen—Lehre», die davon aus- ging, daß Hindus und Muslims nicht nur zwei verschiedenen religiösen, ger sellschaftlichen und kulturellen Systemen angehörten, sondern mehr noch, zwei «Nationen»: sie heirateten nicht untereinander, ia setzten sich nicht einmal an denselben Tisch; sie beriefen sich auf unterschiedliche Traditio- nen, Epen und Vorbilder: wer hier als Held gefeiert werde, gelte dort als T0dfeind'”. Ziel müsse es deshalb sein, für den «gefährdeten Islam» Cini“ Hmm?“ Zu schaffen, in der es keine Paniabis, Bengalen, Belutschen oder Pk tanen mehr gebe, sondern nur noch Muslims — also eine Gemeinschaft der Glaub1gen in der Nachfolge der Umma (Gemeinde) von Medina”. [I. Wie in Asien regiert wird 133 Dieses Ziel kam einer Quadratur des Kreises gleich, weil das eigentliche Merkmal Pakistans von Anfang an die Zersplitterung war und bis heute ge- blieben ist: Dies beginnt bereits bei den verschiedenen sich hier begegnenden Kulturen, die der Indus sogleich wieder voneinander trennt: Zwei der vier Teilstaaten Pakistans, Belutschistan und Paschtunistan, beherbergen Bevöl— kerungeni die sich ihrem Denken und Brauchtum nach eher zu den Stam- mesgenossen in Afghanistan und Iran hingezogen, während die Panjabis und Sindhi5 (östlich des Indus) sich eher im eigentlichen Indien beheimatet füh— len. Das pakistanische Selbstverständnis befindet sich nach alledem in einem Spannungszustand zwischen zwei Extremen, die sich mit den Bildern vom «Pakistaner als einem Araber in der indischen Diaspora» einerseits und ei— nem «Inder in der arabischen Diaspora» andererseits illustrieren/überzeich- nen lassen. Mit dem Kopf ist man zwar nach Arabien, mit dem Herzen aber nach Indien orientiert. Geistiges Zentrum für die Mehrheit der Pakistanis ist nicht die Al—Azar—Hochschule in Kairo, sondern die 1880 in Indien errich— tete Theologische Hochschule von Deoband; Hantitautorität sind nicht Lehrer arabischer Provenienz, sondern die beiden einheimischen Reforma- toren Shah Wali Allah (18.jahrhundert) und Saiyid Ahmad Khan (19.]ahr— hundert); Hauptsymbol des pakistanischen «Nationalismus» schließlich ist das von den Moghul—Kaisern errichtete Rote Port in Delhi. Die Doppelge— sichtigkeit Pakistans führt auch zu außenpolitischen Ambivalenzen: auf der einen Seite neigt das Land zum Zusammenschluß mit Indien — und zwar in Form der SAARC (South Asian Regional Corporation), auf der anderen Seite aber winkt das RCD (Regional Corporation of Development) mit den islamischen Nachbarstaaten Türkei und Iran, mit dessen Gründung sich 1964 die Hoffnung auf einen Wirtschaftsblock vom Bosporus bis zum Golf von Bengalen verband. Daneben gibt es zahlreiche Bewegungen, Denkschulen, Sekten und Un- tersekten, die zeigen, daß es «den» Islam in Pakistan nicht gibt. Bezeichnend vor allem der Volksglaube, dessen Ursprünge vorislamischer Natur sind und der zahlreiche Gemeinsamkeiten mit hinduistischem Brauchtum aufweist, vor allem im Zeichen der Heiligenverehrung. Die Gräber mohammedani— scher Mystiker und Missionare gleichen eher hinduistischen Heiligtümern als den üblichen Moscheen. Dies gilt vor allem für die Torbauten, die zum Jeweiligen Grabmal führen. Höhepunkt eines religiösen jahres ist der Na- menstag des Schutzpatrons, der Anlaß zu einer Pilgerreise (urs) gibt. Anlaß— llCh eines Urs bringen die Gläubigen am Grab des Wadi (Gottesfreundes) Blumenopfer dar, zünden Kerzen und Weihrauch an, beten, singen, tanzen und verhalten sich wie bei einer hinduistischen Andacht. Hinduistisch ist alICh das «Audienz»—Ritualz man geht davon aus, daß der Wadi am Gedenk- tag hthält und die Gläubigen empfängt. Der wichtigste Schrein Pakistans, der «Darbar» (Hof) des Mystikers Ali Hujiwiri in Lahore, kommt häufig in sPlelfilmen vor und ist sogar zum Gegenstand des populärsten pakistani— Y., 134 Asiatzscbe Gesellschaften und Verbaltensstile schen Schlagers der siebziger Jahre geworden: Stoßgebet eines verliebten Mädchens am Heiligen Grab. Nicht nur Filmstars, sondern auch Politiker lassen sich gerne beim Urs und beim Blumenopfer vor den Torbögen der Grabmonumente fotografieren“. . . Neben der Volksreligion haben es auch die Mysnkerorden some Bruder- schaften und Gräberkultvereinigungen zu hoher Populantat gebracht. Mit. glieder solcher Gemeinschaften sind jene «Weisen», die in Pakistan «Pir» ge! nannt werden und eifrigen Zulauf finden”? Für die streng fundamentalisti— schen Anhänger des Gesetzesislam (jamaat-1Islami)smd all diese volks- und vorislamischen Phänomene ein Greuel. Während der Volksislam fast so wie, rant ist wie der Hinduismus, herrscht bei den an Khomeni erinnernan Fun— damentalisten strengste Orthodoxie: sie fordern Reinhaltung des_Glaubem und Trennung der Geschlechter. Der Tschador soll fur iede Frau Pflicht sem_ Wie nun soll aus diesem Durch— und Nebeneinander am Ende doch noch ein harmonisches Mosaik werden? Wodurch iiberhaupt kennzeichnet sich ein Islamstaat? Diese Fragen wurden durch die Verfassung von 1956 folgen_ dermaßen beantwortet: (1) Pakistan sei eine Islamische Republik und als sol— che ein auf islamischen Prinzipien beruhendes demokratisches Staatswesen, (2) Staatsoberhaupt müsse ein Muslim sein, (3) es dürften keine unislami— schen Gesetze ergehen, und (4) verboten werden sollen Glücksspmle, Allto— hol, Prostitution und kommunalistische Sektenbildungen“. Dies waren klare Grundsätze, die sich in der Praxis jedoch nicht durchsetzen konnten. Vor allem sah sich die Idee einer islamischen Nation schon bald mit zwei existenzgefährdenden Krisen konfrontiert, nämlich der Renaissance des Ethno—Nationalismus, die vor allem von Bengalen ausging, und einer soz1a— listischen Strömung, die durch Bhuttos (1972—1977) neugegründete Pakistan People’s Party populär wurde. . ' „ Muiibur Rahmans bengalischer Nationalismus war von drei typisch saku- laren Kräften getragen, nämlich dem immer schon höchst selbstbewußten Bengalentum (also einem echten Nationalismus im westlichen Sinne“), ferner von der in Ostpakistan verbreiteten Abneigung gegen die arroganten Panifl> bis und nicht zuletzt vom Mißtrauen gegen jenes Entwicklungsgefalle, das im Zuge des von Ayub Khan (1958—1969) durchgezogenen «jahrzehnts der Entwicklung» zwischen West— und dem (rund 2000 km entfernten) Ostpflkl' Stan entstanden war. Im Kampf zwischen der übernationalen [_Irnnm-Idee und dem bengalischen Nationalismus erwies sich der letztere als übermaclr tig, zumal sich bald herausgestellt hatte, daß der seit dem i4.jahrhundcrt «bengalisierte» Islam des Ostteils mit dem Paniab—Islam im wesentlichen nur die Bezeichnung gemeinsam hatte“. Der Ausgang des Konflikts ist bekannt es kam zum Bürgerkrieg und 1971 zur Gründung eines selbständigen neutn Staates mit dem Namen «Bangladesch». ' Die zweite Gefahr ging vom «islamischen Sozialismus» des Ali BhUÜIO aus, der seinen Sozialismus als modernen Ausdruck altislamischer Vorst€ ‘ [I. Wie m Asien regzert wird I}; lungen verstand”. In einem Manifest von 1977 versprach Bhutto, den Frei— tag zum staatlichen Feiertag zu erklären, eine gesamtnationale Ulama—Aka— demie einzurichten, den Koranunterrieht in den staatlichen Schulen festzu— sc}„rgiben und Koranexemplare in allen Hotels auszulegen. Die Ulamas frei— lich wollten sich durch «Augenwischereien» dieser Art nicht täuschen lassen und verdammten seine säkularistische Politik unter Einsatz religiöser Edikte (fatwas)“. 1977 wurde Bhutto durch einen Militärputsch unter Leitung Ge— neral Zia UlvHaqs ausgeschaltet. Zia, der sich als «Soldat des Islam» auszu— weisen suchte, verkündete am IO. Februar 1979 die «Einführung des Islami— schen Systems». Mit sofortiger Wirkung sollten die in der Shariah vorgese— henen Strafen für Alkoholgenuß, Diebstahl und F.hebrueh in Kraft gesetzt werden. Ferner wurde die Einführung des Zakkat (Armensteuer), des Ushr (zehnten), des zinsfreien Banksystems und eines Bundes—Shariah—Gerichts angekündigt, welch letzteres für die Entscheidung über Beschwerden gegen die Unvereinbarkeit staatlicher Maßnahmen mit islamischen Gesetzen zu— ständig sein sollte. Darüber hinaus wurde eine Islamische Universität (in Islamabad) errichtet und das Fach «Islamkunde» als Schulfach eingeführt. Die «Islamisierungs»—Frage wurde zu einem Lieblingsthema der Medien, vor allem der Fundamentalisten, die übrigens auch Zia nicht über den Weg trauten. Auf den Dörfern freilich kümmerte man sich kaum um das «Islami— sierungsgerede», wie der Anthropologe Richard Kurin im qm)—Seelen— Dorf Chakpur (Panjab) aufgrund einer sich über sechs jahre hin erstrecken— den Feldstudie feststellen konnte”. Die meisten Einwohner dieses Dorfes wandten sich entschieden gegen zwei der drei wichtigsten Neuerungen Zias, nämlich gegen das Opiumverbot sowie gegen die Einführung des Zakkat und des Ushr, deren Erträge am Ende ja doch nur in dunklen Kanälen ver— sickerten. Andererseits befolgten sie mit heller Begeisterung die dritte große Anordnung, nämlich den Auf— und Ausbau von Dorfmoscheen — also ein frommes Werk, für das jedermann gern Zeit und Geld opferte und bei dessen Durchführung das Gefühl «brüderlicher» Gemeinschaft aufkam. Ansonsten nahmen es die Dörfler von Chakpur mit islamischen Institutionen und Mo— ralgeboten nicht allzu wörtlich. Beispielsweise zeigten sie wenig Respekt für den «Dorf—Sayyed» (Abkömmling des Propheten), der über den Moschee— lil‘lltsprecher die Gläubigen zum Gebet aufrief und geistliche Sermone ab— hielt; auch der Dorflehrer, der den Koranunterricht leitete und, wie es hieß, *filnall diesen Allah—Stoff» zuständig war, genoß wenig Respekt. Nur die “f6mg5ten Dörfler auch hielten sich an die fünf Grundgebote des Islam. Nur Vier Oder fünf Personen beispielsweise hielten die fünf Tagesandachten ein; auch «milde Gaben» (Zakkat) wurden kaum gegeben; sogar die Fastenregeln YUrden nur von einer Handvoll von Leuten beachtet. Kein einziger hatte überdies bisher die Pilgerfahrt nach Mekka unternommen A von einer Teil— nahme am «Heiligen Krieg» ganz zu schweigen. Kam es zu alltäglichen Onflikten‚ so konsultierte man keineswegs die heiligen Shariah—Vorschrif- 136 Asiatzsche Gesellschaften und Verhaltensstile ren, sondern brachte die Angelegenheit vor einen Clanführer oder einen Bruderschaftsvorsitzenden, der eine informelle Entscheidung traf. Auch die meisten «Hadood»—Vorschriften wurden als zu hart und unvenräglich mit der «heißen» menschlichen Natur empfunden, vor allem dann, wenn es „„, sexuelle Verbote ging. Und doch verstanden sich alle als echte und begei— sterte Mohammedaner, die an der Legitimität der islamischen Einrichtungen und Glaubenssätze nicht den geringsten Zweifel hegten. Fiir die Chakp1„is ist der Islam ein Symbol des Guten, des Richtigen, des Moralischen und des Rechten. Gilt jemand als guter Mensch, so ist er qua definitione ein guter Muslim. Der Islam ist m.a. W. das einzige Symbol der Moralität, der Ge— rechtigkeit und der Wahrheit“? Der alte Widerspruch zwischen Umma—Ideal und säkularer Wirklichkeit hatte die Islamische Republik Pakistan schon bald wieder eingeholt. Solange sich Pakistan nicht wirklich als Islamstaat versteht, bleibt es ein ähnlich brii_ chiger Vielvölkerstaat wie das alte Österreich—Ungarn. Sollte es dagegen zur Umma zusammenwachsen wollen, so wäre dies nur mit einem «Königsop— fer» möglich, nämlich der Zügelung aller innovationsbedachten Eliten. «Zerfall oder Mittelalter» ‚ dies scheint, überspitzt ausgedrückt, die Alter— native Pakistans zu sein. 11) Die Pancasila—Verfassung Indonesien; Auch an der Wiege der Republik Indonesien, dem größten Muslimstaat der Welt, in dem allerdings 20 % Nichtmohammedaner leben, stand die Frage, welche rechtliche Bedeutung der Islam haben sollte. Die orthodoxen Mus— lims forderten die Errichtung eines islamischen Staats und die Umsetzung der Shariah, während die Nationalisten für einen «religiösen Staat» eintra— ten, in dem auch das Adat Geltung erhielte. Im juni 1945 hielt Sukarno seine als «Geburt der Pancasila» bekannte Rede, in der er die fünf Grundprinzi— pien zusammenfaßte, die dem gesamten Volk und nicht nur den Muslims eine geistige Heimat bieten sollten, nämlich (1) die All—Eine—Göttlichkeit (damit wurde der Glaube an eine der fünf anerkannten Hochreligionen. nämlich des Islam, des Protestantismus, des Katholizismus, des Hinduismus oder des Buddhismus, zu einer Art verfassungsmäßiger Grundpflicht jedes Indonesiers); (z) Gerechtigkeit; (3) staatliche Einheit; (4) Demokratie durch umfassenden Konsens und (g) soziale Gerechtigkeit. Im gleichen Monat noch forderten die Muslims eine Erweiterung des ersten Grundsatzes um den Passus «mit der Verpflichtung, die islamische Shariah durch ihre Anhän- ger Binzuhalten». Als freilich am 18. August 1945 die Präambel verabschlc’ det wurde, fehlten die «sieben Worte», d. h. die Shariah—Klausel. Die empörten Muslims suchten fortan mit einer Doppelmethodt‘ d09h noch ihr Ziel zu erreichen: Erstens versuchten sie, separatistische Islamstaa' te" ZU errichten, wobei sie sich teilweise militärischer Mittel bedienten. 1949 [I. Wie in Asien regiert wird 137 zum Beispiel wurde das sundanesische Westjava zum < Daß das Ganze in Asien mehr gilt als die Summe seiner Teile, wurde oben S_ 38ff. bereits ausgeführt Auch die Gesellschaft ist nicht eine Ansammlung von Individuen, die dem Ganzen selbständig gegenüberstehen, sondern ein nach genauen Regeln geordnetes interpersonelles Gefüge von Gliedern, die sich in das Ganze einordnen. Uber— und Unterordnung, (}egenseitigkeit bei Pflichten und Diensten, Arbeitsteilung und Konservativismus sind Haupt» strukturelemente. Schon fast sprichwörtlich ist die ubiquitäre Hierarchie, die nicht nur im Konfuzianismus oder Hinduismus verankert ist, sondern auch in den islami— schen Gesellschaften lndonesiens oder Malaysias, wo man ja eigentlich mus— limische Gleichheit erwarten müßte, wo jedoch überall noch das hinduisti— sche Kulturerbe durchschlägt. Stets hatte man hier noch jemanden über sich. Sogar der Herrscher verstand sich noch als Vasall des «Himmels» oder Gotf tes. In den heutigen «sozialistischen» Ländern Asiens ist das Stufenverhalten vielleicht sogar noch stärker ausgeprägt als in den «bürgerlichen» oder «feu— dalistischen» Gesellschaften. Einsame Spitze erreicht hier Nordkorea, wo nicht nur die üblichen Funktionärsprivilegien (Dienstautos mit Gardinen, Kaderkrankenhäuser, Awohnungen, «gefängnisse und sogar —friedhöfe), son« dern auch die Anredeformen der Kader untereinander verschieden sind, je nachdem, ob der Adressat ein übergeordneter oder ein untergeordneter «Genosse» ist — im ersteren Fall verwendet man den «vornehmeren» sino— koreanischen Ausdruck «Dongii», im letzteren dagegen das vertraulichere «Dongmu», mit dem übrigens auch die Ehefrau titulicrt wird. In einigen Sprachen, wie im Koreanischen, japanischen oder Thailändischen. verwen— det man überdies gegeniiber einem Höherstehenden andere Anreden und Z.T. sogar Verben als gegenüber einem sozial Untergeordneten. Weiß man über die Stufcnfolge nicht Bescheid, so lahmt dies die Zunge. Der Austausch von Visitenkarten mit Namen und Ranganzeige ist deshalb unerläßlich. Der gesellschaftliche Eingliederungsdruck wirkt sich auch auf Wirtschaft und Politik aus. In zahlreichen Gesellschaften bestehen strenge Arbeitstei— lungsvorschriften ‚ am unerbittlichstcn nach wie vor in der hinduistischen Kasten— und Subkastengesellschaft, aber 1uch im sonst so hochmodernenja— Pan, Wo bestimmte, nach shintoistischer Begrifflichkeit «unreinc» Tätigkei— ten wie Gerberei, Schlachterei und dergleichen den de lege eigentlich schon 1871 abgeschafftcn «Burakumin» («niedrigen Leuten») überlassen bleiben, die ihrerseits subkastenähnlich organisiert sind. Zu erwähnen auch die h_ÖChst präzisen Arbeitsteilungen zwischen den Geschlechtern in einigen Sljdostasiatischen Gesellschaften. Die Männer besorgen dort das Vieh * Buf- fe], Schweine, Rinder, Hühner und Enten — sowie die schwerere Eeldarbeit “hd betreiben Fischerei. Die Frauen erledigen den Haushalt, helfen auf dem Feld mit und haben Tragearbeiten zu leisten. Vor allem im malaiisch—islami— Asiatische Gesellschaften und Verbaltensstile 152 schen Bereich käme es keinem Mann in den Sinn, ein Bündel schwerer Bam_ busstangen oder aber einen Früchtekorb von einem ins andere Dorf zu Schleppen; er wuchtet die Last zwar auf die Schulter oder auf den von einer «Pdsterkrone» geschützten Kopf der Frau — die Last zu tragen und zu schleppen ist jedoch deren Aufgabe. Die «gliedhafte» Arbeitsteilung erfolgt aber darüber hinaus auch in dem Sinne, daß der Bauer ackert, der Mönch psalmodiert und das Mandarinar regiert, ähnlich wie im europäischen Mittelalter, als es noch die Ordines (Ka- tegorien) der aratores, der oratores oder der bellatores gab. «Regieren» Wird in allen asiatischen Gesellschaften «von denen da oben» erledigt; Partizi— pationserwartungen sind minimal, und überall gibt es formelle Abgrenzum gen - im Hinduismus, im Buddhismus und im Daoismus: Bekannt ist das politische Abstinenzgebot für buddhistische Mönche, das sich noch heute dahin auswirkt, daß Mönche beispielsweise weder aktiv noch passiv wahlbe— rechtigt sind. Auch in den «300 Mönchsgeboten des chinesischen Daois— mus«73 gibt es drei Mahnungen: «Du sollst dich nicht um militärische oder politische Angelegenheiten kümmern» (st. Gebot), «Du sollst in militäri— schen oder politischen Angelegenheiten nicht Glück oder Unheil durch Orakelmittel erkunden» (52. Gebot) und «Du sollst über politische Angele— genheiten keine Diskussionen führen» (;3. Gebot). Was umgekehrt die Machthaber anbelangt, so pflegen sie Kritik oder Opposition geradezu als Majestätsbeleidigung zu empfinden. Es herrscht der Grundsatz, daß, wer opponieren möchte, sich gefälligst um Aufnahme in den Club der politi— schen Elite bemühen — oder aber schweigen möge. Von diesem Eliteprinzip haben auch die Sozialrevolutionäre keine Ausnahme gemacht. Zu den gesell— schaftspolitischen Hauptanliegen Mao Zedongs hatte es zwar gehört, «Poli— tik» für jedermann «an die erste Stelle zu setzen», «Rot» höher zu bewerten als «Fachmännisch» und vor allem überall die «Massenlinie» durchzusetzen; doch durften die vielbeschworenen «Massen» allenfalls gegen die Feinde Maos initiativ werden, niemals jedoch gegen ihn selbst oder sein «Haupt quartier». Wer die Gesellschaft und die so tief eingekerbte Arbeitsteilung schnell ver— ändern möchte, kann leicht scheitern. Es ist gewiß kein Zufall, daß in China gerade jene Dynastien, die mit besonderem Schwung Veränderungen betrei— ben wollten, auch die kurzlebigsten waren « man denke an die kraftvolle Qin—Dynastie, auf deren Konto zwar die Einigung des Reiches ging, die ins gesamt aber nur 15 Jahre alt wurde, man denke ferner an die Sui (;8if61'8)‘, die nach dreieinhalb Jahrhunderten der Zerrissenheit das Reich wieder einig- ten, die mit zu den Hauptkonstrukteuren der Großen Mauer sowie des Ralf serkal_lals gehörten, Millionen von Arbeitsdienstpflichtigen organisterts‘f‘ Und Sich nicht weniger als zwei Hauptstädte, Chang’an und Luoyang, leiste ten, die diesen Kraftausbruch aber mit einer kurzen Lebensdauer von nur 37 Jahren bezahlen mußten. Auch die draufgängerische Yuan—Dynastie brachtz? v 11. Wie in Asien regiert wird 153 es nur auf 89 Jahre. Was schließlich das maoistische China anbelangt, so sank es mit dem Tod seines Führers ins Grab; zumindest ist davon unter den Re- formern kaum etwas übriggebliebcn. Umgekehrt konnten sich alle konser— vativen Dynastien meist Hunderte von Jahren halten, darunter sogar die von fremdländischen Herrschern bestimmten Qing. Eine «konservative Revolution» findet nach vielen Jahren der Nachah— mung des Westens nicht nur in Japan statt, sondern auch in buddhistischen, vor allem aber in den islamischen Ländern, wo die fundamentalistischen Bea wegungen den Geist der «Gemeinde von Medina» neu beschwören. Die Haupttri€bkmft dafür geht freilich letztlich von dem Identitätsverlust aus, mit dem sich die asiatischen Gesellschaften angesichts der zunehmenden «Verwestlichung» bedroht sehen. d) Der Melafeonfitzianismus als Beispiel einer «neuen» politischen Kultur China ist heutzumge weder eine sozialistische noch eine kapitalistische Ge sellschaft (dies iat der Autor begründet im China—Band der BsR Nr.867, S. 287ff.), sondern eine Ubergangsgesellschaft auf dem Wege zum Metakon— fuzianismus; mit diesem Begriff ist nicht der Konfuzianismus der Großen Tradition und des Mandarinats gemeint, sondern der Bauern—, Händler und Kleinbürger—Konfuzianismus ‚ kurzum der Kt)tifuziaiiisnius des kleinen Mannes, dem die maoistische Revolution nicht das geringste anhaben konnte und der deshalb in allen sinisierten Ländern, d. h. in den beiden KO— reas, in Japan, Vietnam, Taiwan, Hongkong und Singapur, folgende gemein— same Elemente aufweist: — Einordnungsbereitschaft: Nicht das Ich, sondern das Wir steht im Vor— dergrund. Der einzelne ist also nicht Individuum, sondern «Ältester Sohn» in der Familie, «Zweiter Buchhalter» in der Xeliabrik etc. Am Telefon mel— det er sich zuerst mit seiner Danwei, dann erst mit seinem Namen. — Hierarchie: Es gibt keinen «Bruder», sondern nur einen «Älteren» oder einen «Jüngeren Bruder», keinen «Onkel», sondern nur einen «Zweiten» oder «Dritten Onkel»; das Alter steht über derjugend und — bis vor kurzem — der Mann über der Frau, ligalitarismus und Gleiclibercchtigung gelten ins— geheim als «unnormal». Dies ist übrigens auch international gesehen der Fall: «Wir» (China oder Japan) sind entweder die Nr. I oder wir rangieren unter «ferner liefen». Niemand sei so naiv zu glauben, daß China die neuer— Worbenen Technologien nicht eines Tages genauso gegen die Europäer aus— Spielen wird, wie es die Japaner heute schon tun. — Vorrang der Erziehung und des Lernens: Konfuzianische Gesellschaf— ten sind pädagogische Provinzen; ihr Symbol ist der Zeigefinger, ihre Hal— tlmg der pädagogische Optimismus: nichts, was nicht durch Erziehung er— reicht werden könnte ‚ sogar Vollkommenheit. Der Nimbus des Fachwis— sens zählt dabei allerdings weniger als die Gemeinschaftsförmigkeit. 1;4 Asiattsche Gesellschaften und Verbaltensstile — «Ordnung»: Es gibt nichts Hassenswerteres als Luan («Unordnunw‘ < proportionen» zwischen Einnahmen und Ausgaben, zwischen Stadt und Land oder zwischen Erzeugung und Konsum. Auch rein wirtschaftliche Überlegungen und Kostenrechnungen spielten nur eine untergeordnete ROlle. Die Könige von Angkor etwa zogen, ähnlich wie die pharaonischen I)}"”amidenbauer, Nekropolen und Erinnerungstempel in die Höhe, die am s$hlllß nahezu das gesamte Volksvermögen verschlangen. Wichtig war hie!“ mcht der Rechenstift, sondern das Ritual. [I]. Wie asiatische Gesellschaften wirtschafren I)'7 Gewinne wurden drittens selten reinvestiert und statt dessen meist in Grundstücken angelegt (_China), für «gute Werke» (z_ B_ Herstellung einer Buddhafigur oder Bau eines Tempels) Verwendet (Theravadabuddhismus) oder aber in Stiftungen für Brahmanen eingebracht (im mittelalterlichen Indien). _ _ _ Viertens «adelte Arbeit» kemesfalls. Die Vorstellung von der Arbeit als ei- nem Mittel zur Selbstverwirklichung oder als sittlicher Ausdruck innerweltli- cher Askese wäre dem traditionellen Asien absurd Vorgek0mmen_ Hoch ge— schätzt war demgegenüber jede Art von Muße « ganz besonders im Staats- b„ddhismus, dem ja die Meditation der Gläubigen am Herzen zu liegen hatte, etwas weniger allerdings im Konfuzianismus, der Arbeit eher als dialektisches Korrelat zur Muße begriff. In ganz Asien galt es als gesellschaftliches Privileg, nicht körperlich arbeiten zu müssen, sondern andere für sich werken zu las- sen. Reichtum und Armut bemaß man nicht nach der Höhe des Besitzes, sondern nach der Möglichkeit, andere für sich arbeiten zu lassen. Sieht man von den nomadischen Völkern ab, so gab es ein durchgehendes Ideal, nämlich Grundbesitzer zu sein und sich auf Kopfarbeit beschränken zu können, die körperliche Arbeit aber den unteren Schichten zu überlassen, die meist kein Land besaßen. Diese Vorstellung galt nicht nur für das chinesische Manda— rinat oder die Brahmanenkaste, sondern auch für den buddhistischen Sangha, dem im Gegensatz zum abendländischen Mönchtum zwar das Ora, nicht aber das Labora oblag. Körperliche Arbeit wurde auf die unteren Schichten oder die niedrigen Kasten abgewälzt, im theravadabuddhistischen, lamaistischen und islamischen Asien häufig auch auf Sklaven. Daß man andere für sich arbeiten ließ, führte ‚ fünftens — zu einer mar- kanten Trennung zwischen der politischen Führungsschicht und der Bevöl— kerung, die sich nach Bauern, Händlern und Handwerkern gliederte. Die Elite lebte zumeist in Residenzstädten, entwickelte eine Große Tradition und war für den Zusammenhalt des «Staates» so ausschlaggebend, daß (zu- mindest in Südostasien) ein Feind nur die Hauptstadt zu erobern brauchte, um das ganze Land zu besitzen. . Trotz des Zwangs, körperlich arbeiten zu müssen, nahm der Bauer in ganz Asien einen verhältnismäßig angesehenen Platz in der Gesellschaft e1n,wäh— rend umgekehrt der Händler, der stets im Verdacht der Verschlagenhert und der Profitgier stand, ganz am unteren Ende der sozialen Leiter ange51edelt War, die beispielsweise in China und Tokugawa—japan aus wer Sprossenbe- stand. Eine Ausnahme hiervon gab es lediglich in der islamischen Welt, deren Prophet Mohammed ja einst den ehrbaren Beruf eines Kaufmanns ausgeübt hatte. Zwischen Bauern und Kaufleuten standen die Handwerker, Zu denen nicht nur die schlichten Gewerbetreibenden, sondern auch Tem- pdarchitekten, Bildhauer und Ingenieure gehörten, deren über ganz Asren verbreitete Wunderwerke auch heute noch das Erstaunen der Nachwelt erregen. „g Asiatische Gesellschaften und Verhaltensstile Die Führungsschichten waren Abschöpfungseliten, die Städte reine Kon_ sumzentren und die Behörden Einforderungsagenturen für Steuern Und Dienstleistungen. Wie sehr sich das Abgabewesen im Laufe der Zeit wandeln konnte, wird besonders deutlich in der chinesischen Geschichte, wo der ur; Sprüngliche Ausdruck «gong» (Tribut) zuerst durch «zu» (Hilfe) und später durch «zhi» (Beitrag) abgelöst wurde‘. Aus einer Lehensabgabe an den Herr. scher war also eine «Unterstützung» im Sinne der altgriechischen I‚citurgü (Dienst für die Gemeinschaft) und schließlich eine Zwangsabgabe geworden, Um nicht Freiwild für habgierige Beamte zu werden, schlossen sich Handwerker und Unternehmer häufig zu Gilden zusammen, denen bisweif len auch das staatliche Außenhandelsmonopol anvertraut wurde, so 7.. B. den bis zum Vorabend des Opiumkriegs (1840) im südchinesischen Canton tätigen Cohong (gonghang) oder aber den südindischen Nanadesi, die mr allem an der südwestlichen Malabar» und an der südöstlichen Coromandef Küste zu Bedeutung gelangten und Beziehungen mit der arabischen sowie der südostasiatischen Welt unterhielten — und, nebenbei sei es bemerkt, auch zu wichtigen Transformatoren des Hinduismus und später des Islam wur« den. Aus einer Inschrift des jahres log; geht hervor, daß sie auch lokale line wicklungsprojekte und Tempclbauten finanzierten, ja manchmal als (;eldfi geber der Könige auftraten‘h Sechstens unterstanden nicht wenige Warengruppen staatlichem Mono— pol, so z.B. in China seit 81 v.Chr. die Hauptproduktionsgüt01' Salz und Eisen, oder wurden unter staatlicher Lizenz vertrieben; zu besonderem Reichtum brachten es hierbei die «Salzkaufleute» im zentralehinesisehen Yangzhou. Eingeschränkt war die «Unternehmen—Freiheit ferner durch die vor allem für konfuzianische Gesellschaften typischen Anti—I.uxtw(ie» setze}, die sich nicht nur gegen üppigen Kleider— und Wohnungsaulwand richteten, sondern sogar die Zahl der bei Holzschnitten verwendeten I‘.1ercn und Druckstöcke regulierten — dies besonders während der japanischen To— kugawa—Dynastie. Bei allen Einschränkungen blieb dem traditionellen Asien jedoch, sich» tens, typisch «lateinamerikanischer» Zündstoff erspart, wie ständige, von Arbeitssuche ausgelöste saisonale Wanderungen des Großteils der Bauern— schaft, spontane Landerschließungsmaßnahmen, häufige Bodenbesetzungt'fl und extrem extensive Bodennutzung bei minimaler Reinvestitionsneigung'; war in Asien doch die Landwirtschaft seit ]ahrhunderten ortsfest geworden. sieht man einmal von dem eher peripheren Schwendbau der Nomaden sowie von den Dauerauseinandersetzungen zwischen Hirten— und Bauernvölkern in Zentralasien ab. Von einer destruktiven Auswirkung der Zwangsmobilitln auf die Dörfer und von sozialer Entwurzelung der Bauernschaft konnte Ll('*’ halb kaum die Rede sein. Zu den Randerscheinungen gehörte auch die Latifundienwirtschaft. ' ein stalinistischer Steuerungsprozeß von oben Unheil ‘ln ‚““. —h h . man inzwischen zu der Erkenntnis zurückgekehrt dißii‘ml t.et atte, "“ unten ausgehen muß und daß der Transdanwci_ßi_rcidl le nit}i}ativehvpri Vorgaben liefern darf. Das neue Zauberwort heißt “Ve nur ra men a te Jahrzehnte lang . „ _ _ rantwortlichkeitss — stem», womit letztlich Danwe1—Autonomie gemeint ist Die D E- y » — ‘ anwe1- igen— initiative soll ferner nicht mehr, wie lan ve Ze „ . . , _ . . Teilpl'a'ne, sondern durch «indikative» Tliiiidtriii:f:fiiml durCh imperative .. _ .* och rahmenhaft einge- schränktbwerderä Gerne vergleicht man den Plan mit L‘inem Vogelkäfig den Mar ta er mit em Innenraum; während d) „ ‚ ‚ . ’ kartongröße zusammengestaucht worden, nL;\llljllrléllnrt Wär er auf SChi'lh— wachsen. Sogar das Mitte der achtziger lahreiniein . So ‚fer auf Hallengroße Krise steckende Vietnam dürfte sich wie ein Phonifr ““ in ertSChafthChen _ _ . aus t.er Asche erheben, sobald es sich einmal von den «unnormalen» St.tlii1istischen Vor vabe frei gemacht und zurück zur Danwei—Autonom1e gefunden hat % n 1 In den Vier anderen Kulturkre15en wird dagegen der Spur die Wirtschaft noch auf lange Zeit bin an der Hand führen müssen. da es dort 7umeist am inneren Antrieb fehlt, über die bloße Eigenversorgrme hinaus zu arbeiten Vor allem in den theravadabuddhistischen Bauern;pgelIschaftcn gilt Gewinn-i streben und Sparen ia nach Wie vor als anriicliig, Der Sangha allerdings ist gegenuber den Herausforderungen der Moderne keineswegs untii'tig geblie- ben, sondern hat in zweifacher Weise reagiert. nämlich durch Entfachung eines antikolomalen Widerstands sowie durch den Entwurf eines «buddhisti— schen Modernismus»”, der nachzuweisen versucht. daß hochmoderne — und angeblich europäische — Erfindungen in der klassischen Lehre Gautamas ja doch längst vorweggenommen worden seien, so zum Beispiel die Atomphy— Sik oder die moderne Psychologie; ferner sei die l‘orderung nach (2ewaltlosig— keit (ahimsa) schon 2000 Jahre vor der heutigen Menschenrechtsdiskussion erhoben worden, gar nicht zu reden von dem in der buddhistischen Praxis angelegten Eriedensgedanken. Solche Neuinterpretationcn sind allerdings Stückwerk geblieben und haben vor allem keine kulturadliquaten Deutungen fur die Legitimierung modernen Wirtschaftens geliefert. Und doch gibt es ein sozmökonomisches Modell, das über zooojahre alt ist, nämlich den Ashoka— Staatsbuddhismus, in dem die Bürokratie maßgebende Steuerungsfunktionen ausübt (Näheres dazu oben 5. 145 f.). Da die Bauern auch heute noch «Regen und Sonnenschein von den Beamten erwarten», erschicne ihnen die \X’ieder— belebung eines solchen Wohlfahrtsstaates alles andere als anomal. Allerdings Verbinden sich mit ihm drei Gefahren“. Erstens das Lähmungsrisiko. Ein warnendes Beispiel hierfür gibt das Gey— 1On_der sechziger und siebzigerjahre ab, Unter l\linisterpräsidentin Bandar— ana1ke wurde damals fast die ganze Wirtschaft verstaatlicht und eine Politik des «kostenlosen Reises für jedermann» eingeführt, die katastrophale Haus— haltslücken riß, den Durchschnittsceylonesen in seiner ohnehin passiven 184 Asiatische Gesellschaften und Verbaliensstile Haltung noch zusätzlich bestärkte und ein unternehmerisches Vakuum hin— terließ. Weitere Sozialisierungsschritte waren die Begrenzung des Grundbe— sitze5 auf 5° Acres pro Familie (1974) sowie auf ein «Haus» pro Familie, die Limitierung des verfügbaren Einkommens auf monatlich 2000 Rupien pro Person, die Verlängerung des Zwangssparens und die Verstaatlichung aller Plantagen (1975). Das Wohlfahrtsprogramm bescherte der Regierung bei den «Réswahlen» von 1970 zwar berauschende Erfolge‚ führte aber zu mi— serabler Versorgungslage, galoppierender Inflation und bedrückender Ar— beitslosigkeit. Das Bandaranaike-Experiment ist gescheitert, aber nicht weil es grundsätzlich falsch war, sondern weil es zu einseitig, d. h. ausschließlich von oben, durchgeführt wurde, ohne daß man sich bemüht hätte, gleichzei— tig auch die Eigeninitiative von unten zu beleben. Die zweite Gefahr besteht in der drohenden Korrumpierung des in einem «Ashoka—Staat» übermächtigen Beamtentums. Freilich gibt es hier ein tradi- tionelles Linderungsmittel, das langfristig durchaus wohltätige Wirkung ausüben könnte, nämlich die Deutung sozialpolitischer Maßnahmen als «Verdienst»bringendes Tun mit entsprechenden karmischen Folgen zugun— sten lauterer Amtsträger. Man muß sich überhaupt wundern, daß von dieser urbuddhistischen Rechtfertigung bisher in der Praxis so wenig Gebrauch ge— macht Wurde! Das Credo der Keynesianer heißt «Wohlstand kann organi— siert werden». Dies müßte — und zwar aus religiös—ethischen Gründen — erst recht für einen Buddhisten gelten! Drittens kann der staatlich verankerte Buddhismus die nichtbuddhisti— schen Minderheiten vor den Kopf stoßen. Einen möglichen Ausweg hat hier der frühere birmanische Ministerpräsident U Nu gewiesen, nämlich die Ge— Währung von Teilautonomie. Wer sich mit einem solchen Gedanken nicht anfreunden kann, hat den hohen Preis iahrzehntelanger militärischer Ausein— andersetzungen zu zahlen, wie er von der Regierung Ne Win, sehr zum Schae den des birmanischen Wirtschaftsaufbaus seit 1962 erbracht werden mußte. Auch in den islamischen Ländern Südostasiens bleibt der Staat als Ent— wicklungsagentur noch auf lange Zeit unentbehrlich. Wie oben 5.98f. be? reits ausgeführt, werden obrigkeitliche Interventionen im Rahmen des BIMAS-Programms («Grüne Revolution») den Dörflern vor allem unter dem Siegel der «Zusammenarbeit» (gotong royong) «verkauft». Ein mögliches Heilmittel gegen die Bürokratisierung der Entwicklungs- politik Wäre die fiduziarische Einschaltung regionaler Patronage- und Seil— schaftsgruppen (zum Bapak/Anak—Verhältnis siehe oben S.74f.)‚ doch ist Jakarta aus Machtverteilungsüberlegungen vor solchen DezentralisierungS- ansätzen bisher zurückgeschreckt. _Was die Instrumentalisierung islamischer Lehren für die moderne Ent- W1Cklung anbelangt, so gibt es hier seit dem Ende des 19.]ahrhunderts eine Tradition, deren geistige Väter, die beiden Kairoer Rechtslehrer Dajamal al- Afgham und Muhamad Abduh, in der malaiischen Welt mehr Echo gefun» [I]. Wie asiatische Gesellschafiml tt'irisehafren 185 den haben als in ihrem eigenen Land. Afghani lehrt ‘ h" d W d _ e ein ochst modern an— muten es ertesystem, as, Wie er betonte, kci„„chq westli h Ur . _ . » . c en — sprungs sei, sondern aus der Schatztruhe des Islam stamme auq der übri ens auch die I".uropäer ihr Wissen entnommen hätten I“ kl d \ g - I‘hld’ . 'l . h __ __ -4F e1 etefernergenum west lC e een in is am1.sc e Termini und lieferte d ' d .. . d . . d _, . . _ amit en glaub1gen Mo— hamme anern in N1e erland15ch—Ind1en das Kim] ‘“‘h -. f d" K l . „ \ ‘ 0t,15t e Rustzeug zum Kamp gegen lt. 0 on1almachte. Im Gegensatz zu Afghani em f hl Ab . . . . ' 4 a ' dub, mit offenem V151er vorzugehen, also westlich‘ M P . W' k . _] \ t 1 ethoden und west— liches issen unver leidet zu ubernehmen und *lei‘h- - ' d _ . , . .L‚ L Le1t1g den Islam von allen mo ermsierungsfemdhchen Elementen und P k ‘k ' ' 'd L h h _ „ „ _ ra ti en zu reinigen. Bei e e rer atten also dieselben Ziele, naml1ch den. " ' ' ' h { d d‘ "b _ . ' ant11mper1aliSt15c en Kamp un 1e Bei ehaltung «mushm1scher Substanz» h" d ' h voneinander aber in der Taktik ins f Af " 1 "unter“ 1e en Slc 'slamisierte und dam‘t d l'ih KO Lm‘ glmm wcs{lldws Gedankengut 1 1 «ver au ic er . ‘ > " > " der is]amithen 5 b t d‘ H » n1acntt, wahrend Abduh zur Starkung (( . u ‘ ‚ > ‘ ‘ ’ . r )- ' _ " 5 am» it 0 ene Übernahme westlicher Methoden fur durchaus akzeptabel hielt. Auf besonders fruchtbaren Boden fiel der neuinterpretierte Islam vor al- lem bei der kaufmännischen Mittelschicht Indonesims, die sich 1911 gegen die niederlandische und auslandch1ne515che Konkurrenz zu einem Notbünd— ms zusammenschloß, das unter dem Namen «Sara-kat I)agang Islam» (Ge— sellschaft der muslimischen Kaufleute) in die Geschichte einging und zur er— sten gesamtnanonalen Organisation Indonesiens sowie 1911 auch zu einer . . . ‘ . . . . ‘ politischen Partei wurde“. Mit seiner positiven Bewertung der Industrie und des Privateigentums w1rkte der islamische Modernismus zugleich auch als Kristallisationskern für ein bis heute allerdings marginal gebliebenes indone515ches Unternehmertum“. Auf die Auslegungstradition Afghanis zuruckgehen durfte u.a. auch die Uminterpretation des Gotong—rovong— Begriffs zur Rechtfertigung von Staatsinterventionen. Iis wäre für die indo- ne51sche Regierung ein leichtes, mit zusätzlichen neuinterpretierten Islam- Begr1ffen das Bewußtsein der Bevölkerung zu besetzen und über diese «Mei- nungsfuhrerschaft» auch wiederum den Zugriff auf die politische Macht zu verstarken; doch Würde sie mit einer solchen lslamisierungspolitik ihren ei— genen Grundsatzen zuwider handeln, die ja, wie oben ausgeführt, in der uberkonfessmnellen PancasilaÄ/erfassung verankert sind. Wohl am schw1erigsten gestaltet sich die Iintwicklungspolitik in der Indi— schen Union. Hier gibt es einerseits die erwähnten Business Communities, dle «Weltmveau» besitzen, Eigeninitiative entwickeln und auch internatio— naler Konkurrenz standhalten können. Sie bedürfen der staatlichen Hilfe nur am Rande. Ganz anders die breite, noch in Kastenregeln eingebundene Bauern- und Handwerkerbevölkerung, die, wenn überhaupt, nur durch den Staat aus ihrer traditionellen Verkapselung herausgelöst werden kann. Dazu äber bedürfte es, wie das politische System Indiens nun einmal gelagert ist, Cr Mithilfe selbstloser‚ «patriotischer» und der «gemeinsamen Sache» ver— 186 Asiatische Gesellschaften und Verbaltensszile pf1ichteter Lokalpolitiker. Leider lehrt die indische Erfahrung, daß solche Erwartungen illusorisch sind. Die Stärke der Congress Party beruht darauf, daß sie es verstanden hat, sich den lokalen Machtstrukturen anzupassen, also vor allem die Anhängerschaft der «dominanten» Kasten zu gewinnen. Die Partei spiegelt in ihrer National—, Einzelstaats— und Distriktsstruktur ziem— lich genau die Machtverhältnisse auf den Dörfern wider. Die Congress Party hat der in ihr mehrheitlich vertretenen Abneigung gegen Landreformen auch künftig Rechnung zu tragen, will sie sich nicht selbst den Teppich unter den Füßen wegziehen“. Unter diesen Umständen ist das Dorfentwicklungspro_ gramm auf Sand gebaut. Man fragt sich, wie hier je eine «Entwicklung» in Gang kommen soll, wo es doch weder Eigeninitiative noch wirksame Hand— reichungen von seiten des Staates gibt. Der prominenteste Nachfolger Gandhis, ]ayaprakash Narayan, forderte einst «eine umfassende Revolution auf politischem, wirtschaftlichem, sozialem, erzieherischem, moralischem und kulturellem Gebiet», wenn die sozialen und wirtschaftlichen Probleme Indiens Wirklich an der Wurzel gepackt werden sollen". Wie aber soll sich diese «Revolution» vollziehen? Der marxistische Weg ist von vornherein verbaut, da es in der hinduistischen Gesellschaft keine Ansatzpunkte für Klassenbildungen gibt (vgl. oben S. 76ff., 88ff.) und da überdies auch der Fatalismus weitverbreitet ist (Näheres S. 209). Aus dem gleichen Grund scheitert übrigens auch eine Evolution. Möglicherweise heizt sich der Kessel also weiter auf, ohne daß es auf ab? sehbare Zeit zur Explosion kommt: vielleicht die zutreffende Beschreibung der gegenwärtigen indischen Gesellschaft. Sollte es, als Ultima ratio zu einer diffusen chiliastischen Bewegung ohne präzise Ziel— und Mittelvorgaben kommen, so wäre dies am Ende des zo.jahrhunderts eine wahrhaft paradoxe Situation. Man fühlt sich erinnert an ähnliche indische Revolten, zum Bei spiel die Rebellion der Santal—Stämme (1855), die Mutiny—Revolte (i8;7) und eine Reihe weiterer Bauernaufstände zwischen i873 und i9oo, die alle— samt zu elementaren Ausbrüchen ohne Kanalisierung in eine bestimmte Richtung führten”. Y _F— IV. Wie Asiaten denken I. Andere Fragestellungen, andere Antworten Beim Verdeich von «westlichem» und «" " > . - Laufe deräZeit einige Stereotypen herausgebliiliflinäi Denken haben Sieh Im 4 . 4 4 , ie sich auf folgende For— meln bringen lassen:hte analytisch, logisch und materialistisch, dort Synthe- tisch, intu1tiV und sp1r1tuell, hie Ob]€l(th, aktiv und dynamisch, dort subjek— tiv, passw und statisch, hie mtellektuell, dort emotional, hie «Zugewandt- heit zu den Dingen? dort «Eskapismus», hie Betonung des Raums, dort Bevorzugung der zeitlichen DimenSion und dergleichen mehr. Abgesehen davon, daß es SlCl'l hier um unzuläs51ge «Pamsiatisierungen» handelt, ma- chen solche Schlagworte auch nicht genügend deutlich, daß das (traditio- nelle) asiatische Denken in einem anderen Kontext steht und daß es deshalb so verschieden vom europäischen ist, weil es erstens andere Fragen stellt, zweitens andere Antworten gibt und drittens seine Erkenntnisse anders überträgt und vermittelt. Die abendländische Philosophia perennis fragt in der klassischen Formu- lierung Kants: Was kann ich wissen? Was soll ich tun.> Was darf ich hoffen? Typischerweise kreisen all diese Fragen (und auch noch weitere wie: Woher komme ich.> Wohin gehe ich? Warum bin ich?) um ein Subjekt, dessen Sub- stantialität als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Demgegenüber fragt Indien: Ich? Gibt es mich denn? Ist die Frage nach dem Woher, dem Wohin und dem Warum überhaupt sinnvoll? Wiederum anders die chinesische Tradition, die weniger vom Erlösungs— als vom Erziehungsdenken bestimmt ist. Vor allem die Schulen des Konfu— zianismus und des Legalismus fragen: Wie wird aus dem Ich ein W'ir? All jene vielfältigen Problemstellungen, die in Europa höchst verstandes— bezogen und mit spielerischer Neugier iahrhundertelang «durchkonjugiert» worden sind, wie «Sein und Werden», «Subiekt und Objekt», «Form und Materie», «Transzendenz und Immanenz», sind für die chinesische Philoso— phie, sieht man einmal vom Daoismus ab, kein Thema, und zwar nicht etwa deshalb, weil es dafür an der nötigen geistigen Potenz fehlte. sondern Weil dafür einfach kein «faustischer» Wissensdrang bestand Selbst eine der weni— gen auch in China angestellten «Wesens»—Erkundigungen, nämlich die Frage nach der Natur des Menschen, wird unter höchst zweckbezogenen Ge— Slchtspunkten gestellt. Bekanntlich gibt es darauf drei klassische Antworten, die freilich nicht um der bloßen Erkenntnis, sondern vielmehr um prakti— scher Konsequenzen willen erteilt werden: 188 Asiatische Gesellschaften und Verbaltensstile Konfuzius, Menzius: Der Mensch ist gut; sonst hätte er nicht aus einem Hordentier zu einem Wesen mit Gesittung (li) und Tugend (de) werden kön— nen. Durch Erkenntnis seiner wahren Natur, durch Ordnung seines Inne— ren, durch Ordnung der Familie, der nächsten Umgebung und schließlich des Reiches erfolgt die stufenweise Vervollkommnung, wie sie in einem der jahrhundertelang auswendig zu lernenden Grundtexte des Konfuzianismus. der «Großen Lehre» (daxue), niedergelegt ist (Näheres dazu S. 191, 196). Xun Zi (298-235 V. Chr.): Die Menschennatur ist unersättlich1 und bedarf daher strenger Disziplinierung. Durch präzise Befolgung der Rituale, durch den Nachvollzug genau umschriebener sozialer Rollen (mingfen) und durch Koinzidenz von Bezeichnungen und Verhaltensweisen (zhengming) (Nähe— res oben 5.147ff.) wird der einzelne zum Mitglied einer zivilisierten Ge— meinschaft. Han Fei und die Legalisten (4. und 3.]ahrhundert v. Chr.): Der Mensch ist schlecht. Er muß deshalb durch Gesetze und äußeren Zwang gefügig ge— macht werden. Ob Tugend, Gesittung, Institutionen oder Gesetze, wie sie in diesem Zusammenhang vorgeschlagen werden, göttlicher oder mensch— licher Herkunft, ob sie ursprünglich (Naturrecht) oder gesetzt sind — all dies steht bei den chinesischen Praktikern nicht zur Debatte! Nur im Daoismus breitet das sonst so nüchterne China die Flügel aus und beginnt frei zu schweben. In fast «indischer» Weise wird hier das Ich hinter— fragt, wird die ständig fließende «Veränderung» von Person und Umgebung und das Schweben zwischen Tag und Traum thematisiert. Ähnlich fragt der (Theravada—)Buddhismus: Gibt es mich? Vor allem aber: Wie kann ich die Ich—Verstricktheit und Ich-Täuschung überwinden und frei von Leid wer— den? Der Islam schließlich fragt: Was ist Gottes Wille? All diese Ansätze zeigen, daß im traditionellen Asien kein Bedürfnis nach Wissen um des Wissens und nach Erkenntnis um der Erkenntnis willen bei stand: Erkennen wollen kann ich ja nur, was ich auch werden kann (dazu Näheres unten 5. i98ff.). Die europäische Philosophie— und Wissenschafts— geschichte legt demgegenüber einen einzigartigen Erkenntniswillen an den Tag, der schon früh auf ganzheitliche Betrachtungsweisen verzichtete, sich Einzelphänomenen zuwandte und damit die Voraussetzungen für eine Ver— selbständigung der Natur— und Geisteswissenschaften schuf, die am Itnde auch zur Naturbeherrschung führten. Die stets ganzheitlich gebliebene asiav tische Denkweise fragt nach «Verkettungen», d. h. nach dem «Wozu?», wo- bei stets religiöse oder soziale Belange mit im Spiel sind, während das west lich—analytische Denken sich hauptsächlich für das «Wie?» interessiert. Die Frage «Wie geht dies vor sich?» oder «Wie funktioniert dies?» verlangt eine Anélyse, nicht aber das Erkennen (eines Zwecks oder Ziels). (Zum Unter- schied zwischen Wirk— und Zweckursachen vgl. unten S. 206ff.). Dle'Folgen dieses Unterschieds treten auf fast jedem Gebiet zutage: Wäh— l”md in Asien religiöse oder soziale Spekulationen vorrangig bliebe“ Y IV. er Aszaten den/een 189 (>z, der nach typisch «abendlä'ndischen» Gesichtspunkten geglie— dert ist («Logik und Erkenntnistheorie», «Metaphysik», «Naturphiloso— phie», «Psychologie», «Ethik», «Staats— und Rechtsphilosophie») und dem ganzheitlichen chinesischen Denken keinerlei Rechnung trägt. Wer so vor- geht, zwängt das chinesische Denken in ein Prokrustesbett ein. So kommt es denn auch, daß die einzelnen Kapitel, obwohl sie mit bewundernswerter Akribie und Sachkenntnis gearbeitet sind, an Sprödigkeit und Unergiebig- keit kaum noch zu übertreffen sind. Lediglich beim Kapitel «Staats— und Rechtsphilosophie» gewinnt der Stoff an Leben. Wen wundert es! 2. Wo Asien anders denkt als Europa a) Erkenntnis— und lerntbeoretiscbe Unterschiede: Nicht «erkennen», sondern «innetecrden» Traditionelle Arten des «Innewerdens» Einer der Hauptunterschiede zwischen europäischem und asiatischem Den— ken besteht darin, daß dieses zu Objektivierung, jenes dagegen zu Subjekti— vierung einlädt — zumindest in der Großen Tradition. Nach westlicher Auffassung stehen sich beim Iirkenntnisvorgang Subjekt und Objekt als lirkennendes und Erkanntes — in dualistischer Weise — gegen- über. Ziel aller Erkenntnis ist es seit Aristoteles, die Gegebenheiten zu ob— jektivieren und sie in Begriffe zu fassen, wobei «etwas als etwas erkannt wird», zum Beispiel A als «Lügner» oder ein geometrisches Gebilde als «Viereck». «Erkannt» ist demnach, was in objektive Begriffe eingegangen und von subjektivem Beiwerk befreit ist. In der asiatischen Tradition ver— läuft dieser Prozeß gerade umgekehrt. Hier besteht der Drang, alles Objek— tive zu subjektivieren. Was hiermit gemeint ist, wird anhand einiger beson— _? 0 Asiatische Gesellschaften und Ver/)alterzsstile 19 ders typischer Beispiele aus der Welt des Hinduismus, des Buddhismus und des Konfuzianismus Wang—Yangmmgscher Pragung deutlich: ‘ Nach hinduistischer Auffassung, wie sie besonders für das klassmche Veda und das Denken Shankaras bezeichnend ist, gibt es nur eine Substanz, die «Weltseele» (brahman), aus der alles und jedes hervorgeht und in die alles und jedes rhythmisch wieder zurückkehrt. jeder einzelne Mensch muß er— kennen, daß er nicht ein losgelöstes Individuum, sondern ein Funke ist, der sofort wieder in die Lohe zurückfällt, oder ein Wassertropfen, der im Ozean verfließt. «Tat twam asi» («Das bist du») — dieses «große Wort» ist gewiß eine der radikalsten und großartigsten Identitätsaussagen, die in der Ge— schichte der Menschheitsphilosophie gemacht worden sind. Indem der ein— zelne mit Hilfe mystischer Übungen in ein «Selbst» (atman) eintaucht, kann er jene All—Einheit «erfahren», von der er nur ein Teil ist. «Erkannt» hat er am Ende nicht das, was er mit dem Verstand erfaßt und objektiviert hat, son— dern nur, was er selbst geworden ist}. Gott (oder das umfassende Brahman) kann also weder begrifflich festgelegt noch, wie es bei Immanuel Kant ge— schieht, postuliert werden; vielmehr kommt es für «mich» darauf an, die in sich trügerische Subjekn0bjekt—Dualität zu durchstoßen und damit in das Meer der Weltseele zurückzutauchen: Im Deutschen gibt es für dieses mysti— sche Einswerden den schönen Ausdruck «innewerden», der weitaus besser paßt als «erkennen». Schon hier wird deutlich, daß «Wissen» und «Erkennt— nis» nur so viel wert sind, wie sie praktisch auf dem Erlösungs— oder Selbse vervollkommnungs—«Weg» weiterhelfen. Wo es so sehr darauf ankommt, daß ich etwas nicht nur (begrifflich) erfasse, sondern daß ich es vor allem werde, verengt sich Philosophie auf wenige Interessengebiete. Kann ich doch nur erkennen wollen, was ich werden kann! Alles andere zwischen Himmel und Erde möge dem Agnostizisrnus anheimfallen. Kreative Neu— gier wie im Westen ist hier nicht gefragt; Wissen um des \X/issens willen gilt als wertlos — ein Gedanke, der vor allem in Zen—Klöstern gängig ist, wo theoretisches Wissen für überflüssig erklärt, Bücherliteratur bisweilen sogar auf den Abort gelegt und ausschließlich praktisch auf das mystische Erlebnis hingearbeitet wird. Zu einer ähnlichen Subjektivierung führt die in Indien kreierte, aber vor allem in Ostasien, und hier wiederum in japan, verbreitete Philosophie des buddhistischen Mönches Nagarjuna (ungefähr 200 n. Chr.) von der «Leere» (Sunyata). Auf der Suche nach der wahren «Buddhanatur» stellte er drei Kri— terien fiir das «Wesenhafte» (svabhavata) auf. «Es» dürfe nicht entstanden, durch keine andere Erscheinung bedingt und nicht vergänglich sein. Nichts auf der Welt könne vor diesem dreifachen Maßstab bestehen, weder der Mensch, der im Laufe seines Lebens ständigen Veränderungen unterliege. noch Spgar ein Stein, der ja ebenfalls abgeschliffen und ausgewaschen werde. LetZtllch gebe es überhaupt nur eine einzige Eigenschaft, die allen Phänome- rien gemeinsam sei, nämlich ihre «Niehtwesenhaftigkeit» (asvabhavata), die Y —CS_ IV. Wie Asiaten den/een 191 von Nagarjuna auch «Leere» genannt wird. Dieses «Sunyata» sei aber kei- neswegs identisch mit dem «Nichts»; Vielmehr müsse es als das einzi e Be— ständige, Wesenhafte und Absolute begriffen werden. Ziehe sich abegr nun einmal die «Leere» als roter Faden durch alle Dinge, Erscheinungen und Be- griffe, so gebe es am Ende nirgends mehr Unterschiede, sondern nur noch eine einzige umfassende Einheit — eben die wahre «Buddhanatum, Selbst Samsara, der Kreislauf der Wiedergeburten, und Nirvana, das Erlöstwerden aus dem Kreislauf, sind dann nicht mehr verschieden, sondern identisch. ]e_ des Lebewesen ist, da es an der großen «Leere», Buddhanatur, teilhat, po— tentiell bereits erlöst. Die aktuelle Erlösung freilich geschieht erst durch das Wissen um die «Leere». Wer unwissend dahinlebt, erfährt Täuschungen und Leid, wer dagegen wissend wird, ist erlöst. Da dieses Wissen aber jenseits der Begriffe liegt, ist es nur durch mystisches Eintauchen in die «Leere» — eben durch Innewerden —— zu erreichen. Nagarjunas Sunyata—Konzept hat im tibetischen, chinesischen und japanischen Meditations(chan/zen)—Buddhis— mus jahrhundertelange Nachwirkungen gehabt. Um Satori (« Erlösung») zu erreichen, strebt der Zen—Buddhist nach Einswerden mit der «Leere durch unmittelbare Schau». «Leere» darzustellen ist vor allem das Anliegen der in ihren schönsten Exemplaren unsterblichen Zen—Malerei, die auf unver- gleichliche Weise mit Andeutungen arbeitet und zum mystischen Miterleb- nis einlädt“. Der klassische Konfuzianismus, angefangen vom Meister selbst bis zu Zhu Xi (1130—1200), dem «Thomas von Aquin» der Schule, hat die Frage nach der Natur der Dinge und ihrer Wahrnehmung in typisch chinesischer Weise als solche zwar nicht zur Kenntnis genommen, doch haben auch sie in ihrer Lehrpraxis nie einen Zweifel daran gelassen, daß «Erkennen» letztlich im «Nachahmen» eines persönlichen Vorbilds besteht. Erst Wang Yangming, ein Philosoph der Ming—Zeit, brachte die Subjektivierungsfrage auch theore— tisch auf den Punkt, wobei seine Überlegungen beim konfuzianischen Kern— begriff «gewu» (Wörtl.z «Erforschung der Dinge») ansetzen, der das Funda— ment der «Großen Lehre» (daxue) des Konfuzius bildet und von dem aus die gesamte Erziehungslehre des Meisters entwickelt wird: Wer die Dinge rich— tig erforscht, kommt mit sich selbst ins reine, führt ein korrektes Familienle— ben und ist am Ende auch in der Lage, die Welt zu regieren. Der Gewu— Begriff ist nie richtig erläutert werden und hat deshalb Anlaß zu den ver— schiedensten Interpretationen gegeben. Vor allem der Terminus «ge», der heutzutage die Bedeutung von «erforschen» hat, besaß früher eine höchst vielschichtige und z. T. gegenläufige Bedeutung: Er wurde zum Beispiel ent- Weder im Sinne von «in Kontakt treten» oder im Sinne von «etwas abweh— ren» verwandt? Zhu Xi, nach dessen Kompilationen Generationen von Studenten bis ins zo.]ahrhundert hinein konfuzianische Orthodoxie «gepaukt» haben, bevor— Zugte die Übersetzung «in Kontakt kommen mit den Dingen» und forderte 92 Asiatische Gesellschafien und Ver/mhensstzle 1 deshalb, daß der wahre Konfuzianer den Dingen auf den Grund gehen müsse, wobei vorausgesetzt wird, daß diese «Dinge» (wu) sowie das in ihnen wirkende «Dan» außerhalb des Menschen lägen. Zhu Xi geht hier m.:LW- von einem Subjekt—Objekt—Dualismus aus. Ganz anders Wang Yangming, für den die «Dinge» (und das Dao) mi Inneren jedes Menschen schlummern, weshalb es beim «ge» lediglich darum gehen könne, alle von außen kommenden Täuschungen, Anfechtungen und Verwirrungen «abzu» wehren», um die (dao—gemäiße) gute Natur des Menschen zu ihrer wahren Emfaltung kommen zu lassen. Aus diesen grundverschiedenen Prämissen folgten unterschiedliche Theorien des Erkennens und Handelns, die den wichtigsten Beitrag zur «spätmittelalterlichen» Philosophie Chinas bilden. Zhu Xi empfiehlt, vor allem Wissen zu erwerben, um die Welt zu objektivie— ren, während Wang Yangming davon ausgeht, daß Erkennen und Handeln nicht voneinander getrennt werden können; sein Wahlspruch — einer der be— rühmtesten der chinesischen Philosophie überhaupt - lautet dementspre— chend: «Zhi Xing wei vi» («Wissen und Handeln sind eins»). Will ich ein rechter Staatsmann werden und auf dem Weg der Selbstvervollkommnung voranschreiten, so habe ich mein ganzes Sein zu ändern — und keineswegs nur Erkenntnisse von außen zu erwerben. Anstelle des Nacheinander von Wissen und Handeln wird Gleichzeitigkeit gefordert: Indem ich erkenne, daß eine Blume schön ist, bejahe ich auch bereits ihre Schönheit. Wissen läßt sich nie vom Handeln trennen. Ich folge dem Dao, also dem «richtigen» Weg nur, wenn ich ihn auch praktisch nachvollziehe, mit ihm identisch werde ‚ ganz im Gegensatz zur kontemplativen Grundeinstellung des Daoismus, der das «wuwei», also das Gewährenlassen (wörtl.z «Nichtharr deln») predigt. \Wird mein Wissen, so Wang Yangming, nicht augenblicklich zur Tat, so kann ich auch nicht behaupten, etwas zu wissen. Wissen wird hier also nicht im Sinne eines «\X’issens von etwas» objektiviert, vielmehr werden alle Objekte und die Welt subjektiviert: Ich verändere mein ganzes Sein, indem ich ohne Wenn und Aber dem Weg der Altvorderen folge, ihre Rituale nachvollziehe, ihre heiligen Texte «erlebe» und mich in ihrer Musik und Poesie vollende, indem ich mich also vollkommen «bekehre»; denn wahrhaft «begriffen» habe ich nur, was ich bis in die letzte Faser meines Herzens geworden bin! I‘ührungsqu;llitiiten sind nicht eine Frage von Instif tutionen oder «richtigen» Ideologien, sondern eine automatische Folge voll— ständiger «Einverleibung» des Dao, dessen führungsrelevante Einzelheiten in der geschichtlich—literarischen Überlieferung beschrieben sind. In ähnliche Richtung weist auch der Zen—Buddhismus: Wie hier die Ein» heit von Wissen und Handeln zu erlangen ist, ergibt sich aus einer bekannten Parabel“, in der ein 7.etrMeister, nach seinem Weg der Vervollkommnung gefragt, fOlgende Antwort gibt: «\X/enn ich hungrig bin, esse ich, wenn ich mude bin, schlafe ich.» Dies tue doch jeder, war der Gegeneinwand, den der Melsmr ledoch sogleich in den Wind schlug, indem er behauptete, daß die V [V. Wie Asiaten den/een 193 anderen, wenn sie aßen,lnicht .aßen,usondern vielerlei anderes dächten und dadurch zuheßen, daß Sie gestort wurden. Wenn sie schliefen, so schliefen Sie nicht, sondern traumten von tausend Dingen. Es ist gewiß kein Zufall daß vor allem Männer der Tat solche Lehren gerne übernahmen zum Bei—, spiel die japanischen Samurai. ’ Die Identität von erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt wird be— sonders plastisch in einer bekannten Erzählung Mishimas7 herausg83rbeitet_ Der Ich—Erzähler ist hier ein buddhistischer Mönch, dem der Vater seit jah- ren von der Schönheit des berühmten Kyotoer Goldenen Tempels (Kinka_ kuji) vorgeschwärmt hatte. Als der Erzähler das Bauwerk nun nach vielen Jahren zum erstenmal mit eigenen Augen sieht, kann er eine leichte Enttäu— schung nicht unterdrücken, doch beschließt er auf der Stelle, ihn schön fin— den zu müssen: «Ich setzte demnach alles nicht so sehr auf die objektive Schönheit selbst als auf meine eigene Fähigkeit, mir diese Schönheit gegen— wärtig zu machen.» Dieser innere Zwang, mit dem Tempel «eins zu wer— den», bringt ihn so sehr unter Druck, daß er das Bauwerk am Ende in Brand steckt. Die Geschichte beruht übrigens auf Wahrheit: Es handelt sich um die Biographie des Mönchs, der den Kinkakuji 1955 anzündete und sich damit des berühmtesten Kulturvandalismus in der neueren Geschichte Japans schuldig machte. Was andererseits den Islam anbelangt, so ist er in seiner Erkenntnistheorie durchaus «westlich», d.h. dualistisch ausgerichtet; nicht umsonst gehörten Araber ja mit zu den bedeutendsten Aristotelikern und Wissenschaftlern des Mittelalters; im malaiischen Islam freilich, vor allem in der Überlieferung Ja— vas, schlägt sofort wieder das Erbe des Hinduismus mit seinem Verlangen durch, die gesamte Erscheinungswelt im allumfassenden Brahman aufzulö— sen. Demzufolge besteht «rechte Einsicht» nicht «in diskursivem Wissen», sondern in einem instinktiven «Erfühlen», «rasa»”: also wiederum in einem Identifikationsakt. «Modernes» Lernen «Innewerden» ist auch für den modernen Alltag durchaus noch von Bedeu— tung. Allen westlichen Einflüssen zum Trotz verläuft z. B. der Lernprozeß immer noch relativ ganzheitlich; hierbei genügt es nicht, daß ich nur den Kopf in die Materie stecke, vielmehr muß ich mit Haut und Haar «eintau- chen». Der Königsweg dazu ist nach wie vor das Auswendiglernen, das an— fangs zwar höchst mechanisch erfolgt, in dessen Verlauf das Erlernte aber in immer tiefere Schichten einsickert, bis es schließlich Teil meines Ichs gewor— den ist, aus mir lebt ‚ und damit erst als «erkannt» und «begriffen» gelten darf. In Taiwan sind die meisten Sprach— und Ethiklehrbücher der Mittelschu— len nach drei Kriterien gegliedert und am Anfang jedes Abschnitts mit einem entsprechenden Symbol versehen: Ein Teil der Stücke muß lediglich gelesen, _ 4 Asiatische Gesellschaften und Verhaltenssti/e 19 ein anderer gründlich durchgearbeitet und eindritter schlichtweg extempo— riert werden. In alter Zeit hat es der «Drei—Zeichen-Kla551ker» zu besonde— rer Berühmtheit gebracht, der während der MingZeit verfaßt worden und von jedem nur halbwegs Gebildeten auswendig zu beherrschen war. Ein mo— derner Text zum Auswendighersagen waren die vom früheren Verteidi— gungsminister Lin Biao im milliardenfach verteilten Kleinen Roten Buch zu» sammengestellren «Worte des Vorsitzenden Mao Zedong». Angesichts solcher Lerntraditionen sind Konflikte zwischen asiatischen Schülern und ‚ wenn es denn zur Berufung kommen sollte * europäischen Instruktoren geradezu vorprogrammiert. Vor allem deutsche Ausbilder nei— gen ja dazu, den Schüler sofort an die Werkbank zu führen und ihm dort eine solide handwerkliche Ausbildung zu vermitteln, die dem nebenher— laufenden theoretischen Unterricht zumindest gleichwertig sein soll. Der chinesische Azubi erwartet demgegenüber aber zunächst einmal eine gründ— liche theoretische Einstimmung — am besten wiederum durch kräftiges Aus? wendiglernen. In diesem Zusammenhang erweisen sich festgeschnürte Lehr— angebotspakete als ideales Hilfsmittel, so z.B. die bekannten amerikan} schen «Manuals». «Innewerden» hat noch einen weiteren Aspekt: In der westlichen Philosw phie interessiert man sich zwar für Sachfragen, z.B. für die Ideen eines Kant, eines Schopenhauer oder eines Rousseau, kaum jedoch für deren Per? sönlichkeit und Leben. Daß ein jean—_]acques Rousseau, der die Lehre vom Gesellschaftsvertrag entworfen und die «Rückkehr zur Natur» popularisiert hat, seine eigenen Kinder ins Findelhaus einlieferte, ändert nichts an der Qualität seiner Überlegungen. Selbst wenn ein Computer seine Gedanken formuliert hätte, so sprachen sie uns genauso an! Eine solche Trennung zwischen Werk und Person erschiene dem Durch schnittsasiaten absurd; sind doch «Erkenntnisse» in Asien niemals bloßes Bücherwissen, sondern stets Erfahrungen, die durch disziplinierte Lebens führung gewonnen und von einer ganz konkreten Person «vorgelebt» wer— den. Lehren ist im Idealfall ein schweigendes Heranführen, Lernen dagegen ein Nachahmen, wie es als Imitatio ia auch im mittelalterlichen Europa noch durchaus üblich gewesen war. In China spielt auch heute noch das positive oder negative (persönliche) Modell eine alles entscheidende Rolle. Ein Mentor ist zehntausendmal mehr Wert als das beste Lehrbuch. In Indien ist es vor allem der Weise, der die überkommenen Werte nicht nur abstrakt vermittelt, sondern sie vorlebt und den man daher in weiten Bereichen der Bevölkerung spontan als «Le— benderlösten» (livanmukta) verehrt. Es läßt sich anhand von Biographien naChweisen, daß die geistigen Führer des modernen Indien, angefangen von Mahatma Gandhi über Aurobindo und Ramakrishna bis hin zu Vivekananda eine «Übermenschliche» Rolle gespielt haben. Mag dies noch angehen, so Wirkt es für den westlichen Beobachter nachgerade grotesk, wenn etwa IV, Wie Asiaten den/een 195 Rama R_ao, ein Superstar der Telugu—Filmindustrie, der in Dutzenden von Filmen immer weder den Gott Rama dargestellt hat, Inzwischen auch als Gott verehrt und von der Bevölkerung zum Chief Minister des Südindischen Unionsstaates Andhra Pradesh gewählt wird. Wer sich durch vorbildhafte Einhaltung der überkommenen Regeln vervollkommnet oder Wer es, wie Rama Rao, versteht, als Verkörperung eines Gottes aufzutrcten‚ durch Evidenz (vgl. auch S. 105 ff.). Auch bei Erkennungsvorgängen pflegt der Durchschnittsasiate intuitiver/ subjektiver vorzugehen als der Europäer. Seine Art von «Logik» besteht nicht darin, geradewegs auf das Ziel zuzugehen, sondern den Gegenstand einzukreisen. Dieses «Umzingelungsdenken»9 trifft die «Wahrheit» am Ende zwar nie so exakt, wie es bei einer rein rationalen Analyse manchmal der Fall ist, es geht dafür aber selten auch so weit am Ziel vorbei, wie es mancher «logischen» Denkoperation passiert. Das «Gespür» hat hier großes Ge— wicht. Uberhaupt werden Werturteile und Entscheidungen in Asien häufig weniger mit dem Kopf als vielmehr, wie diejapaner sagen, «mit dem Bauch» (ham) gefällt — ein Ausdruck, den westliche Interpreten allzugerne mit «Herz» wiedergeben, da die wörtliche Übersetzung auf den westlichen Le— ser vielleicht abstoßend wirken könnte. jedenfalls ist «Erkenntnis» weniger eine Sache des Kopfes als des ganzen Menschen. Logiker werden gern lächerlich gemacht: In der berühmten Fischparabel Zhuang Zis geraten ein daoistischer Mystiker und ein Logiker darüber in Streit, ob die Elritzen, die sich unter der geschwungenen Brücke im sonnen— beglänzten Wasser tummeln, auch innerlich «heiter» gestimmt seien. Der Logiker beweist mit präzisen Argumenten, daß sein Gesprächspartner doch nicht in die Fische hineinblicken könne, doch dieser lacht nur und verweist auf seine Intuition. Die asiatischen Sympathien liegen hier eindeutig beim Mystiker, wie ja überhaupt der mystische Erkenntnisweg in Asien weitaus verbreiteter ist als im Westen (Näheres dazu unten S. 233ff.). «Innewerden» führt auch zu einer anderen Art von Lernergebnis als im Westen: Sowohl Konfuzianer als auch Daoisten waren davon überzeugt, daß «Vollkommenheit» machbar sei, wenn man nur den richtigen «Weg» (dao) besehreitet. Während der Konfuzianismus das Dao durch völliges «Inne— werden» der gesellschaftlichen und moralischen Überlieferung, also durch «Ritualfrömmigkeit» anstrebte, weil ja das ehrwürdige Ritual Ausdruck höchster Sittlichkeit und seine genaue Befolgung als solche schon moralisch wertvoll sei, empfahl der Daoismus die Identifizierung mit der Natur. Der Konfuzianismus bietet ein wohldefiniertes ethisches System, ein präzises Re— gelwerk für zwischenpersönliche Beziehungen und ein Instrumentarium für die Harmonisierung von Himmels— und Gesellschaftsordnung an, während der Daoismus nicht die Verinnerlichung einer sozialen Tradition, sondern das «Eintauchen» in die Natur empfiehlt — und damit vor allem die Stimmungs— lage pensionierter Literatenbeamten und sensibler Künstler traf. «wirkt» 96 Asiatische Gesellschaften und Verhaltensstile 1 Überall in der konfuzianischen Welt gehört es zu den Grundprämissen so— zi31philosophisclien Denkens, daß ein «richtiges» Bewußtsem (= korrektes «Innewerden») gleichsam automatisch eine korrekte Somalordnung und eine al1gemessene Politik nach sich zieht. Die «GroßeLehre» (Daxue), das Kern— Stück des klassischen Konfuzmmsmus, lautet: Willst du die Welt verbessern, dann verbessere zuerst den Staat, willst du den Staat verbessern, dann ver— bessere zuerst die Familie, willst du die Familie verbessern, dann verbessere zuerst Dich selbst, willst du dich selbst verbessern, dann verbessere dein Herz, kläre deine Gedanken und «erforsche die Dinge». Hast du die Dinge erforscht, werden deine Gedanken klar, wird dein Herz aufrecht, kommst du mit dir selbst ins reine, kannst du die Familie verbessern, kannst Du den Staat verbessern und kannst du die Welt verbessern. Worauf alles hinaus— läuft, ist also das rechte Innewerden. Damit aber verlagert sich das Haupt— interesse von der «Sache» auf die Person, vom Fachwissen auf die korrekte Haltung und vom Expertentum auf das Amateurideal, so daß es letztlich zu einer Personalisierung auch des gesamten politischen Lebens kommt. Perso— nalisierung freilich zieht einerseits vorbehaltloses Vertrauen zu einer Gruppe und hemmungslose Gegnerschaft zur anderen nach sich. Auch die modernen Kommunisten verlangen übrigens totale Identifizie— rung. Was für Mao Zedong z.B. zählte, war nicht der Abstammungs—, son— dern der Gesinnungsproletarier. Es ist nicht die objektive soziale Herkunft, sondern die bewußtseinsverändernde gesellschaftliche Praxis, die als Prüf- stein gilt: Ich bin «Proletarier», indem ich mich durch mein soziales Verhal» ten dazu «entwerfe». Selbst der Klassenbegriff wurde hier also Subjektivicrt. Anhängerschaft äußert sich in Ergebenheit, Nachahmung und «Nachbeten» von «Worten» und Parolen. Der Anhänger/«Schüler» wird mein zweites Ich. indem er sich mit mir völlig identifiziert. Stüth andererseits das Vorbild, verschwinden mit ihm auch seine «Worte», selbst wenn sie noch so zutref» fend gewesen sein mögen. So im Fall Lin Biaos, der zunächst zum Kronprin— zen Mao Zedongs erkoren worden, dann aber ins politische Abseits geraten war. 19) «Ontalogie»: Nicht Sein, sondern Schein und «Leere» Während es für die westliche Philosophie als ausgemacht gilt, daß Gott, die Welt und der Mensch real sind (Gott als Schöpfer, die Welt als Schöpfung und der Mensch als Inhaber einer göttlichen Seele), neigt die Mehrzahl der Großen Traditionen Asiens dazu, all diese Subjekte eher als irreal, imagin'cir oder als Blendwerk (maya) zu betrachten. Am nachdrücklichsten ist dies beim Theravadabuddhismus der Fall. Die V_°"5tellung‚ daß man den Dingen, sei es nun der Welt, den Menschen oder el_nem wie immer vorgestellten «göttlichen Wesen» Wirklichkeit zuschreibt. gllt nach buddhistischer Lehre als eine der drei Hauptursachen allen Leides. IV. Wie Aszaten den/een 197 Der einzelne Mensch hat keinen Substanzcharakter, 5 einer. flüchtigen Zusammenfügung von fünfbkandhas (Daseinsfaktoren)‚ namlich Körperlichkeit (bestehend aus Vier Elementen), Em findun ' Hilfe der sechs Organe wie Auge, Ohr etc.), Wahrnehmung (Kusseheä; (gut räusch, Geruch etc.), Reaktionen auf diese Wahrnehmungen Und «Beviußi- sein», das die äußeren Eindrücke zu einem Sch—, Hör- oder Riech—Erlebnis verarbeitet. Alle fünf Daseinsfaktoren unterliegen einem permanenten Ver— Wirbelungsprozeß. Sie sind leidvoll, weil sie ständig vergehen, und sie sind unsubstantiell, weil sie sich von Augenblick zu Augenblick ändern. Meine Erlösung, d. h. das Austreten aus dem Kreis der leidvollen Wiedergeburten, vollzieht sich dadurch, daß ich die «obiektive» Welt als wesenlos begreife, indem ich selbst zur Wesenlosigkeit werde (zum Innewerden vgl. oben 5. i89ff.). Die «Leere» (sunyata) des Mahayanabuddhismus, mit der mich zu identifizieren Erlösung bedeutet, besitzt ebenfalls keinen Substanzcha- rakter, sondern wird geradezu als Nicht«Substanz, als das Ganz—anders—Sei— ende definiert. Welche Verständnishürden sich hieraus für einen Europäer ergeben kön— nen, zeigte sich deutlich an den Frustrationen eines deutschen Lektors, der auf die Idee verfallen war, seinen Studenten an der University of (levlon das Goethe-Gedicht «Auf dem See» zu vermitteln. In der Tradition der deut» schen Klassik ist die Natur ein Quell des Guten und Schönen: «Und frische Nahrung, neues Blut saug' ich aus freier Welt; wie ist Natur so hold und gut, die mich am Busen hält» — diese in Versen eingefangene Naturverherrlichung muß einem Theravadabuddhisten, in dessen Tradition die Natur nichts als Blendwerk ist, die es zu durchschauen gilt, als Einladung zum Verweilen — und damit zur Verlängerung des Leidens erscheinen'°. Im Hinduismus gilt das allumfassende Brahman als Ens realissimum. Wer glaubt, sein eigenes Ich und die ihn umgebende Welt sei von dieser Welt— «Seele» verschieden, unterliegt einem für sein Erlösungsschicksal fatalen Denkfehler. Erlösung tritt jedoch in dem Augenblick ein, da das «Ich» sich als «Atman», d.h. als unablösbaren Teil des Brahman begreift, und zwar wiederum nicht nur verstandesmäßig, sondern durch ein mystisch zu voll— ziehendes Einheitserlebnis von Einzelseele und Weltseele ‚ zumindest nach der Interpretation der Vedanta und des Shankara“. Auch Götter haben keine Substanz, sondern sind ebenfalls nur Funken aus der großen Glut der «Weltseele». ln den theistischen Ablegern der Hindu—Religion allerdings, vor allem im Vishnuismus und Shivaismus, wird der Gestalt des Großgottes ausnahmsweise Realität zugesprochen. Zur Philosophie der Substanzlosigkeit hat auch der chinesische Daoismus seinen Beitrag geleistet — und hier wiederum sein wohl geistvollster, origi— nellster und lesbarster Vertreter, Zhuang Zi. Sein Hauptthema ist das [nein— anderfließen von Traum und Realität, das in dem wohl berühmtesten Gleichnis der chinesischen Literatur Gestalt angenommen hat: «Ich träumte, ondern ist das Ergebnis Asiatische Gesellschaften und Verhaltensstile 193 ich sei ein Schmetterling und schwirrte ohne Sorgen umher, ohne zu wissen, daß ich Zhuang Zi sei. Aber plötzlich erwachte ich und war da — der le1bhaf— tige Zhuang Zi. Ich fand es schwierig zu sagen, ob ich nun Zhuang Zi sei, der geträumt hatte, er sei ein Schmetterling, oder aber ob ich nicht ein Schmetterling war, der geträumt hatte, er 561 Zhuang Zi.» An das mdische «Maya» erinnert sein folgendes Gleichnis: «Wenn ein Mensch an einem feuchten Ort schläft, bekommt er Rücken— und Gliederschmerzen. Gilt dies aber auch für eine Schmerle? Wenn er auf einem Baum sitzt, hat er Angst und zittert vor Furcht, aber gilt dies auch für einen Affen? Wer von diesen drei Lebewesen weiß schon, welches der schönste Ort zum Leben ist? Die Menschen essen Reis und Gemüse, Rehe fressen Gras, Maden bevorzugen Schlamm und Raubvögel Mäuse. Welches von diesen vier Lebewesen weiß schon, welches die köstlichste Speise auf Erden ist? Die Menschen behaup— ten, daß die Damen Mao Qiang und Li die schönsten Frauen der Welt seien; ein Fisch freilich würde bei ihrem Anblick sogleich auf den Grund des Flus— ses tauchen, ein Vogel augenblicklich davonfliegen und ein Hirsch das Weite suchen. Welches von diesen drei Lebewesen weiß schon, was Schönheit wirklich ist?» Jede Erscheinung unter dem Himmel drängt sogleich zu ihrem Gegenteil und ist daher einem ständigen Wandel unterworfen » ähnlich dem Zu— und Abnehmen des Mondes; es gibt nur ein Qi («lebendige Kraft»), das sich für einen Augenblick zur Materie konzentriert und dann sogleich wieder zer- fließt. Was bedeuten angesichts dieses ständigen Wandels und endlosen Ge— genspiels schon konventionelle Werte « vor allem aber der merkwürdige konfuzianische Ritualismus; ist doch z.B. der Leser dieser Zeilen bereits eine andere Person als diejenige, die er war, als er den Absatz zu lesen be— gann. Zu einer ähnlichen Einstellung führte in japan der Während der kriegeri— schen Kamakura—Periode (1185—1333) zur Blüte gekommene Zen-Buddhis— mus, der die Einheit von aktiver Lebenshaltung im Diesseits und mystischer Transzendenz sowie die Übergangslosigkeit vom Leben zum Tod predigte und zur Lebensphilosophie einer Klasse wurde, die bis ins i9.jahrhundert hinein den Ton angab, nämlich der Samurai. Für einen Schwertträger, dem der Tod stets vor Augen stand, mußte folgende Lehre höchst einleuchtend erscheinen: «Es ist ganz falsch zu denken, daß du dich einfach von der Ge- burt bis zum Tod bewegst. Geburt ist aus buddhistischer Sicht nur ein Durchgangsstadium vom Vorausgehenden zum Nachfolgenden und kann deshalb auch genannt werden. Dasselbe gilt für den Tod und die Zeit, Raum und Trans— zendenz verfließen, wie man zugeben muß, bei solchen (irößenordnungen in der Tat zu einem Punkt. In der traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung wird die Zeit eher säkularen Zwecken dienstbar gemacht: Ein Idealherrscher, wie der mythische Kaiser Shun, lebte z.B. genau toojahre, wie es sich für einen vollkommenen Herrscher gehört, dessen Einfluß sich gleichzeitig auch auf IOO Generationen seiner Nachkommen erstrecken soll; mit 30 wurde Shun Minister, mit so Kai— ser, mit 70 verließ er den Thron und die restlichen 3ojahre lebte er in Zurück— gezogenheit. Ein Nachfolgekaiser nehme sich dieses Vorbild zu Herzen und gliedere sein Lebenswerk ebenfalls nach dem Schema 3 12 : z : }. Der Religionsphilosoph Allan Watts hält die westliche Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fiir einen der Haupt— gründe, warum der westliche Mensch nicht an die «Wirklichkeit» heran- kommt, die sich nicht begrifflich, sondern nur durch ein völliges Aufgehen im Hier und jetzt «erleben» läßt * sei es nun im Wege der Meditation oder eines so einfachen Vorgangs wie der Teezeremonie, wo einfach Tee getrun— ken wird, und zwar mit einer solchen Aufmerksamkeit, als ob es nichts an- deres auf der ganzen Welt gäbe. Erst in solchen Augenblicken, die prallvoll sind von Gegenwart, erlebe man das ewige jetzt. Wer an die Sorgen des Ge' stern oder des Morgen denkt, habe bereits das Eigentliche versäumt”. — Der zweite Unterschied zum europäischen Zeitempfinden wird deut— lich, wenn man auf die altgriechische Unterscheidung zwischen der quanti— tativen Zeit, Chronos, und der eher psychologisch bemessenen qualitativen Zeit, Kairos, der «günstigen Gelegenheit», zurückgreift. Nach asiatischer Auffassung ist «Zeit» eine höchst unregelmäßige Abfolge von günstigen und n, sondern in Welt- hwmden der biolo— Asiaziscbe Gesellschaften und Verbaltensstile 202 ungünstigen Augenblicken, denen es mit allen Mitteln parapsychologischer Technik nachzuspuren gilt. In ganz.Asien, ob nun auf einem b1rmamschen Dorf, in der Zhonghua—Straße in Ta1bex oder auf der sza im Herzen von Tokyo, gibt es Dutzende von Geomanten und Handlesern und Interpreten von Bauernkalendem, die die guten und schlechten Tage für den Antritt ei— ner Reise, für die Wahl eines Ehepartners u.dgl. herausfinden. Selbst ein aufgeklärter Intellektueller wie Prinz Sihanouk beherzigt solche Fingerzeige und hält z.B. die Geomanten Hongkongs für die besten. Die westliche Vorstellung, daß «Zeit Geld bedeutet», Wäre dem traditio— nellen Asiaten höchstens unter dem Aspekt des Kairos, niemals aber im Zu— sammenhang mit Chronos verständlich. Kommt es nämlich auf den «günsti— gen Zeitpunkt» an, dann ist gar nicht einzusehen, warum ich mich zu einer «Zeit», die nicht unter einem günstigen Stern steht, hetzen soll; ich würde ja doch nur alles verlieren! Drängen wirkt in der Regel befremdlich. Kairos bemißt sich nach günstigen Augenblicken, Chronos dagegen nach Stunden und Tagen, Wochen, Jahren und Großperioden, die jeweils anders definiert werden: Am genauesten geht man mit Tagen und vor allem mit Stunden um — nicht deshalb, weil man etwa Geschäftstermine genau einhalten möchte, sondern weil es beim Horoskop auf äußerste Präzision der Zeitberechnung an— kommt; kann es doch einen geradezu schicksalhaften Unterschied bedeuten, ob man zur Stunde des Affen oder aber der Ratte geboren ist! Während es z. B. die altrömische Zeitgliederung mit der Einteilung der Nacht in drei Vi» gilien (Nachtwachen zu je drei Stunden) und des Tages mit ebenfalls drei Dreiereinheiten, nämlich der dritten, sechsten und neunten Stunde, nicht allzu genau genommen hatte, kommen Chinesen und Inder mit ihrer we- sentlich präziseren Segmentierung des Tages und der Nacht in 24 Einheiten der modernen westlichen Rechnung verblüffend nahe. Wesentlich großzügiger — weil für das Horoskop nicht mehr so bedeutsam — ist bereits der Umgang mit der Wocheneinteilung — hier gibt es Rhythmen von der Fünf— bis zur Zehn—Tage—Woche. Ein Definitionsbedürfnis war hier schon deshalb nicht gegeben, weil den Asiaten die Sabbat—Idee, derzufolge jede Woche einen Ruhe— und Bettag (judentum: Samstag, Christentum: Sonntag, Islam: Freitag) enthalten soll, mit wenigen Ausnahmen unbekannt geblieben war. Im Gegensatz zu den unterschiedlichen Tages— und Wocheneinteilungen Waren die ]ahresrhythmen dagegen weltweit fast überall wieder dieselben: In den kälteren Regionen Asiens sind die vier jahreszeiten klar ausgeprägt, in den tropischen Regionen geben Monsun— und Trockenperioden den Takt an. S_°Wohl in den Weide— als auch in den Bauernkulturen war damit ein klamm— rissenes Rahmenwerk für das Naturjahr vorgegeben. Verschiedene Auffas— sungen gab es lediglich im Hinblick auf den Beginn eines solchen Jahres. Hlelt man sich an die Vollmondphasen, so ließ man das jahr, wie etwa im —r [V. Wie Aszalen den/een 203 alten Israel, entweder mit dem Herbst oder aber, wie in fast allen asiatischen Ländern, mit jener Vollmondphase beginnen, die nach europäischer Rech— nung etwa auf den Februar fällt. Das Sonnenjahr wurde von Asien erst unter dem Einfluß Europas übernommen, so daß heutzutage zwei Zsfitrcchnun en nebeneinanderherlaufen. Wie unten auszuführen, wurde das Naturjahrgbei den asiatischen Bauernvölkern schnell zum kultischen jahr, das sich nach den großen Festen gliederte. Recht verschieden fiel dagegen die vierte Dimension der Gliederung, nämlich die geschichtliche I’eriodisierung, aus: In der konfuzianischen Welt pflegte man nach Kaiserjahren zu rechnen — ein Braueh, der in japan noch heute üblich ist: Da Kaiser Hirohito 1926 unter der Regierungsparole «Showa» den Thron bestiegen hat, gilt 1987 als das 62. Showa—Jahr. Die Mo— hammedaner periodisieren die Geschichte nach der «Hedschra», d.h_ der Übersiedlung Mohammeds von Mekka nach Medina (622 n. Chr.). Die Buddhisten rechnen vom Geburtsjahr Gautama Buddhas (650 v.Chr.) an; das jahr 1987 ist also «2547 n. B.». Im alten Indien bestimmte sich die Zeit— rechnung nach drei alternativen Modellen, nämlich entweder nach dem Buddha-jahr oder nach der «Vikrama»—Ära (;8 v. Chr.) bzw. der «Shakra»— Ära (78 n. Chr.). Die Herkunft der beiden zuletzt genannten Daten ist im— mer noch umstritten”. » Ein dritter Unterschied zur europäischen Auffassung ist das Erlebnis der Zeit als eines konkreten Geschehens. Zeit gilt nicht als Summe von Mi- nuten oder Tagen, sondern von Ereignisreihen, die sich in jalireszeiten, in Farben, Lichtfülle, Gerüchen und Verhaltensweisen, vor allem aber in Fest— girlanden manifestiert, die sich zumeist um Vollmondphasen ranken. Zeit wurde also nicht mit der Stoppuhr, sondern nach der «Dichte» oder Nicht— intensität des sozialen Lebens gemessen. Sie wurde «dicht» zur Zeit der Fe— ste, «leer», wenn es wieder an die tägliche Plackerei und profanc I“eldarbeit ging. So gesehen hatte die Zeit auch eine soziale Dimension: Für einen man— darinären Amtsträger mochte sie auf unterschiedliche Weise verlaufen, für den Reisbauern oder Schweinehirten änderte sich nichts am ewigen Einerlei. Es gab also keine allen gemeinsame Zeit. So herrschte denn auch die Vorstel— lung, daß die Zeit um den Königs— oder Kaiserhof herum wesentlich «dich— ter» war als draußen im Lande oder gar an der Peripherie des Reiches, wo ja gleichzeitig auch die Zivilisation schnell abnahm”. Wie sich am Körper Me— ridiane befinden, wo die Akupunkturnadeln eingestochen werden, so gibt es auch in der Landschaft und nicht zuletzt im chronologischen Ablauf Meri— dianpunkte — die ersteren sind durch Bauwerke, häufig «nadelförmige» Pa- goden, die letzteren durch zeitlich erlebb3re «Verdichtungen» und Ritenbe- gehungen gekennzeichnet. 50 wie sich im Christentum das Naturiahr «ver— christlichte», d. h. mit einer Abfolge von religiösen Festen überzog, wurde es in den Theravada—Gesellschaften «buddhisiert», im Muslimbereich «isla- misiert» und im sinitischen Kulturkreis konfuzianisiert oder dat)isiert (Nä— 04 Asiatische Gesellschaften und Verbaltensstile z heres zu den Festen unten 5. z37ff.). Von seinem Zeitverständnis und der damit verbundenen Lebensintensität her war der traditionelle As1ate also weniger ein Homo faber als vielmehr ein Homo fest1vus. Gaehicbtsscbreibung als Beschwömng ewiger Gegenwart Geschightsschreibung im modern-westlichen Sinne hat es in Asien nie gege— ben. Dies lag nicht nur an einem unterschiedlichen Zeitbegriff, sondern auch an differierenden Auffassungen über den Stellenwert der Historie. Die Chi— nesen leisteten sich zwar seit der Tang—Zeit eigene Historiographenlimter, doch hatten diese nicht so sehr die Aufgabe, einen Ereignisfilm herzustellen, sondern vielmehr darzulegen, warum die jeweilige Dynastie ihr himmlisches Mandat so vorbildlich erfüllte und warum das vorausgegangene Himmels— mandat verlorengegangen war. Neben der Legitimation diente «Geschichte» auch als Handreichung von Beamte zu Beamte mit dem Ziel, Präzedenzf'a'lle für die Lösung praktischer Fragen anzubieten. Ob ein «modellhaftes» Ge— schehen sich um goo vor oder um 1500 nach Chr. ereignet hat, spielte hierbei keine Rolle. Der Einzel—«Fall» wurde aus seinem konkreten historischen Zusammenhang herausgelöst und, einem Modul gleich, zu heuristischen Zwecken jeweils mitten in die Gegenwart hineingestellt. Aus der Sicht west— lichen Geschichtsverständnisses hat Marcel Granet also durchaus recht, wenn er die Historiographie des alten China als eine Abfolge «ebenso genia— ler wie gelehrter Fälschungen» bezeichnet. Piel ein Politiker in Ungnade, so wurde er aus den Listen einfach gelöscht oder aber zu einem negativen Mo— dell umgearbeitet. Diese «baobian» — gleichsam ein historischer Palimpsest auf chinesisch — wurde ergänzt durch eine Modulisierung von Handlungs— situationen oder Akteuren, so daß chinesische Historiographie sich wie ein Lagerhaus von Präzedenzfällen und historischem Case Law ausnimmt. Die Gliederung der Geschichte erfolgte nach Zweierzyklen (= Wechsel zwif schen «Schlichtheit», zhi, und «Verfeinerung», wen), Dreierzyklen (Him— mel — Erde ‚ Mensch), Viererzyklen (vier ]ahreszeiten), Fünferzyklen (< (Moderne Sozial— politik als Möglichkeit für die Regierenden, ihr eigenes Karma aufzubessern, könnte allerdings, wie oben bereits erwähnt, höchst heilsame Wirkungen ha» ben.) Auch sonst kommt der Europäer mit der buddhistischen Kausalitäts— lehre nur mühsam zurecht; gibt es dort ja einen aus drei Grundübeln, sechs Wiedergeburtsbereichen und zwölf Gliedern (nidanas) bestehenden Wirk— und Zweckursachenzusammenhang, der vor allem in dem (meist neben der Eingangspforte tibetischer Tempel angebrachten) «Lebensrad» eine ein— drucksvolle Illustration findet. Die drei Grundübel, die einander bedingen, sind Haß (symbolisiert durch eine Schlange), Dummheit (symbolisiert durch ein Schwein) und Wollust (symbolisiert durch einen Hahn). Die sechs Wiedergeburtsbereiche (oder Stätten des Leidens), durch die der einzelne «rotiert», sind die Reiche der Götter, der Titanen, der Tiere, der Höllen, der Hungergeister und der Menschen. Die zwölf Glieder des Kausalnexus schließlich sind «Nichtwissen», «Triebkräfte», «Bewußtsein», «Name und Form», Aktivierung der «sechs Sinnesorgane», «Berührung», «Empfin— dung», «Lebensdurst», neuerliches Eingehen in den Mutterschoß, erneutes «Werden», neuerliche «Geburt» und erneut «Alter und Tod». Nach dieser zwölften Station beginnt das Rad wieder von vorne beim «Nichtwissen» und so ewig weiter, wenn die Qual nicht endlich durch Eingehen ins Nirvana be— endet wird. Ist es schon schwierig, all diese Begriffe richtig zu deuten (es gibt dazu eine unübersehbare Literatur), so erscheint es nahezu unmöglich, hier noch Wirk‘ und Zweckursachen zu unterscheiden. Alles geht wahrhaft «samsara»—gleich ineinander über. Von der Zweckursäichlichkeit zur Akausa— lität ist es oft nur ein kleiner Schritt. Während z.B. der westliche Mensch die Welt mit äußeren Mitteln (d. h. die Gesellschaft mit politischen Maßnah— men und die Natur mit Wissenschaft und Technik) beeinflussen will, lautet die konfuzianische Devise «Ich zwinge die Welt mit inneren Mitteln», indem ich mich moralisch vervollkommne und mir damit meine Umgebung gefügig mache. Ein im Sinne der überkommenen Sittenlehre zum «Modell» gewor dener Politiker zwingt die Gesellschaft unweigerlich in seinen Bann * wie übrigens ebenso ein Daoist, der es gelernt hat, seinen Körper vollkommen Zu beherrschen, zu Wundertaten aller Art, zu Heilungen, ja zum freien Schweben durch die Luft befähigt ist. In zahlreichen chinesischen Spielfih men werden die Naturgesetze kurzerhand außer Kraft gesetzt, indem die Helden etwa beim Schwertkampf durch die Luft wirbeln, mühelos rück- wärtsauf Hausdächer schnellen und von dort sogleich wieder wirbelnd und todbringend ins Geschehen zurücktauchen. Auch der Yogi, der jahrelang in [V. Wie Asiaten den/een 209 seiner Höhle meditiert, oder der Samurai, der sein Schwert nicht führt, son— dern selbst zum Schwert geworden ist, vollbringt wahre \Vundertateri. Mächtig sein heißt in Asien stets «w1rken, ohne zu tun» (Vg1_ g“ „ f.) Der «Wille Gottes», der oben als fünfte Erklärungsmöglichkeit angegeben wurde, hat im islamischen Bereich bekanntlich zu einer stark fatalistischen Neigung geführt, aber nicht nur dort, sondern auch im Hinduismus sowie in jenen Kulturen, in denen sich beide Traditionen übereinandergeschichtet ha_ ben, z.B. in java. Als Zeichen «moralischer Reife» gilt es dort, «sabar„ (ge— duldig), «rirria» (hinnehmend) und «iklas» (bereitwillig) zu sein, d.h. die Kraft zur stillen Annahme des Unvermeidlichen zu besitzen“? Eine der ge- bräuchlichsten Redensarten Malaysias ist «Bismillah» _ der «Wille (;0m.3„1 Nicht weniger häufig heißt es auf den katholischen Philippinen: «Bahala na» - «Gott wird es schon richten!» Auch die philippinische Vorliebe für Wet— ten, Mitbieten beim Hahnenkampf, für Kartenspiele und für das Lotterie— spieljueteng hängt mit einer aus dem Malaiischen stammenden f.1talistischen Grundeinstellung zusammen. Im Zusammenhang damit steht wohl auch das weitverbreitete «Mariana»—oder «May be later»eDenkeii. Zum «Fatalismus» als einer Haupteigenschaft des «indischen Volkschzv rakters» gibt es eine Kontroverse. Die indische Soziologin Kusum Nair, die im Zeitraum 1938/59 Feldforschungen in verschiedenen indischen Bundes— staaten durchführte, kam zu Ergebnissen, die selbst für sie als Hinduistin bestürzend waren“: Pachtbauern und Landarbeiter, die von der örtlichen Grundbesitzerschaft aufs schamloseste ausgebeutet wurden, waren mit ih— rem Los durchaus nicht unzufrieden. Den Grundbesit'zern Land wegzuneh— men und es unter die Armen zu verteilen, schien ihnen völlig unvorstellbar. Im gleichen Sinne erregt sich ein britischer Autor}4 über die Gleichgültig— keit, mit der Slumbewohner indischer Großstädte ihre Wohnhedingungen akzeptieren — und das, obwohl sie manchmal «in einem knietiefcn Morast von Kot und Kehricht leben, über dem eine einzige dunkle Wolke von Flie— gen schwebt. Nichts ist so erniedrigend wie diese Indifferenz, diese zum Himmel schreiende ruhige Mattigkeit von Körper und Geist... Haß ist menschlich, Indifferenz aber ist im Grunde das finde der Menschlichkeit.» Ein anderer britischer Autor, seines Zeichens Mcdizinhistoriker, wendet sich gegen die Fatalismusthese und führt dabei das Verhalten indischer Großstadtbewohner während der Pest- und Hungerkatastrophen des 19. Und zo‚]ahrhunderts ins Feld‘“. Bei den großen Pest— und Choleraseuchem zwischen 1896 und 1916, die rd. zehn Millionen Inder dahinrafften, habe es zwar da und dort durchaus den traditionellen I*‘atalismus gegeben; doch hat- ten sich die meisten Inder nicht auf Gebete zur «Pockengöttin» Sitala und auf religiös—magischen Abwehrzauber beschränkt, sondern durchaus ratio— nales Verhalten an den Tag gelegt, indem sie nämlich entweder mit Kind und Kegel aus dem verseuchten Gebiet Hohen oder zumindest den «Stammhal— ter» an einen sicheren Ort schickten. 210 Asialischt‘ Gesellschaften und Verhaltensstile e) Ganzheitliche Kommunikation: Nicht logisch, sondern symbolisch Während man im Westen direkte und präzise Auskünfte sowie logische Dar— legungen im Sinne genauer Axiome, Begriffe, Urteile und Schlüsse zu schäe zen weiß, bedienen sich die meisten Asiaten lieber des Symbols, d.h. eines Worts, einer Zahl oder eines Bildes, das mehr aussagt, als man auf Anhieb erkennen kann, das verhüllt und zugleich offenbart, das also in. a. W. immer einen unübersetzbaren Rest zurückbehält“, wie ja die Eigenart des Symbols überhaupt darin besteht, daß es sich an den ganzen Menschen wendet, nicht nur an seinen Verstand. Von außerordentlicher Bedeutung ist die Symbolik in der konfuzianischen Kultur. Entsprechend dem zutiefst optischen Verständnis der Chinesen, ja— paner oder Koreaner überwiegen die Formsymbole, angefangen vom Men» schen über Tiere und Pflanzen bis hin zu Naturphänomenen wie Wolken, Regen und Tau. Unter den Menschendarstellungen ragen vor allem die fünf mythischen Urkaiser und die zahlreichen Gelehrten und Krieger hervor, die im Laufe der Zeit zu Göttern und Schutzpatronen erhoben wurden. In der Fauna spielen vor allem die fünf heiligen Tiere (Drache, Einhorn, Schild- kröte, Phönix und Kranich) oder aber die «fünf giftigen Tiere» (Spinne, Fi dechse, Tausendfüßler, Schlange und Kröte) eine vielsagende und magische Rolle. Vielfältige Bedeutung in der Pflanzenwelt kommt der Päonie (Symbol für Reichtum und Vornehmheit) zu, dem Pfirsich (Langlebigkeit, ja Un— sterblichkeit), dem Bambus (Standhaftigkeit), der Kiefer (langes Leben und Beständigkeit) sowie dem Lotos — man denke an die «Acht buddhistischen Kostbarkeiten». Neben dem Formsymbol unterscheidet Eberhardl7 noch Laut— und Fi genschaftssymbole. Für die ersteren ist das Beispiel der Fledermaus charak— teristisch, die fast überall, sei es nun auf Bildern, im Schnitszrk oder auf Tapeten, dargestellt wird und die genauso ausgesprochen wird («fu») wie das «Glück». Für Eigenschaftssymbole steht der Adler, der Stärke bis ins hohe Alter bedeutet. Die meisten Symbole Chinas beziehen sich auf säkulare Wünsche, nämlich nach Glück, Reichtum und langem Leben (Formel «fu lu shou»), nach Gesundheit, nach Ansehen und nach Söhnen. Ganz anders in der hinduistischen, theravadischen oder gar islamischen Welt: Hier treten überall jenseitsbezogene Symbole zutage, sei es nun, wie im Hinduismus, die unüberschaubare Fülle von Gottheiten (bzw. tieren Verkörperungen), sei es, wie im Buddhismus, die nie abreißende Vergegen— Wärtigung Buddhas, der zwölf Stationen seines Lebens und der 500 Statio» nen seines Vorlebens, oder aber, im Islam, die reiche Ornamentik, vor allem aber ein filigranhaft entwickelter, hochsymbolischer Ritualismus, etwa die Waschung vor dem Gebet, das Ausziehen der Schuhe vor Betreten des Ge— betsorts, das Ausbreiten des Gebetsteppichs, die nach Mekka gerichtete Gebetsnische, die kunstvoll kalligraphierten Schriftbänder, die mit ihren IV. Wie Asiaten den/een 2 I I Koranversen ganze Kuppeln üb\erziehen‚ und nicht Zuletzt die Fülle des Lichts, das absichtsvoll in den Gebetsraum gelenkt wird und göttliche Er- leuchtung versmnb11dltchen soll. Auch Flaggen, Banner, Halbmonde und die grüne Farbe des Propheten smd voll mtt]enseitsverwcisen_ Von beträchtlicher Bedeutung ist auch die Farben— und Zahlensymbolik_ Farbensymbole zählen vor allem im Hindu1smus: Der Heilige Weltenberg Meru ist im Osten weiß, im Süden gelb, im Westen schwarz und im Noran rot; dies entspricht den Farbensymbolen der vier indischen Kasten, nämlich dem Weiß der Brahmanen, dem Rot der Kshatriyas, dem Gelb der Vaishiyas und dem Schwarz der Shudras. Ferner gab und gibt es fünffarbige Faden 7,u magischen Zwecken und fünffarbige Amulette; die Körperteile bestimmter Götter oder Dämonen werden mit jeweils fünf verschiedenen Farben ausge— malt, z.B. mit Rot die Hand— und Fußflächen, mit Schwarz die Haare, mit Gelb die Haut, mit Blau die Waffen und mit Weiß die Gewandung“. In China steht Schwarz für Schlecht und Rot für Gut, vor allem im Wort— schatz der Kulturrevolution: die «Rote Sonne» (: Mao Zedong), das «Rote Buch», die «Roten Garden»; das Denken soll sich «roten» usw. Andererseits gibt es «Schwarze Bücher», «Schwarze Versammlungen» oder «Schwarze Filme». Auch die Zahlensymbolik ist aktuell wie eh und je. Hier einige Beispiele aus der VR China: — Es gibt die Drei Demokratien (politisch, wirtschaftlich, militärisch), die Drei Ungleichheiten (Kopf/Hand, Stadt/Land und lndustrie/Landwirtschaft) und die Drei Roten Banner (Kampagne von 1958). - Ferner die Vier Modernisierungen (Landwirtschaft, Industrie, Militär, Wissenschaft), die Vier Plagen (Ratten, Spatzen, Fliegen, Moskitos) und * die «Viererbande». — Die «Fünf Garantien» (Sozialgesetzgebung auf dem Land: F‚ssen, Klei— dung, Wohnung, Ausbildung, Bestattung), die Fünf Übel (Bestechung, Steuerhinterziehung, Diebstahl von öffentlichem Eigentum, Herstellung minderwertiger Waren, Wirtschaftsspionage), die «Fünf Verbesserungen» etc. — Die Sechs Regeln (der Kriegskunst). — Die Sieben Arten von Konterrevolutioniiren. — Die Acht Verbesserungen in der l.;mLlwlrtscll.lftst€lllfllh, die Neun Kom— mentare (zur Kritik am Sowietrevisionisinus) und die Zehn Großen Bezie— hungen (Systematisierung der Hauptspannungspunkte im chinesischen Po- litsystem). Auch im hinduistischen und islamischen Denken sind Zahlensymbole von überragender Bedeutung, im Hinduismus vor allem die Drei, die Sieben und die Fünf. Am populärsten ist die (‚}i7tterdreiheit (Trimurti) Brahma, Vishnu Und Shiva. Shiva wird manchmal dreiköpfig dargestellt und, ebenso übrigens wie Buddha, dreiäugig. Drei Feuer waren zum Vollzug des altertümlichen 212 Asiatische Gesellschafter; und Verhaltenssfile Soma-.Opfers erforderlich (das Soma—Elixier wurde aus dem Saft einer in den Bergen gedeihendcn Rhabarberpflanze gewonnen und rief heiliges Delirium hervor), und mit drei Schritten hat Vishnu das Weltall durchmessen. Aus siev ben Weltschichten baut sich der Kosmos auf, die Mittelwelt besteht aus sie- ben kreisrunden Kontinenten und sieben sie trennenden Ringmeeren; unter— halb der Erdscheibe liegen die sieben Unterwelten; sieben Rosse ziehen den Wagen des Sonnengottes, sieben Hauptpriester sind zur Darbringung eines Soma—Opfers erforderlich, aus sieben Grundstoffen besteht die indische Heilkunde, und siebenfach auch sind die Träume des Menschen. Weitaus am häufigsten aber taucht, wie in China, auch in Indien die Zahl Fünf auf. Es gibt die fünf Elemente, den fünffachen Lebenshauch, die fünf Bäume (meist Feigenarten), die fünf Produkte der Kuh, die fünf Gerüche (Kampfer, Aloe, Moschus, Sandel, Kakkola), die fünfjuwelenarten‚ die fünf Heilwurzeln, die fünf ärztlichen Diagnosen u.dgl. Fünf Personen sind mit der Leitung einer Kaste betraut (sog. «I’anchayat»). Fünf Mondtage werden zu einer Fünferwoche zusammengefaßt, und sakrale Feiern pflegten seit une vordenklicher Zeit fünf Tage zu dauern”. Im modernen Indonesien wurden die Fünf Grundprinzipien (Pancasila) zum verfassungsrechtlichen Anker sowohl der Alten als auch der Neuen Ord- nung (Näheres dazu oben 5. i36f.). Bei der Konferenz von Bandung (1955) wurden die «Fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz» zu einem Hauptin— strument der Außenpolitik erklärt. I"ünffach auch sind die Grundpfeiler des Islam, darunter die täglichen fünf Gebete (Näheres dazu unten 5. 244). Es ist vor allem diese Welt der Symbolik, die beim westlichen Betrachter das Gefühl des «Geheimnisvollen» hervorruft und die viele Asiaten als «unv durchschaubar» erscheinen läßt. Der Nebel lichtet sich allerdings, sobald man einmal die Symbole kennengelernt hat und ihren Einsatz «versteht». Dann erscheinen sie nämlich als durchaus praktisches Instrumentarium für den Umgang zunächst einmal mit übersinnlichen Mächten, die gepriesen und verehrt, aber auch um Gnade angefleht, ja bisweilen höchst berechnend manipuliert werden! Der in der Religion allgegenwärtige Symbolismus wirkt z.T. aber auch auf das Alltagsverhaltcn zurück und führt hier zu einer Kultur der Andetr tungen und des leisen Sprechens, die für den an «Direktheit» gewöhnten Eu» ropäer nicht immer leicht aufzuschlüsseln ist. So kann es beispielsweise vor kommen, daß ihm wichtige Mitteilungen von seinem Gastgeber erst am Ende eines mehrstündigen Abendessens ‚ und dann vielleicht auch noch in einem Nebensatz gemacht werden; manchmal werden Geschenke über reicht, deren rote oder weiße Farbe bereits bestimmte Wünsche ausdrückt. Der frühere Außenminister Kissinger wurde bei der Anbahnung der chinth 51_5Ch-amerikanischen Beziehungen Ende 1971 von Zhou Enlai im Fujiark %lmfper der Großen Volkshalle empfangen, also im Symbolraum eben jener rov1nz, die der Insel Taiwan direkt gegenüber liegt. Andeutcnden Charak— IV. Wie Aszaten densz 2 13 ter hat auch eine Fülle von Sprichwörtern, wie sie in Asien gerne jedem Ge— spräch beigeflochten werden. f) Nicht zergliezlernd, sondern ganzheitlich Das asiatische Denken steht nicht vor oder über den Dingen (d_ h_ der Ge— sellschaft, der Natur und dem chrsinnlichen), sondern versucht, zu ihnen zu bleiben. Daraus ergibt sich ein ganzheitlicher Ansatz, wie er auf S. 38{f. beschrieben wurde. 3, Unterschiedliche Denkweisen: China und Indien Neben den oben geschilderten Gemeinsamkeiten soll nun noch die Spann— weite unterschiedlicher Denkansätze ausgelotet werden, wobei sich China und Indien als Gegenpole anbieten, zwischen denen die Denkmuster ande— rer Völker auf einer gleichsam gleitenden Skala liegen. Nimmt man die (iegensatzpaare abstrakt/konkret, allgeinein/individuell, statisch/dynamisch—dialektisch, innen/außen sowie diesseits/jenseits—orien— tiert als Grobraster, so ergibt sich für das indische Denken folgender Be— fund, der zugleich ein Kontrastbild zu China liefert: Bevorzugung des All— gemeinen, Abstrakten und Utopischen auf Kosten des Besonderen, I\'onkrtk ten und Praktischen; der Einheitsidee auf Kosten des Individuellen; des Statischen auf Kosten des Dynamisch—I)ialektischen; der inneren Reflexion auf Kosten äußerer Konformität und des Uber-natürlichen auf Kosten des Naturhaften. Das chinesische Denken läuft, wie gesagt, bei all diesen fünf Positionen jeweils ziemlich genau auf das Gegenteil hinaus. Andererseits kommen sich beide dann überall dort Wieder nahe, wo es um «Harmonie», Toleranz oder Hierarchie geht. Die hier festgestellten Gegensätze ergeben sich zunächst einmal ganz schlicht aus Befunden der Großen Tradition. Sie sind aber, wie Nakamural0 nachzuweisen versucht, keineswegs nur Resultat eines Zufalls, sondern not- wendige Deduktionen aus jeweils grundverschieden angelegten Sprach— mustern — womit ihnen übrigens auch Dauer beschieden wäre. Der Drang des Chinesischen zum Bild, zur konkreten Aufschlüsselung abstrakter Tat— bestände und zum Symbol ergibt sich aus dem iahrtausendelangcn Umgang mit Bildzeichen, die beträchtliches Iiigenleben entwickeln Das Sanskrit andererseits, das vielen modernen indischen Sprachen zu— grunde liegt, fordert zur abstrakten Stilisierung geradezu heraus: Da ist zu— nächst einmal die typische Verwischung einer Eigenschaft mit dem Träger dieser Eigenschaft: Prinz Sakyamuni hatte die «Erleuchtung» gewonnen (buddha) und damit einen «Sieg» errungen (lim); damit wurde er als «Er— leuchtung» (Buddha) und «Sieg» (]ina) personifiziert — ähnlich wie man etwa ‚4 Asiatische Gesellschaften und Verbaltensstile 2 im Deutschen von «den Goethes» spricht, wenn man Personen mit poeti— schen Fähigkeiten meint. . . Während in den modernen europäischen Sprachen Ad)ekt1ve und Substan_ tive streng voneinander getrennt werden, neigt das Sanskrit dazu, ein Adjek— tiv als Substantiv zu verwenden, z. B. tapana : «brennend» und zugleich «die Sonne» oder aber suhrd : «gutherzig» sowie «der Freund»“. Im Gegensatz dazu zwingt die chinesische Satzkonstruktion zu einer präzisen Differenzie— rung zwischen «Bestimmendem» und «Bestimmtem», jenes wird im Chinesi— schen, ebenso wie im japanischen, dem Bestimmten vorangestellt, während es in den malaiischen Sprachen gerade umgekehrt ist, z.B. «des Mannes Name» (chin., iap.) oder aber «der Name des Mannes» (malaiisch). Im Sanskrit besteht darüber hinaus die Tendenz zur Substantivierung « und damit Abstrahierung von Verben: Man hängt an ein Tätigkeitswort Suf fixe wie z.B. «—ta» oder «—tva» (entspr. dem dt. «—tät») an. Der Satz «Er al- tert schnell» wird im Sanskrit z.B. gern mit «Er geht schnell zur » und «Die Frucht fault» mit «Die Frucht geht zur » wiedergegeben, Mit einem winzigen Schritt ist man hier also bereits im Reich der Abstrak— tion. Kein Wunder, daß indische Denker schnell «abheben», während die chinesische Darstellungsweise immer irdisch—greifbar bleibt. Substantivic» rung und Abstrahierung im Sanskrit, dialektische Bewegung und Konkret—» heit dagegen im Chinesischen, so z.B. in Ausdrücken wie «shanshui» («Berg—Wasser» : Landschaftsgemälde), «shanhai» («Berg—Meer», das von Bergen und Meeren umschlossene Land als Ganzes) oder aber, um hier einen für den Sino—Kommunismus zentralen Begriff zu zitieren: «maodun» (wörtl. «Speer—Schild», d.h. «Widerspruch» — z.B. im Sinne des Gegensat— zes zwischen Bourgeoisie und Proletariat). Zum Paradebeispiel für diese die Einheit der Gegensätze ausdrückende Eigenart des Chinesischen ist der Be griff yin—yang (dunkel—hell) geworden, in dem sich die chinesische Lebens— philosophie wie in einem Brennglas konzentriert. Was schließlich die Idee der All—Einheit anbelangt, die ja das Herzstück des traditionellen indischen Denkens überhaupt ist, so scheint sie ebenfalls linguistisch vorstrukturiert zu sein. Während z.B. im Altgriechischen, das ansonsten ja durchaus Gemeinsamkeiten mit dem Sanskrit aufweist, präzis zwischen «pan» (all, Singular im Sinne von lateinisch «omne») und «pantha» (alle, alles, Plural im Sinne von lateinisch «omnia») unterschieden wird, taucht dieser Begriff «alles» im Sanskrit immer nur als «sarva», d. h. im Sinf gular, auf”. Wären die indischen Arier Griechen gewesen, so hätten sie Wahrscheinlich nicht gesagt «pantha rhei» (alles fließt, im Sinne von «om ma»), sondern «pan rhei» («all fließt»). Das Sanskrit drängt also den Plural Zum Singular, die Vielheit zum Einen. Von hier ist es nur noch ein kleiner Schritt zu der Annahme, daß alle Vielheit am Ende doch nur ein und das- selbe und daß der Glaube an ein Individuum Täuschung — weil Folge unzu« reichender Einsicht in die All—Einheit der Dinge und Erscheinungen — sei. V. Was Asiaten glauben: Religion und Frömmigkeit I. Längsschnitte a) Ex oriente lux? Aus europäiseher Sicht sind zwar alle Religionen im «()ricnt» entstanden. Faßt man diesen nebulos umschriebenen Iirdteil jedoch unter religiösen Ger sichtspunkten näher ins Auge, so zerfällt er in zwei Teile, deren Scheidelinie am Hindukusch verläuft'. Von dort aus läßt sich deutlich zwischen «westli— chen» und «östlichen» Religionen unterscheiden — zu den ersteren gehören das Christentum, das judentum und der Islam, die sich sowohl im Hinblick auf ihr Weltbild, ihre Sittenlehre, ihre Metaphysik und ihr Ritual als auch auf ihre (mangelnde) Toleranz gegenüber anderen Religionen ’a'onenweit von dem abheben, was östlich des Hindukusch entstanden ist ‚ also in jenem Asien der 25 Länder, das in der vorliegenden Untersuchung behandelt wird. Diese Region hat zwar eine Fülle von Volk», jedoch nur zwei Universal— religionen hervorgebracht, nämlich den Buddhismus und den Konfuzianis— mus, wobei der Konfuzianismus allerdings eher eine Soziallehre als eine Re— ligion ist. Alle anderen «östlichen» Glaubenssystcme sind, so zahlreich auch ihre Anhängerschaft sein mag, «Volks»—Religionen geblieben, so z.B. der Hinduismus, der lediglich im eigentlichen Indien, in Nepal und auf der in— donesischen Insel Bali zu Hause ist, ferner der ganz auf japan beschränkte Shintoismus, des weiteren der in fast ganz China heimische I)aoismus, nicht zu vergessen schließlich auch noch die hauptsächlich auf Indien beschränk— ten Religionen des jainismus, Sikhismus und Parsismus, deren Anhänger— schaft, verglichen mit dem Hinduismus, zwar zwergenhalt Wirkt, deren wirtschaftliches Gewicht aber Riesenausniaßt' besitzt (dazu oben S. 168f.). Volksreligionen unterscheiden sich von Unixersalreligioncn erstens da— durch, daß sie weitgehend auf ein bestimmtes Volk beschränkt geblieben sind, daß sie autocbthone Götter besitzen, daß sie ferner von den Eigenarten des betreffenden Volkes geprägt bleiben, während in den Universalreligio— nen der Mensch als solcher mit seinen Noten und seinen Hoffnungen Ge— genstand der Heilsverkiindung ist, und daß sie, viertens, keine Missionser— folge aufzuweisen haben, die ja logischerweise erst im Zuge der «Entnatio- nalisierung» des religiösen Anliegens eintreten können. Zwei Drittel der heutigen Menschheit bekennen sich zu einer «I*remd»—, sprich: Universal— religion. 216 Asiatzsche Gesellschafien und Verhaltensstile In diesem Sinne besitzt eigentlich nur der Buddhismus einen ähnlichen Universalcharakter wie die beiden «westlichen» Glaubenssysteme Christen— tum und Islam. Bezeichnenderweise war der Buddhismus in seinem Ur— sprungsland Indien lange Zeit so gut wie erloschen, während er um so grö— ßere Verbreitung unter anderen Nationen gefunden hat — freilich nur nach Osten. Im Westen blieb ihm der Erfolg versagt, weil er mit seiner Anpas— sungsbereitschaft und seinem Sowohl—als-auch nicht den Hauch einer Chance gegen die beiden vom Entweder—Oder bestimmten «propbet15chen Weltreligionen» Christentum und Islam hatte. Was ihm im Westen geschadet hat, kam ihm andererseits im Osten zugute. Während die prophetischen Re— ligionen stets versucht haben, alle anderen Glaubenssysteme auszumerzen und sich an ihrer Stelle zu etablieren, richtete sich der Buddhismus stets neben anderen Religionen ein, ia nahm deren Elemente z.T. bis zur Selbst— verstümmelung auf. In Japan trat er als Universalreligion neben den autoch— thonen Shintoismus, in China neben den Daoismus und in Indien, seinem Ursprungsland, reihte er sich, nach einer langen Zeit der Abwesenheit, be— scheiden neben Hinduismus und Islam ein. Besonders stark überwuchert wurde er von der alttibetischen Bon—Religion. Von dort stammen die für den Lamaismus so typischen Götter («ziirnende Gottheiten», Göttinnen: «ta— ras»), die charakteristische Ikonographie (erotische Darstellungen, Thankas und Mandalas) sowie die Kultgegenstände (Glocke und Donnerkeil, Zau— berdolch, Yakschweif—Standarten, Gebetswimpel, Butter-Opfer, Mani— Mauern, «Geisterfallen», Ladse—Steinhaufen und Gebetsmühlen). Ver— glichen mit dem Buddhismus hat sich der Konfuzianismus zwar nicht als Weltreligion, wohl aber als Vertreter einer Universalethik über das dichtbe— völkerte Ostasien verbreiten können. Die «östlichen» Glaubenssysteme unterscheiden sich in fast allen entschei— denden Belangen, sei es nun in der Auffassung von Zeit und Raum, von «Er— kennen» und «Innewerden», von Sein und Schein, von Wirkursachen und Zweckursachen sowie auch durch ihre Toleranz von den westlichen Religio— nen. Die Einzelheiten zu diesen Differenzen sind bereits in Abschnitt IV herausgearbeitet werden. Hier nur so viel: Dem vom Judentum, Christen— tum und Islam vertretenen Konzept eines einmaligen, zeitlich zwischen An— fang (Creatio ex nihilo) und Ende (Apokalypse) verlaufenden Weltprozesses steht die Lehre der Hindus, Buddhisten und Chinesen vom zyklischen Ver— lauf allen Geschehens diametral gegenüber. Zwar tauchen auch in Indien und China vereinzelte Entstehungsmythen auf, die möglicherweise aus überla— gerten Kulturen stammen, so z.B. die chinesische Pangu—Legende; doch handelt es sich hier eher um Nebenflüsse, die im Hauptstrom kaum noch zählen. Ebenso gibt es im Mahayana—Buddhismus und (in später Nachah— mung dieses Vorbilds) auch im Daoismus einen Himmel; einer der vielen chinesischen Ausdrücke für «Sterben» heißt gar «qu xitian», wörtl. «in den westlichen Himmel» (dh. in das Reich des Emitofo, jap.: Amida, Pali: V. Wax Aszalen glauben: Rclzgion mid Frömmigkeit 2 17 Amitbaba Buddha) «eingehen». Doch hat diese die altchinesische Grundauffassung vom ewige und Yang, d. b. zwischen dem ewigen Iintstel verdrängen können. buddhistische «Neuerung» n Wechselspiel zwischen Yin ten und Iirsterben keineswegs b) Gotteworstellungen: Animae, Götter, (Ion und das (Jährliche Während Judentum, Christentum und Islam einem mehr oder weniger strengen Monothetsmus huldigen (auch die christliche I)reieinigkeitslehre geht ja von der Substanzgleichheit zwischen Vater, Sohn und Heiligem Geist aus), tendieren die meisten asiatischen Religionen zum Polvthcismus‚ vor al— lem der Hinduismus, der Mahayana—Buddhistnus und auch der synkretisti— sche Islam javas und anderer indonesischer Inseln, wo nicht nur Allah ange— rufen, sondern wo gleichzeitig auch den Geistern geopfert wird. Eine bunte Götterwelt tritt dem Gläubigen auch in der daoistischen Kirche entgegen, während der Konfuzianismus gegenliiufige I'.ntwicklungen durchgema€lfi hat: Der «Himmel», den der Gläubige dort ursprünglich durchaus noch als persönliches Wesen verehrt und dem er Opfer dargebracht hatte, wurde un— ter dem rationalistischen Einfluß des Mandarinats immer mehr zur unper- sönlichen Macht, die schließlich als Korrelat zur Iirde und damit als einer von vielen Aspekten des durchgehend dialektischen Yin—YanngerhiiItniss€S gesehen wurde, aus dessen Wechselspiel letztlich alle Dinge hervorgehen und in das sie wieder zurückkehren: kein Entstehen ohne Vergehen, kein Hoch ohne Niedrig, kein Gut ohne Böse, keine Herrschaft ohne Be— herrschte und kein Himmel ohne Erde — sowie umgekehrt. An die Stelle des «Himmels» rückte der «große Urgrund» (taiii), in dem die Kräfte Yin und Yang beschlossen sind. Ebenso unpersönlich wie das Ihm ist das in der Vedanta («VedaEnde») gelehrte und später vom Philosophen Shankara (788—820) für den neueren Hinduismus reaktivierte Brahman («\X’eltseele»), in das jedes Atman (««Iiinzelseele», «Selbst»l immer wieder zurückkehrt, so wie der Funke wieder in die I.ohe zurückspringt oder der Tropfen wieder im Ozean verrinnt. Ähnlich unpersönlich ist, drittens, das von Nagariuna in den Mahayana—Buddhismus eingeführte Sunyata (zu diesem Begriff der «Leere» vgl. oben S. 190f., 197). Während die «westlichen» Religionen also ihrem l\”lonotheismus durchge— hend treu bleiben, neigen die östlichen (ilaubenssystemc zu Iixtremen, in— dem sie entweder dem Polytheismus oder aber dem unpersönlicben «Göttli— chen» Raum geben. Freilich ist dieses «Göttliche der Philosophen» dem ein— fachen Gläubigen viel zu abstrakt. Iir iiberliißt deshalb das Taiji, das Leere oder das Brahman den Ritualbeamten oder Hohepriestern und wendet sich selbst weniger anspruchsvollen Adressaten zu, deren ungeheure Vielfalt — und weitgehend auch Widersprüchlichkeit * darauf zurückgeht, daß im Laufe der Geschichte zahllose lokale Traditionen zu einem überlokalen Gan— 218 Asiatische Gesellschaften und Verhaltensstile zen verschichtet, nicht jedoch verschmolzen wurden (zum Begriff Ver— Schichtung vgl. unten S. 331ff.). Als göttlich wurden anfangs Naturerscher— nungen (StCm-‚ Mond— und Sonnen— sowie Sturm—, Blitz— und Donnergötter) oder aber ganz einfach «der Himmel» erfahren — man denke an die Sonnen— göttin als Urahnin des japanischen Kaiserhauses, an die altindischenGewrt- tergötter Rudra und Indra oder aber an den altchinesischen Tian (Himmel). Angebetet wurden/werden ferner Berge, Flüsse und Steine (stehe S.48ff.), merkwürdig geformte Steine und Felsen, bestimmte Pflanzen (in Indien und Südostasien u. a. der Feigen— und Banyang—Baum) und Tierarten WIC Affen, Krokodile und Schlangen, vor allem die Kuh als Ausdruck des Frommen und Mütterlichen. Schildkröten— und Schlangenverehrung gibt es auch im Daors— mus (Schlangentempel in Penang) oder aber in japan — man denke an dlC 815 Götterboten verehrten Hirsche im Tempelpark von Nara— nicht zu vergessen übrigens auch die schöne shintoistische Sitte, besonders merkwürdige Bäume und Felsen mit dicken Verehrungsseilen wie mit einer Bauchbinde zu um— wickeln. Auch verstorbene Helden wurden (wie z.B. in China) formell zu Göttern ernannt (dort erhielten sie den Titel «Kaiser», di) und als Nothelfer angerufen sowie als Dorf oder Berufspatrone verehrt. Daneben kam es zur Herausbildung von Hochgöttern, zu denen der Gläubige in ein z. T. schwär— merisches Ich/Duserhältnis trat, so z. B. im Vishnuismus und Shivaismus oder im Mahayana—Buddhismus, wo vor allem Guanyin (jap.: Kannon, Sanskrit: Boddhisattva Avalokiteshvara) angebetet wird. Viel häufiger aber als Hochgöttern wendet sich der einfache Gläubige den Geistern (chin.: «shen») und Dämonen (chin.z «gui») zu, die er um Hilfe bittet oder aber denen er in seiner Angst Abwehr— und Beschwicbtigungs— Opfer (in Form von Reiskörnern, Weihrauch, Blumengirlanden etc.) bringt. Dieses Nebeneinander wird vor allem im Theravada deutlich. Zwar gilt dort Gautama Buddha theoretisch nicht als Gott, sondern lediglich als mensch liches Selbsterlösungsmodell; doch hindert dies den einfachen Gläubigen keineswegs, eine Buddhastatue anzubetcn und gleichzeitig auch noch allen möglichen Geistern zu opfern. Kaum ein Ort in Asien, wo bei genauerem Hinsehen nicht Spuren des Animismus zu entdecken wären, dessen Eigenart darin besteht, daß die Begegnung mit dem Numinosen an Hand eines We— sens erfahren wird, das weder völlig unpersönlich noch, wie ein Hochgott, «persönlich», sondern ein Zwischengeschöpf ist ‚ eben ein Dämon. «Dämo— nen» unterscheiden sich von unpersönlichen «Mächten» dadurch, daß sie personenähnliche Qualitäten besitzen und deshalb Gegenstand einer gewis— sen lch—Du—Beziehung werden können, sie gleichen ihnen dann aber wie— derum darin, daß ihr Handeln völlig unberechenbar, willkürlich und von boshafter Planlosigkeit - eben «dän10nisch» — ist und daß man dauernd auf der Hut sein muß wie vor einer Schlange, die man besser nicht reizt, sondern in weitem Bogen vorsichtig umgeht. Mit den «Göttern» andererseits haben die Animae zwar eine gewisse Personenhaftigkeit gemeinsam, doch unter— ‘ V. Was Asiaten glauben: Religion und Frömmigkeit 219 scheiden sie sich von ihnen durch ihre Unbereche Dämonischen ist ja nicht nur das lrrationale, sond «Sinnlose». Sogar manche Hochgötter haben den Animismus noch nicht ganz abgestreift, so z. B. ]ahve, der im Alten Testament willkürlich Seuchen über das Land schickt und am Berge Sinai mit Blitz, Rauch und Donner nie- derfährtz. «Respektiere die Geister, aber halte dich fern von ihnen» — dieser klassisch gewordene Ausspruch des Konfuzius gibt etwas von der Denkhaltung wie- der, die auch im modernen Asien überall verbreitet ist. Ein Asiate, der be- hauptet, nicht an Geister zu glauben, sagt im Zweifel die Unwahrheit, weil er — etwa einem westlichen Besucher gegenüber — sein Gesicht behalten will. Asiaten haben erfahrungsgemäß einen gesunden Respekt vor Mächten, die stärker sind als sie, und sie werden es nie auf eine ernsthafte Mutprobe an— kommen lassen. Allzu leicht vergißt man übrigens, daß sich auch in Europa in Form der Maibaum—, Mistel« oder Feuerrituale (Oster—, Johannis—, Sonn— wend— und Winterfeuer) Überreste der alten BaumA und Feuerverehrung er— halten haben, auch wenn sie inzwischen ihres alten Sinns entkleidet sind‘. In Asien aber ist dieses Erbe noch lebendig, wie die zahllosen Schutzrituale zei« gen, deren pittoresken Formen man auf Schritt und Tritt begegnet. Da gibt es unzählige Talismane (von arabisch «telesma», Abwehrzauber): Man trägt an einer Kette um den Hals beispielsweise einen Schweinezahn oder den Samen einer abwehrkräftigen Pflanze (in Europa war dies früher die Alraune), man legt jade an, die in der daoistischen Tradition die Funk- tion der «Teufelsvertreibung» hat, oder aber man führt, wie z. B. auf den Philippinen, stets ein Anting—anting mit sich, wie es an jeder Straßenecke verkauft wird — bisweilen sogar unmittelbar am Haupteingang zur katholi— schen Kirche. Die Thai bevorzugen Amulette, auf denen Schutzgottheiten abgebildet sind, so z.B. Hra Rod («der Überlebensherr»). Talismanfunktion hat auch der javanische Kris, dessen Klinge nach allgemein verbreitetem Glauben eine Seele besitzt, der man sogar Opfer bringt. In weiten Teilen Asiens werden außerdem vor jedem Hauseingang «Geistermauern» aufge— baut, die die Dämonen daran hindern, in das Haus oder in einen Tempel ein- zudringen. In der malaiischen Welt dienten Hahnenkiimpfe oder Schatten- spielaufführungen am Rande einer Hochzeit oder einer Beschneidungszere— monie dazu, die Aufmerksamkeit eventuell gerade anwesender Dämonen zu absorbieren und dadurch die Hauptperson der Veranstaltung vor unbere— chenbaren Attacken zu schützen. Solche Vorstellungen können oft die ganze Nacht andauern. In China werden auch heute noch anläßlich des Neujahrs- festes Türen und Fenster mit Schattenrissen des Kriegsgottes Guan Yu oder einer anderen wehrhaften Gottheit beklebt, deren Aufgabe es ist, ihre Waf— fen gegen potentielle «Gui»—Eindringlingc einzusetzen. . Auch eine Fülle von Ritualen ist Ausdruck ständiger Alarmberettschaft. Zwei moderne Beispiele: Als das Hyatt—Hotel in Singapur, ein Haus der nbarkeit. Das Wesen des ern das Antirationale und 220 Asiatische Gesellschaften und Verbaltenssrile gleichnamigen Luxuskette, Anfang der siebziger Jahre wegen lokaler Uber— kapazitäten in eine geschäftliche Pechsträhne hineingeriet, konsultierte das Management in seiner Not einen «Wind-Wasser»(fengshui)—Spezialisten, der die Ursache des Unheils schnell herausgefunden zu haben glaubte: Liege doeh die Eingangsfront des Hotels mitsamt dem Kassenraum nicht nur, allen Feng— shui—Regeln zuwider, nach Norden hin, sondern sei zudem durch eine riesige Glasfront abgeschirmt; kein Wunder, daß die zumeist aus nördlicher Ricl ‚ tung angreifenden Dämonen ohne Mühe durch die Eingangsfront eindringen und die Kassen leerr'dumen könnten Die Empfehlung des Geomanten an die Architekten lautete, die bisher in glatter Front verlaufende gläserne Eingangs— fassade neu in «Zighharmonika»—Form anzuordnen, vor die Eingangspforte eine Geistermauer in Form von Springbrunnen und Blumenarrangements zu setzen und im Speisesaal ein nach altchinesischem Muster angefertigtes, etwa acht Meter langes Holzboot mit der Inschrift «Sichere Reise» zu installieren. Mit dem Hyatt—Hotel ging es nach Durchführung dieser viele Millionen Dol— lar verséhlingenden Reparaturen steil wieder aufwärtsf Was in Singapur der (ieomant, ist im benachbarten Malaysia der Bomoh (Medizinmann), der, ähnlich wie in Shakespeares Sommernachtstraum, «verzaubern» oder aber Dämonen vertreiben kann. Die Football—Associ— ation of Malaysia beschäftigt regelmäßig einen Bomoh, der dafür sorgt, daß während der Spiele kein Regen aufkommt. Während des Wahlkampfs in Sa rawak (Ostmalaysia) beschuldigten sich im juli 1985 die beiden Haupt- bewerber um den Posten des Ministerpräsidenten in offenen Briefen an die «Sarawak Tribune» gegenseitig des Bomohismus, also der Zauberei: Insbe— sondere wurde der amtierende Ministerpräsident Taib Mahmud angepram gert, er konsultiere regelmäßig einen lokalen Bomoh in der Stadt Kuching, den er als Verkörperung eines bereits vor mehreren hundert jahren gestorbe- nen Urahnen anspreche. Ein solches Verhalten sei «shirik», d. h., es verstoße gegen die Grundprinzipien des Islam, nämlich an etwas anderes zu glauben als an Allah. Der Angeschuldigte leugnete seine Kontakte mit dem Bomoh keineswegs, zeigte sich jedoch darüber empört, daß man auf diese Weise «in sein Privatleben ei11tlri11gt'>>5. Noch wichtiger als Talismane und Abwehrrituale sind die verschiedenen Formen der Wahrsagung, mit denen man sich in angstbesetzten Situationen und im Gestrüpp der Da'monie am besten zurechtfinden zu können glaubt. Astrologiegläubigkeit ist ja häufig Folge einer Ich—Schwäche sowie des GL” fühls, ausgeliefert zu sein. Keine Straße in irgendeiner asiatischen Stadt, wo nicht wenigstens zwei oder drei W'ahrsager ihre Dienste anböten. Als beson» ders zuverlässig gilt das Lesen der Handlinien, bestimmter Gesichtslinien oder aber die astrologisch fundierte Zukunftsaussage. In nahezu jeder Zeif tung oder Zeitschrift sind Belehrungen über das richtige Lesen von Hand— linien abgedruckt. Auch die meisten Politiker bedienen sich eines Astrologen, selbst wenn sie dies vor der Öffentlichkeit nicht gern zugeben. Der Mini— V. Was Asiaren glauben: Religion und Frömmigkeit 221 sterpräsident von Singapur, Lee Kuan Yew, Absolvent britischer Schulen und bekannt für seine Modernisierungspolitik, konsultiert angeblich regel— mäßig einen Astrologen in Sri Lanka. Vollends astrologiehörig War vor allem Lou Nol, der Staatspräsident der ehemaligen “Khmer—Republik» (1970—1975). Bekanntlich war auch der Zeitpunkt der indischen Unabhän- gigkeitserklärung, die um Mitternacht zwischen dem 15. und 16.August 1947 erfolgte, auf astrologisches Anraten festgesetzt worden. Auch die erste indische Atombombe wurde zu einem astrologisch günstigen Zeitpunkt ge, zündet. Will schon die hohe Politik nicht auf solche «transzcndentalen» Hilfsmittel verzichten, so erst recht nicht der kleine Mann, der vor jeder Aussaat und vor Antritt jeder Reise, ja vor jedem für ihn wichtigen Ereignis sicherheitshalber einmal beim Wahrsager oder Handleser vorbeischaut Auch in einer_hochmodernen Stadt wie Taibei gibt es rund 20000 Speziali— sten für das «Ubernatürliche». Besonders gut leben sie vom Vertrauen in ihre Fähigkeit, feststellen zu können, ob ein junges Paar zueinander paßt. Schlechte Chancen hat hier ein Mädchen, das 1966 geboren wurde; denn na— hezu katastrophal ist die auf dieses jahr fallende Konjunktion von «Feuer, Pferd und Yang». Eine wichtige Magiefunktion besitzen auch Zahlen, vor allem, wie oben (5. 211 ff.) erwähnt, die 3, die 5 und die 7. Cantonesisch sprechende Unter— nehmer in Südostasien sind bereit, für eine Lizenznummer mit der Zahlen— kombination 138 oder 2328 Unsummen zu zahlen. 138 klingt in der canto— nesischen Aussprache («Yat sung fat») phonetisch so ähnlich wie «wohlha— bend und günstig». Die Aussprache von 2328 klingt wie «Yee sung yee fat», was soviel heißt wie «Wachstum und Wohlhabenheit kommen leicht». In der Politik von Ferdinand Marcos kam den Zahlen 7, 11, 17 und 21 ebenfalls ein offensichtlich magischer Stellenwert zu, Marcos rief das Kriegsrecht und die Geburt der «Neuen Gesellschaft» am 21.September 1972 aus; am 7‚April 1981 hob er das Kriegsrecht wieder auf und verkündete eine Volksabstim— mung. Nach seiner Wiederwahl ließ er sich erst um 7 Uhr abends vereidigen, obwohl dies nach der Verfassung eigentlich bereits am Nachmittag hätte ge— schehen müssen. Schriftstücke, die aus seiner Feder stammten oder für sei— nen Gebrauch abgefaßt waren, enthielten stets 7 oder 17 Kapitel. Der frü— here Handelsminister Luis Villafuerte überschrieb das von ihm herausgege- bene Handelsprogramm, in dem ua. auch die «11 Industrien» behandelt waren, mit dem Titel «7 on 7». Imelda Marcos sorgte dafür, daß die Provin— zen der Republik Philippinen von 66 auf 77 angehoben wurden“. Auch an— dere Staatsmänner haben gesunden Respekt vor dem «Ubersinnlichen». Der frühere indonesische Präsident Sukarno beispielsweise ließ einen Korre— spondenten der «TIME» des Landes verweisen, obwohl dessen kurz vorher in der Ausgabe vom 10. März 1958 erschienener Artikel Indonesien und sei— nen Präsidenten in ein durchaus vorteilhaftes Licht gerückt hatte. Nach den Gründen der Ausweisung befragt, wies Sukarno empört auf das Titelbild der 222 Asiuzzxcbe Gesellschaften und Verbaltensstile TIME hin, das sein Portrait zeigte — von Sorgenfurchen durchzogen, mit ei— ner Überfülle von Grimtönen und Runzeln und das Ganze noch dazu vor einem dämonisch belebten Hintergrund! In einem Malaien wie Sukarno, der in einer animistischen Kultur aufgewachsen war, hatte das Bild offensichtlich tiefes Unbehagen hervorgerufen. Man habe ihn, weiß ein Gesprächspartner Sukarnos zu berichten7, als «Ungeheuer» und Dämon dargestellt. Überdies gewährt man den Halbgöttern und Dämonen der Umgebung freundlich Aufnahme, indem man beispielsweise, wie es vor jedem thailän— dischen Haus oder Hoteleingaflg zu geschehen pflegt, Geisterhäuschen auf« stellt, um der Anima dort Gastfreundschaft zu erweisen, oder indem man, wie in japan, eigene Firmensdueine errichtet, in denen besonders häufig Inari, also die in Fuchsgestalt erscheinende Reisgöttin, verehrt wird. Etwa ein Viertel aller japanischen Großfirmen, unter ihnen Mitsubishi, haben sich Inari als Schutzgöttin gewählt, da sie dem Geschäftserfolg besonders günstig sei. Andere, Wie Hitachi oder Nippon—Oil, verehren dagegen die Gottheit des Ortes an ihrem Hauptverwaltungssitz. Eine dritte Gruppe wählt sich tä— tigkeitsspezifische Kami (Geister) aus, so z.B. die japan Mining Company eine Berggottheit, eine Reihe von pharmazeutischen Unternehmen Kräuter götter und die Autofirma Toyota zwei Kami, die seit altersher Verbindung mit dem Element Eisen haben. Häufig findet am Gründungstag des Unter— nehmens sowie am jahrestag des verehrten Kami ein Betriebsfest statt, bei dem die Geschäftsleitung als kollektiver Zeremonienmeister fungiert, bei dem ferner Shinthriester den Schutz der Gottheit herbeiflehen und bei dem traditionelle Tänze sowie Sumod(ingkämpfe das Rahmenprogramm abgeben. Der Animismus weist freilich keineswegs nur panasiatische Gemeinsam» keiten auf, sondern kennt durchaus auch kulturspezifische Unterschiede. So gibt es beispielsweise in Birma den Nat—, in Siam und Laos den Phi— und in Kambodscha den Neak—Ta—Animismus. Innerhalb der Nat—Kulte werden drei Kategorien unterschieden, nämlich Naturgeister von Bäumen, Wäldern und Bergen. ferner die «Siebenunddreißig Nats» mit legendär—historischen Biographien und drittens Devas, die aus der indischen Tradition stammen und als Schutzpatrone für das Königtum, für die Religion und für den Sangha angerufen werden. Während die Naturgeister und die Siebenund— dreißig Nats gefürchtet sind und durch Kulte beschwichtigt werden müssen, gelten die Devas als gutartige Wesen". Die Phi werden z. T. gefürchtet, z.T. aber auch als Schutzgottheiten angef rufen. Es kann sich hierbei um Seelen von Menschen handeln, die eines un! natürlichen Todes gestorben waren, oder um Sumpf», Wasser— und Krank- heitsgeister. mit denen der Bauer sich unbedingt auf guten Fuß stellen muß, sei es nun, daß er ein Medium einschaltet, daß er Nahrungsopfer darbringt (noch bis in die dreißiger jahre wurde beispielsweise dem Schutzgott von Chiengmai vor der Reisaussaat ein Büffel geopfert) oder daß er himmlische V Was Asiaten glauben: Religion und Frömmigkeit 223 Schutzgeister,niimlich die Thevadas (Devas), herbeiruft. In manchen laoti— schen und thatland15chen Landeste11en haben srch überdies bis in die 'ün ste Zeit in einer Reihe von Dörfern offizielle Phi—Kulte erhalten. Besonddre 3er- ehrung bei den Bauern genießt die Reisgöttin, die anläßlich des Erntedank— fests eingeladen wird, doch bitte in die Scheune zu kommen und dort bis zur Aussaat im nächsten jahr zu verweilen. Eine strohgeflochtene Figur der Reis- göttin wird hierbei, ebenso wie übrigens in Birma, Kambodscha und Bali in die Scheune gelegt, um dieses Einwohnen symbolisch zum Ausdruck zu brin— gen. Das in Thailand und Laos so beliebte «Lichterfest» (Loy Kratong), das einen Monat nach dem Ende der buddhistischen Fastenzeit abgehalten wird, geht wahrscheinlich auf Rituale zur Versöhnung der Flußgeister und des für den Wasserhaushalt verantwortlichen Naga(Schlangen)-Königs zurück. Bei dem Fest werden auch heute noch Tausende von kunstvoll gefalteten Minia— tur-«Booten», mit Kerzen und Blumen überladen, ins Wasser ausgesetzt”. Die Neak Ta in Kambodscha lassen sich nicht nur auf bestimmten Land— gebieten nieder, sondern gehen auch in den Körper des Menschen ein, so z.B. die neunzehn lebenswichtigen Neak Ta, die diese «Wohnung» aller— dings während des Schlafs, im Verlauf von Krankheiten sowie beim Eintritt des Todes Wieder verlassen. Obwohl die Neak Ta vorbuddhistischer Her— kunft sind, tragen sie im allgemeinen Bali—Namen, nämlich «Nak» (Naga) und Bei sac (picaca: Dämon). Da die Neak Ta gern auf Bergen wohnen (kambodschanisch: Phnom), spielen Berge sowohl bei der Namensgebung als auch im religiösen Kult nach wie vor eine wichtige Rolle”. Im konfuzianisch—daoistischen Asien hat man vor allem zu seinem Dorf« gott ein gewissermaßen lässiges Verhältnis: Einerseits wissen sich die Bauern zwar von ihm abhängig, doch andererseits stehen sie mit ihm durchaus auf Zinsfuß und ersetzen ihn notfalls sogar durch einen anderen Gott, falls er die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllt. Auch vernachlässigte Ahnen können übrigens eine böse Rolle spielen. Nach klassischer chinesischer Lehre «haben alle Dinge ihre Wurzel im Him— mel, der Mensch wurzelt in seinen Ahnen». Für die Verstorbenen müssen bestimmte Trauerfeiern durchgeführt, Trauerzeiten eingehalten und genau vorgeschriebene Opfer erbracht werden. Außerdem ist eine Ahnentafel auf dem Familienaltar zu postieren. Die Ahncnverehrung, vor allem der Kult für die kaiserliche Ahnenfamilie, ist zwar im Laufe der Zeit immer mehr zu ei— nem Ritual geworden, bei dem es weniger um den konkreten Toten selbst als Zunehmend um ein rituelles L’art pour l’art ging, bei dessen Nichteinhaltung allerdings negative Folgen für Politik und Natur zu befürchten waren; doch haben sich neben dieser neueren philosophischen Interpretationspraxis durchaus auch uralte Vorstellungen erhalten, wonach eine nicht gesättigte Seele zum Dämon wird und rastlos Unheil anrichtet. Ahnenopfer, vor allem an Mond—Neujahr, haben also, abgesehen davon, daß sie der gesellschaftli— Chen Integration (im Clan) dienen, durchaus auch apotropäische Funktion. 224 Asiatische Gesellschaften und Verbaltensstile In Nordostasien spielt das Schamanentum eine wichtige Rolle, vor allem auch im heutigen Korea — ein Tatbestand, der in der «aufgeklärten» Öffent— lichkeit freilich meist mit Schweigen übergangen wird. Meist sind es Frauen, die als Medium zwischen Diesseits und Jenseits auftreten. Sie werden bei? spielsweise ans Krankenlager gerufen, wo sie den betreffenden Krankheity geist feierlich zum Haus hinausbegleiten, sie werden über günstige Ge« schäfts— und Reisetermine befragt, leisten Sterbehilfe, helfen den Fischern bei der Besänftigung des wütenden Meergottes oder setzen sich im_Trance— zustand mit Verstorbenen in Verbindung. Ihr «Kundenschild» ist eine Gei- sterfahne, die vor dem Haus an einer Stange flattert“. (} Ethik und «irdiscbe Ziele» Hier seien nun die drei klassischen, eher «diesseitsbezogenen» Fragen nach dem höchsten Gut, nach dem richtigen Handeln und nach der Willensfrei» heit angeschnitten, bevor dann im nächsten Kapitel auf die Haltung der ver schiedenen Religionen zum jenseits («Wohin geht der Mensch?«) einzuge» hen ist. Auf der unteren und mittleren Stufe der Wertepyramide, nämlich bei den Vitalwerten (Lebenserhaltung, Nahrungs— und Geschlechtstrieb) sowie bei den «Tugenden» (Gerechtigkeit, Weisheit, Selbstbeherrschung, Bescheidem heit usw.), sind sich die asiatischen Religionen noch weitgehend ähnlich, selbst wenn Buddhismus und Hinduismus eine Überbetonung der Vital— Werte für schädlich halten, weil sie nur die Ich—Illusion verstärken helfen. Auf der höchsten Stufe dagegen lassen sich folgende Abweichungen feststel- len: Als Summum bonum gilt ein Leben in Übereinstimmung mit der Natur (Daoismus, Shintoismus), mit der überkommenen Sittenordnung (Konfw zianismus), mit dem Mikrokosmos des Kastensystems (Hinduismus) oder mit dem Willen Gottes (Islam), nicht zu vergessen die Leidensfreiheit (Buddhismus). Klassische «höchste Güter», wie sie sich in der abendliindi— schen Philosophie abgewechselt haben, etwa das Tugendideal des Aristoteles («Seelengrölie»), das Mönchs— und Ritterideal des Mittelalters oder das Hu— manitlitsideal der deutschen Klassik («Entfaltung der Persönlichkeit»), tau— chen in dieser Form in Asien allenfalls selektiv auf, so z.B. das Ritterideal beim japanischen Samurai, das Mönchsideal beim Sangha und das Human} tätsideal beim Konfuzianismus. Liest man etwa einige Grundaussagen Wil— helm von Hutnboldts nach, daß nämlich die Veredelung der ganzen Mensch— heit das Ziel der Geschichte sei und daß der Weg dorthin über die Ver edelung der Iiinzelpersönlichkeit führe, weil nämlich auf die Menschheit am besten wirke, wer auf sich selbst wirkt, so fühlt man sich auf Anhieb an kon- fuzianische Grundpostulate erinnert. Freilich bleibt die konfuzianischc Ethik dann letztlich doch wieder partikulär, weil beim Konflikt zwischen Familien/Danwei— und Allgemeininteressen sich allemal die ersteren durch V, Was Astaten glauben: Relzgzon und I-‘ro'mmigfeel! 225 zuS€tZen pflegten und pflegen: Man denke an das oben zitierte Beispiel des pietätvollen Sohnes, der Pahnenflucbt begeht. Weil er die Trauerrituale für seinen Vater einhalten mochte. Ethik gegenüber dem allgemeinen Men- schen eschlecht wird von einer einzigen altchinesischc . nämli%h der des Mo Di. Angesichts der Zellularit.it der clfiirsibfsliilccliegrifäriiillrlt; schaft ist dieses Postulat der allgemeinen Mensehenliebe ein vielbeachteter, ganz gewiß aber auch skurriler Beitrag zur Moraldiskussion in China geblie- ben: Mo Di, ein Rufer m der Wüste. Während die aus Indien stammenden Religionen sowie der Islam in seinen asiatischen Ausprägungen dazu neigen, das irdische Summum bonum ex ante im Lichte der Religion, d.h. unter jenseitsbe7'tigem, „. betrachten, gibt sich die konfuzianische Sittenlehre überaus s.tkular und nimmt bei den Xiao— ren (den «kleinen Leuten») sogar höchst eudaimonistischen Charakter an, beispielsweise in der bekannten Formel « fu, lu, shou, zi» (Glück Reichtum, langes Leben und Söhne). Vor allem der Wunsch nach einem «langen Leben» wird durch eine Fülle von Symbolen ausgedrückt, die so etwas wie den roten Faden durch die gesamte chinesische Kunst abgeben — man denke an das Zei- chen für «langes Leben» (shou), das auf 'I'eit>piehen, Wandschirmen, Stuhl- lehnen, Vasen und Lesezeichen erscheint, oder aber an typische Motive wie den alle 1000 jahre blühenden Pflaumenhauxn. dessen Frucht Unsterblich— keit verleiht, an den Pilz der Unsterblichkeit. an den mandschurischen Hirsch, der diesen Pilz findet, an den Kranich oder an den so populären und in allen Devotionalienhandlungen feilgebotenen N.tnhai shouxing — den «Stern des langen Lebens vom SÜdmeer». Gegen diese traditionellen Auffas— sungen vom «höchsten Gut» haben sich die marxistischen Zielsetzungen (Hingabe an das kollektive Ziel der Selbstbefreiung des Proletariats etc.) nicht im geringsten durchsetzen können. Was nun macht ferner eine Handlung zu einer moralisch richtigen? Ge— nügt es, daß sie erstens lediglich im Ergebnis einen sittlichen Wert verwirk— licht, oder muß sie zweitens um des sittlichen \X/ertes willen durchgeführt worden sein, oder genügt es drittens, daß sie zur Herbeiführung eines be— stimmten Zustands unternommen worden ist.> Der ersten dieser drei Optionen kommt ganz gewiß die hinduistisehe Mo— ralauffassung am nächsten: Man erfülle, wie es an der klassischen Stelle der Bhagavadgita heißt, sein «dharma», d.h, die jeder Kaste vorgeschriebene Pflicht, «leidenschaftslos». Es handelt sich hier um Ordnungen, die — richtig verstanden — nicht einengen, sondern lreimachen sollen. Der Krieger hat also im Ernstfall zu töten, gleichgültig ob der Feind sein Freund oder Ver— wandter ist. Das Dharma wird von den verschiedenen philosophisch-theo- 10gischen Schulen des Hinduismus jeweils anders begründet, nämlich ent— weder als Manifestation des unpersönlichen Brahman oder (theistisch) als Offenbarung eines persönlichen Gottes oder aber (atheistisch) als imma— nente Gesetzlichkeit der Welt; unabhängig von solchen Verschiedenheiten 226 Asiatische Gesellschaften und Verhaltensstile sind aber dann doch alle Schulen wieder darin einig, daß nur die Befolgung des Dharma die Harmonie zwischen Mikro— und Makrokosmos sowie zwi— schen Natur und Gesellschaft sicherstellt und daß sie insofern die Conditio sine qua non für letztendliche Erlösung ist. Wer das Dharma befolgt, rückt von Wiedergeburt zu Wiedergeburt der Erlösung näher, wer es mißachtet, programmiert damit (Vergeltungskausalität des Karma) seinen «Abstieg», insofern er in einer niedrigeren Kaste oder gar als nichtmenschliches Lebe— wesen wiedergeboren wird. In der Alltagspraxis des Hinduismus wird das Dharma nicht allgemein menschlich, sondern kasten— und altersspezifisch interpretiert: — Kastenspezifische Ethik heißt, daß der Durchschnittshindu sich ausschließlich an den Regeln seiner Kaste oder ]ati orientiert; die Ka— stenregeln sind in den sog. «Leitfäden» (sutras) und «Lehrbüchern» (sha— stras) niedergelegt, die, anders als die «Veda» zwar nicht direkt göttlichen Ursprungs, sondern menschlicher Herkunft sind, als solche aber gleichwohl zur heiligen Überlieferung, d. h. zur «Smriti» (Erinnerungs)-Literatur gehö— ren, die — wiederum im Gegensatz zur Veda — nicht nur den drei Oberen Ka— sten, sondern jedermann zugänglich sind. Das wichtigste Shastra ist das Ge— setzbuch des Manu, das etwa im i.V0rchristlichen ]ahrhundert entstanden ist und in dem nicht nur Regeln einzelner Kasten, sondern auch die Pflichten eines Hausvaters, eines Asketen, einer Ehefrau etc. bis ins Detail festgelegt sind. Aufgelistet finden sich hier ferner die verbotenen und erlaubten Spei— sen, die Beschäftigungen und die Alltagsriten sowie die Rituale zu Sonderan- lässen wie Geburt, Hochzeit und Tod, nicht zuletzt auch Regelungen zum Ehe— und Erbrecht sowie zu den Pflichten der vier Varnas («Farben», Ka— sten). — Das altersspezifische Dharma richtet sich nach den sog. «Vier Lev bensstationen» (ashramas), die jeder Mensch tunlichst durchlaufen soll und. die sich mit den Stichworten Schüler, Hausvater, Einsiedler und Wanderas ket umschreiben lassen. Hermann Hesse beschreibt die idealtypische Um— setzung dieses Schemas in seinem Roman «Siddharta» als eine auch für den westlichen Leser nachvollziehbare religiöse Odyssee. Im jainismus ist die Grundforderung verankert, daß angesichts der Ein- heit von Welt— und Einzelseele jedes Geschöpf wie das eigene Selbst behan» delt werden müsse und daß Gewalt gegen andere Gewalt gegen das eigene Selbst sei. Diese Vorstellung («Dein Nächster bist du selbst!») wurde auch von Mahatma Gandhi erneut aufgegriffen”, konnte sich dann aber in der in» dischen Praxis doch nicht durchsetzen, wie ja überhaupt die Gegensätze zwischen hinduistischer All—Einheits—Lehre einerseits und strikten Kasten regeln andererseits sowie zwischen höchster Toleranz im religiösen, aber Fa— natismus im sozialen Bereich mit zu den Grundwidersprüchen des Hinduis— mus gehören. _G_enügt im Hinduismus das moralische Ergebnis, so verlangt der Konfu— .Zlanismus darüber hinaus auch noch die Einheit von äußerem Handeln und lIm€rer Haltung — Option Nr. 2. Das wahre Glück des «Edlen» besteht ja in v_———. V. Was Asmten glauben; Religion und I’romng/egu 227 der freien inneren Übereinstimmung mit demSittengesetz. Aus der Freude am moralischen Vollzug erw'a'chst der Seelenfrieden. Der Islam schließlich, der hier ganz in der «westlichen» Tradition steht, stellt mehr auf die innere Einstellung als auf das äußere Ergebnis ab; in der malaiischen Welt kommt es hier freilich zu einem 'I'au7iehen zwischen hin« duistischer und islamischer Tradition. Der einzelne ist aufgefordert, sein «Gespür» (rasa) zum Maßstab seines Handelns zu machen. Was schließlich den Buddhismus und den Datusmus anbelangt, so gilt a]- 135 Handeln als sittlich, das den Zustand des Suntmum bonum liL'rbcllllllrt ‚ Option Nr. 3. Nach buddhistischer Lehre geschieht dies durch Besclireiturtg des «Heiligen achttciligen Pfades» (rechter Glaube, rechtes SichvEntschlie— ßen, rechtes Wort, rechte Tat, rechtes Leben, rechtes Streben, rechtes Ge— denken und rechtes Sich—Versenken), nach daoistischer Lehre durch «Nicht— handeln» (wuwei), d.h. durch ein passives Sich—Einfügen in das große Ge— schehen der Natur und des Yin—Yang. Beides sind typische r\ltcrslehren. Treffend bezeichnet Nietzsche den Buddhismus als eine « Religion für späte Menschen, für gütige. sanfte, iibergeistig gr*\i‘nrdene Rassen, die zu leicht Schmerz empfinden (Europa ist noch lange nicht reif für ihn): Er ist eine Rückführung derselben zu Frieden und Heitei‘keii, zur Diät iin Geistigen, zu einer gewissen Abhartung im Leiblichen . .. Der Buddhismus ist eine Re— ligion für den Schluß und die Müdigkeit der Zivilisation . . .”.» So sehr sich die Begründung des Sittlichkeitsverhaltens kulturspezifisch auch unterscheiden mag, so sehr gibt es auf der anderen Seite doch gemein? same Einstellungen. Überall sind die Vier großen Gebote durchgängig, name lich nicht zu töten, nicht zu lügen, nicht zu stehlen und nicht die Ehe zu brechen, und zwar auch dort nicht, wo Pol_vgamic erlaubt ist. Durchgängige Gebote sind auch die Kindesliebe und die «Goldene Regel», derzufolge niev mand einem anderen zufügen soll, was er selbst nicht erleiden möchte. Was andererseits keine asiatische Ethik fordert, ist Nächstenliebe: In den indi— schen Religionen erscheint der «Nächste» ja als Sinnestiiuschung. weshalb es ihm gegenüber kein positives Liebesgebot, sondern nur ein NichvVerletzen (Jainismus) oder ein passives Mit—ihm«l.eiden (Buddhismus) geben kann; buddhistische Ethik ist nicht gebietend. sondern verbietend: die klassische Fünfzahl Nichttöten, Nichtlügen, Nichtstehlen, Niclitunzucht und Nicht— berauschung. Fiir den Konfuzianismus andererseits ist der Nächste im trans— familiären oder im Transdanwei—Bereich fast schon so etwas wie ein Nie— mand. Die dritte ethikbezogenc Hauptfrage richtet sich nach dem freien Willen. Wo keine Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten besteht, bleibt für sin— liches Handeln kaum Spielraum. Bisweilen heißt es, daß Islam und Hinduis— mus in diesem Sinne «determiniert» seien. In beiden Religionen allerdings kann der Gläubige zumindest darüber entscheiden, ob er sein «Schicksal», sei es nun in Form des unerforschlichen Ratschlusses Gottes (Islam: «Es 228 Aszatisebe Gesellschaften und Verhaltensstile steht geschrieben», Kismet) oder aber in Form des Kastenschicksals, hin— nimmt — oder nicht hinnimmt («Islam» heißt Ergebung und «jati» Geburt, zutreffender eigentlich: hineingeboren sein). Obwohl beide Bindungen ex— trem stark sind, bliebe doch immer noch die Möglichkeit zur Flucht - für einen Hindu beispielsweise dadurch, daß er, wie es neuerdings häufig gc. schieht, zum Buddhismus übertritt. Im metakonfuzianischen Kulturkreis sind der Handlungsfreiheit des einzelnen keine unmittelbar religiösen Schranken gesetzt — eine Tatsache, die durch die Erziehungsphilosophie und durch die prinzipiell zulässige vertikale Mobilität zusätzlich bekräftigt, aller— dings durch innerweltliche Vorschriften (li) sogleich wieder eingeschränkt wird. In den buddhistischen Gesellschaften geht das Postulat, «gute Werke» zu vollbringen und dadurch sein eigenes Karma zu verbessern, ebenfalls von der Prämisse der Willensfreiheit aus, die allerdings verlorengehen kann, wenn man in der nächsten Existenz als niedriges biologisches Wesen wieder geboren wird. Umgekehrt trägt jeder, der Verdienste sammelt, Bausteine für eine Potenzierung der Willensfreiheit zusammen. d) Escbatologie; Seele, Sünde, jenseits Standen bei der Ethik die drei Schlüsselbegriffe höchstes Gut, richtiges Han— deln und Willensfreiheit im Vordergrund, so sind es hier die Stichworte Seele, Sünde und jenseits. Wohin geht der Mensch? Da keine asiatische Religion ernsthaft vom Wei terbestehen des Körpers ausgeht (einige Mumifizierungsbräuche im frirhen China bestätigen hier als Ausnahme die Regel), lautet die Frage also: Wohin geht die Seele? Wobei sogleich wieder die buddhistische Frage auftaucht, ob es überhaupt eine Seele gibt. Stellt man die verschiedenen Religionen einan» der gegenüber, so gewinnt man sogleich ein kontrastscharfes Grobrast'er: Für Christen und Moslems hat die Seele einen zeitlichen Anfang, aber kein Ende, für Buddhisten keinen Anfang, aber ein Ende, für chinesische Univer- sisten (Daoisten und Konfuzianer) entsteht und vergeht sie wieder; für Vislr nuisten und Shivaisten schließlich hat sie weder einen Anfang noch ein Ende, sondern besteht ewig. Wohin gelangt die Seele nach dem Tod? Christentum und Islam haben ihre Lehre vom Letzten Gericht sowie von den ewigen Himmel— und Höllenstra- fen. Auch der Hinduismus kennt Himmel und Hölle, doch handelt es sich hier, anders als bei den westlichen Religionen, nicht um «Endstationen, son» dem nur um Zwischenhaltestellen», auf denen die Seele eine Wartezeit 7u« bringt, ehe sie ihre Wanderung zu einer neuen Existenz wieder fortsetzt”. Wie sich die Vergeltungskausalität (Karma) auf die nächste Existenz aus» Wirkt, wird in den Shastras, vor allem dem Gesetzbuch des Manu, höchst drastisch veranschaulicht, z.B.: «Wenn man Korn stiehlt, wird man eine Ratte; Bronze, eine Wildente; Wasser, ein Wassertier; Honig, eine Mücke: V Was Asiaten glauben: Religzon und Frömmigkeit 229 Milch, eine Krähe; Süßigkeiten, ein Hund; Fleisch, ein Geier; ...ein Brah- man€‚ der Alkohol trinkt, geht in den Mutterschoß v0n Würmern, Regen— würmern und Insekten und von Vögeln ein, die sich von Exkrementen er; „ähren. Kasten, die von ihrer Berufstätigkeit abweichen, ohne daß eine hö— here Gewalt sie dazu zwingt, werden, nachdem sie einen üblen Kreislauf durchwandert haben, Diener bei den Barbaren . . .”. Eine endgültige Erlösung findet, nach vedischer Lehre, durch Vereinigung des Atman (der Einzelseele) mit dem Brahman (der Weltseele) statt. Drei Wege sind es, die den Gottsucher dorthin bringen, nämlich entweder der Weg des Rituals und der permanenten «Reinigung» oder der Weg der (my— stisch zu vollziehenden) Erkenntnis (von der Einheit des Atman mit dem Brahman) oder aber der Weg der vertrauenden Gottesliebc (bhakti), wie er von den theistischm Erlösungsreligionen des Vishnuismus und des Shivais— mus gepredigt wird Alle Wege führen letztlich zu «Gott». Ideal wäre es (nach den Aussagen des Philosophen Vivekananda), gäbe es so viele Religio' nen und Erlösungswege wie es Menschen gibt; der höchste Weg freilich führt über die Erkenntnis, die nicht mit bloßem Verstand, sondern durch das mystische All—Einheits—Erlebnis erreicht wird. Vergeltungskausalitiit ent— steht nur so lange, wie das Atman vom Brahman getrennt ist. Sobald die Wiedervereinigung (das «samadhi»: Einssein) erreicht ist, hört auch die Er‘ zeugung von Karma auf, der Kreislauf geht zu Ende, die Erlösung ist er— reicht; ähnlich in der javanischen Mystik, wo das Aku («Selbst») in Harmo— nie mit dem Gusti («All—Einen») kommen muß, wobei ein in das «Selbst» gepflanztes «Gespür» (rasa) den richtigen Weg weist. Wer dieses «Gespür» durch Askese und Meditation schärft, bewegt sich zunehmend von der «gro— ben Welt» (wadag) weg — hin zur «Menschwerdung» (dadi wenng) und schließlich zur Erlösung“. Fiir Vishnuisten und Shivaisten erfolgt die Er— lösung weniger durch eigene Anstrengung als vielmehr durch göttliche Gnadenerweise. Im Mahayanabuddhismus und (späteren) Daoismus geht die Einzelseele in den «Westlichen Himmel» oder in Höllen ein, die, im Gegensatz zum Hinduismus, den Charakter von «Endstationen» haben. Im Theravadabud— dhismus andererseits gibt es weder Himmel noch Hölle, sondern nur das Nirvana, das definitionsgemäß einen Ausstieg aus dem leidvollen Kreis der Wiedergeburten bedeutet. Im chinesischen Universismus (Begriff oben 5.41) findet ein Entstehen und Wiedervergehen der Welt nach dem Gesetz der Yin—Yang—Dialektik Statt. Für himmlische oder liöllische Endstationen ist in dieser Lehre kein Platz; kein Wunder, daß der einfache Gläubige sich den Verheißungen vom «Westlichen Himmel» zuwandte. Erlösung besteht also entweder im ewigen Verweilen («Himmel» oder «HöllC») oder aber — bei den Zeitlosigkeitsreligionen — im Verlassen des Rades der Wiedergeburt, sei es nun, daß das Individuum im Nirvana «ver— » 230 Asmtische Gesellschaften und Verba/tensstile lischt» (Theravada) oder daß die Einzelseele in die Allseele eingeht (Hinduis mus). In allen indisch beeinflußten Religionen ist der Tod nur ein Durchgang» stadium zu einer neuen Existenz -— ganz im Gegensatz zu den Auffassungen der Kleinen 'l't'adition Chinas, die den Tod als ein endgültiges — und schrel« kenerrcgendes — Ereignis begreift, das mit langen Trauerfeiern einhergeht und über das man allenfalls durch die Hoffnung auf das «Westliche Paradies. hinweggctröstet wird. Unter diesen Umständen läßt sich kaum ein stärkerer Unterschied denken als die Einstellung gegenüber dem Tod in der chinesi— schen und in der indischen Tradition: hier der Wunsch nach «langem Leben» (shou), Angst vor dem Tode, lange Trauerzeiten und Ahnenkult, dort Gleichmut gegenüber dem Ende, Überantwortung der Asche des Verstorbe— nen an «heilige» Flüsse und Verzicht auf Gräber oder Ahnenkult. Welche Kriterien nun entscheiden darüber, ob die Seele «erlöst» oder aber (zur Hölle bzw. zu ständiger Wiederkehr) verdammt wird? Hier kommt jene Vorstellung ins Spiel, die im Christentum «Sünde» genannt wird. Höchst verschieden sind in Asien allerdings die Formen, in denen Sündhaf tigkeit zutage tritt. In manchen Religionen, z.B. im Shintoismus und im Hinduismus, ist sie bloße Beschmutzung — Berührung von Unreinen oder vielleicht sogar nur das Gebissenwerden von einer Schlange. Durch Gegen— zeremonien gilt es, diese «sündhafte» Verunreinigung wieder hinwegzus'a'u» bern. Im allgemeinen muß allerdings zu der objektiven noch die subjektive «Verschmutzung» hinzukommen, d. h., eine Handlung muß, wenn sie sündhaft sein soll, auch vom Vorsatz und vom Bewußtsein der Sündhaftig keit getragen sein. Eng mit dem Sündenbegriff hängt die Frage nach der Sün- denursache (böser Wille, angeborener Irrtum, Erbsünde oder Verblendung?) zusammen. Das Christentum wertet bekanntlich die Erbsünde und den mangelnden Willen zur Gotteskindschaft als Grundursache der Sünde, wäh- rend Hinduismus und Buddhismus demgegenüber die mangelnde Erkennt— nisfähigkeit fiir ausschlaggebend halten. Dem Christen muß es daher vor alv lem auf Verbesserung seiner Vorsätze, dem Hinduisten/Buddhisten dagegen auf Schärfung seines Wissens und seiner Unterscheidungsgabe ankommen. Zum einen lassen sich Sünden durch die Reinigung mit «heiligem Wasser» tilgen: Man badet in geweihten Flüssen, so z.B. in der dem Haupt des Shiva entsprungenen Ganga, um auf diese Weise den feinen Sündenschmutz zu entfernen. Gangespilger pflegen das von Exkrementen und Leichenverbren— nungen äußerlich verunreinigte Wasser sogar zu trinken, um auf diese Weise innere Reinigung zu erlangen. Sündentilgende Wirkung hat auch das Her- sagen von Gebeten und Litaneien — man denke an die Gebetsstürme im Amidabuddhismus — oder aber das Ansammeln «guter Werke» im Theme Vadabuddhismus. Im Mönchtum der ]ainas und der Buddhisten sowie bei den Daoisten spielen Beichten eine Rolle, bei den Jainas sogar die Ohren» beichte. F V. Was Asiaten glauben: Religzon und Frommig/eeit 231 Genügen aber am Ende solche Reinigungszerernonien.> Genauer: Kann der Men8Ch sich aus eigener Kraft erlösen, oder ist er auf höhere Gnade angewie_ sen? _ Das Christentum lehrt bekanntlich, daß die Menschheit infolge der Sünde Adams ihren Gnadenstand verloren hat, also nur durch die Erlösungs_ tat des Gottessohns gerettet werden könne. Durch diese Prämisse von der ursprünglich schlechten Natur des Menschen hebt sich übrigens das Chri— stentum) genauso wie Hmdu1smus, Ja1m.smus oder Buddhismus, von anderen asiati5Chen Religionen ab, die das Leben im l)iesseits keineswegs als unvoll- kommen und als bloßes Durchgangsstadium betrachten; vor allem der Uni- versismus, der Daoismus und der Shintoismus haben etwas durchaus Diessei— tiges‚ Fröhliches und Lebensbejahendes; in der konfuzmmschen Lehre gilt der Mensch als von Natur aus gut — und er kann SlCl'l sogar vervollkommnen. Völlig abhängig von der Gnade Gottes glauben sich die Mohammcdaner, aber auch die hinduistischen Bhakti—Sekten, die sich Gnade durch liebende Ergebenheit gegenüber Vishnu erflehen. Auch der Buddhismus ist in seiner Mahayana-Form zu einer typischen Gnadenreligion geworden, Man betet zu Guanyin (jap.: Kannon) oder Emituofo (jap.: Antida) um Gnade. Auch der daoistische Gläubige wendet sich an eine Fülle von Spezialgöttern, die den europäischen Schutzpatronen des Mittelalters vergleichbar sind und für jeden Zweck bereitstehen, sei es nun für Prüfungs— und Geschäftserfolg oder aber für Mutterglück. Das Guanyin—Schcma hat also auch hier Nachahmung gefunden! Als Gegenleistung für erwiesene oder erwartete «Gnade» bietet der pragmatischc Chinese im allgemeinen Opfergeld, Nahrungsmittel, Klei- dungssymbole oder das fröhliche Prasseln von Knallfröschen an. Ganz im Gegensatz zu den vorgenannten Religionen ist das Theravada die klassische Religion der Selbsterlösung. Die Lehren für den einzelnen Laien lassen sich in folgende Worte kleiden: Versetz dich in die Nachfolge Bud— dhas, des Erleuchteten, der dir einen möglichen Selbsterlösungsweg vorge— lebt hat und der nicht ein Gott, sondern ein menschliches Vorbild — für dich — sein wollte. Schau auf die Tempelmalereien mit den zwölf Stationen seines Lebens und den 500 Stationen seines Vorlebens («jatakas») — und lern dar— aus! Achte auf die Erläuterungen der Mönche und vergiß nie: Du bist dein Eigener Schöpfer, dein Erlöser und dein Verderber. Es gibt kein Schicksal au— ßer dir! Es gibt auch (anders als im Christentum oder im Mahayana) keine Vergebung (Gnade), sondern nur Vergeltung nach dem Maß der Verdienste oder der Unterlassungen! Dies sind herbe Gebote, die den Laien zumeist überfordern, so daß er sich in aller Regel ein zweites religiöses Standbein 5UCht und sich dem Animismus mit seinen zahlreichen Ritualen und emotio— nalen Angeboten zuwendet. Sieht man einmal vom Mahayana und von einigen Bhakti—Religionen ab, 50 gibt es auch sonst in den indischen Religionen keine Gnade und keine Fremd—, sondern nur die Selbsterlösung. jeder war und ist Schmied seines Glücks. Das Karma ist unerbittlich und kennt kein Pardon. jede Tat ist Same 232 Asiatische Gesellschaften und Verhaltenssiile für künftige Verkörperungm. Dharma, Karma und Samsara hängen aufs engste miteinander zusammen. Für den chinesischen Universismus anderer— seits ist das Problem der Sünde und der Sündentilgung irrelevant geblieben. Wer sich nicht an die Regeln hält, bringt die «Entsprechungen» aus dem Lot und wird zur Rechenschaft gezogen — allerdings durch die «weltliche In— stanz»! Die marxistischen Tröstungen (etwa Maos «Bald werde ich bei Marx im Himmel sein») haben dagegen keinerlei Attraktivität entfalten können. e) Ritual und Frommsein Die Gewichtung zwischen den drei Hauptkomponenten Glaube, Moral und Ritual fällt bei jeder Religion anders aus. Während die Religionsphilosophie Kants vor allem auf die Moral, der Islam und der christliche Protestantismus dagegen hauptsächlich auf den Glauben abstellen, zeigt sich in den meisten asiatischen Religionen eine Vorliebe für das Ritual. Wer einmal an einem sonnigen Nachmittag die Shwedagon in Rangoon oder den Drachenberg tempel in Taibei besucht hat, weiß, was hier gemeint ist: In Rangoon über— gießt man die «unter Hitze leidenden» Buddhastatuen mit kühlendem Was— ser und vollzieht heiter schwatzend die Umwandlung der Chedi. In Taibei steckt man Weihrauchkerzen vor dem Bild des Examens— oder des Reich— tumgottes in Brand, breitet auf dem Opfertisch seine Gaben aus, um den Göttern die Essenz anzubieten, unterhält sich unterdessen mit Freunden und nimmt dann das Ganze zum Selbstverzehr wieder nach Hause. In Thai— land oder I‚aos beklebt der Gläubige Buddhafiguren mit Blattgold, spendet Weihrauch, bringt Blumengaben, schlägt auf eine Glocke, um auf diese Weise ein «Musikopfer» zu erbringen, schenkt — für einen geringen Betrag .- einem gerade noch im Käfig eingesperrten Vogel die Freiheit, worauf dieser kurze Zeit später wieder vom Händler eingefangen und erneut zur «Befrei— ung» angeboten wird — die meisten Andachtshandlungen eines buddhistk schen Laien erschöpfen sich im Ritual, das weit weniger anstrengend ist als stundenlange Meditation über die Leiderfülltheit allen Seins. Inneres Frommseiri: Gebet und Versen/eimg Inneres Frommsein vollzieht sich vor allem durch Andachten und Gebete sowie durch Meditation und Versenkung, wobei sich das Gebet mehr an ei- nen persönlichen Gott, die Versenkung dagegen sowohl an ein personales Wesen als auch an ein unpersönliches Göttliches wendet. Das tägliche Gebet ist fest verankert in der fünfmaligen Tagesandacht des Islam, die sich im heißen Süden zumeist im Freien vollzieht und damit der «sozialen Kontrolle» unterliegt. Bei den Gebetsübungen sind bestimmte Formeln zu sprechen und rituelle Körperhaltungen anzunehmen, die beim frommen Muslim vom Stehen über das Verbeugen bis zum Flach—auf—dem- Boden—Liegen reichen. Bei den meisten asiatischen Völkern zieht man wäh» W V. Was Asiaten glauben: Religion und 1-‘romrnigleeit 233 rend des Betens die Schuhe aus; Hindus, Buddhisten, Christen und Moham— medarlef verwenden einen Rosenkranz. Bei manchen Religionen, wie z.B. dem Amidabuddhismus, beschränkt sich die Andacht geradezu auf repeti- tive Anrufungen, die nicht nur mündlich, sondern auch schriftlich erfolgen — man denke an die tausendfache Wiedergabe des kalligraphischen Schriftzugs «Nanwu Emituofo» (Verbeugt Euch vor Amithaba Buddha), die ganze Waldpilgerwege säumt. Auf die Spitze Wird das formelhafte Gebet im La- maismu5 getrieben, wo gewisse magische Mantras (am berühmtesten das «0 Mani padmehum») sogar mechanisch «in Gang gehalten» werden, sei es nun in Form der vom Gläubigen zu drehenden Gebetstrommel oder aber von keimsilben—übersäten Fahnen und Schriftbändern, die auf Bergpässen oder vor Tempeltüren im Wind flattcrn. Für viele Europäer wirkt dies fast «unre— ligiös». Das Weihrauchkerzen—Anstecken, das Verbrennen von Göttergeld oder gar das lässige Schwingen einer tibetischen Gebetstrommel erfordert ja keinerlei Anstrengung und sieht überhaupt nicht nach Arbeit und Pflicht aus — von «konzentrierter Andacht» ganz zu schweigen. Jedes Kind würde so etwas mit Freuden tun. Von ganz anderer Art — und im «meditierenden» Asien unendlich weiter verbreitet als im «reflektiercndcn» Europa —- ist die mystische Versenkung, die darauf abstellt, den Dualismus zwischen Ich und Du, zwischen Mensch und Gott oder aber zwischen Individuum und einem (als unpersönlich ge— dachten) Göttlichen zur Unio mystica hin aufzuheben, d.h. selbst zum Du, zum Gott oder zum Göttlichen zu werden, und sei es auch nur für einen Augenblick (Näheres dazu oben S. i89ff.). In Asien gibt es zahllose Mysti- kerschulen, sei es nun im Hinduismus (hier genüge das Stichwort Yoga), im Daoismus, im Mahayana (man denke an die Zhan— und Zen—Schulen), aber auch im Theravada (in Birma beispielsweise sind zahlreiche Tempel mit Me— ditationszellen für Glaubige ausgestattet) oder im javanischen Kulturkreis, wo die Mystik sowohl zur Zeit des Hinduismus und des Mahayana als auch in den nachfolgenden islamischen jahrhunderten kräftig Wurzeln geschlagen hat. Kaum jemand in Asien zweifelt daran, daß der Mensch als Ganzer durch Einswerden mit dem Brahman, mit dem Dat) oder mit der Leere der Buddhanatur religiös weitaus stärker «ergriffen» und zu intensiveren Levi- tations— und Erleuchtungserlebnissen erhoben wird als durch einen noch so genial ausgezirkelten thomistischen Gottesbeweis. Gewiß gab es in Europa ebenfalls eine eindrucksvolle mystische 'I‘radition: Meister Ekkehard, Johan— nes Tauler und Hildegard von Bingen A für einen modernen Europäer frei— lich ist Meditation in sehr weite Ferne gerückt, läuft sie doch im wesentli— chen darauf hinaus, das eigene Ich auszuschalten, sich nur noch «ereignen zu lassen» und sich einzuschwingen auf das klangvolle Strömen eines reinen KIiings, der etwa von einem Gong ausgeht, oder auf ein Mantra, etwa das AUM (mit dem christlichen «Amen» verwandt), das den ganzen Raum V0n der Kehle bis zu den Lippen durchläuft, den gesamten Stimmbereich z_;4 Asmtm‘be Gesellschaften und Verballenssti/e umfaßt und sich klanglich variieren läßt, z.B. «Ahhhuuuummmm» oder «Ahhhhummmm» oder «Ahummmm». Sein Ich aufgeben? Mit einem Gro» ßen Umfassenden verschmelzen? Geräusche nicht aktiv hören, sondern sie einfach auf dem Trommelfell spielen lassen? Das Gestern und das Heute vergessen und ganz im ewigen jetzt aufgehen? Dies alles fällt einem höchst individualistisch aufgewachsenen westlichen Zeitgenossen offensichtlich ziemlich schwer, zumal er sich unter Meditation wenig vorstellen kann: Medi— tationserlebnisse lassen sich ja nicht begrifflich, sondern nur durch Nachvoll zug vermitteln. Es dennoch zu versuchen, wäre ein ähnliches Unterfangen, wie einem Blindgeborenen die Farbe Dunkelblau zu beschreiben. Die meditativen Techniken der Mystikschulen ähneln sich, wie vor allem beim Vergleich der Zen— und der Ekkehard-Tradition deutlich wird, in er— staunlichem Maße. Einzelheiten können hier nicht beschrieben werden, zu mal es dafür mittlerweile eine umfangreiche Spezialliteratur gibt”. Wesent— lich für das Gelingen sind eine ganz auf die innere Stimme konzentrierte, am besten asketische Lebensweise (weshalb sich ja gerade das daoistische und buddhistische Mönchtum um die Meditation besonders verdient gemacht hat), ferner gewisse Körperhaltungen (Asanas) und Atemübungen (Prana_vm mas), des weiteren das Murmeln (ursprünglich magischer) meist einsilbiger Formeln (Mantras), die im allgemeinen nasalartig enden, z. B. «Aim», «Hrim» oder «Khim». Durch eine ständige Wiederholung solcher Silben sollte die Gottheit ursprünglich gezwungen werden, dem Sprechenden dienstbar zu sein. In den ostasiatischen Tempeln sind die Hauptzugaugstore von muskelstrotzenden Riesen flankiert, von denen der eine den Mund zu einem «A» aufreißt, während der andere die Lippen zum lange hingezoge nen Laut «M» zusammenpreßt * eine drastische Wiedergabe der klassischen Grundsilbe AUM, des «A und 0» der Mahayana—Lehre. Verschiedene indie sche Meditationsschulen unterscheiden sich z.T. nur durch ihre jeweiligen Mantras, die zumeist als Geheimnis gehiitet werden. Um «leer» (d.h. vom Ich befreit) zu werden, gibt es eine Anzahl von Techniken, wie sie vor allem von der Yoga—Schule zur Perfektion entwickelt Wurden, so z. B. die Fixierung der Gedanken auf ein bestimmtes Körperteil (Nabel, Nasenspitze) oder auf ein äußeres Symbol (z. B. auf ein Mandala}. Vollzug bestimmter Mudras (Fingerhaltungen), absichtsloses Lauschen auf einen reinen Klang (Gong), Verbrennen von Weihrauch, wodurch der Ge- ruchssinn angeregt wird — das in Europa wohl am meisten tabuisierte W’ahr- nehmungsorgan, konzentriertes Abzählen der 108 Perlen des Rosenkranzes u.dgl. Erreicht werden soll nicht etwa eine Art «Yoga—Schlaf», sondern im Gegenteil ein Zustand hellster \Wachheit: lichtvolle Klarheit bei gleichzeiti ger Ausschaltung des Ich. Dies ist ein nach westlichen Bationalitiitskriterien kaum begreifbarer Zustand, der freilich mittlerweile in der westlichen Welt Zum Faszinosum geworden ist, weil sie unter der Überbetonung des Ver- Standlichen, unter Entfremdung und ldentitätskrisen leidet. Da der mysti— W——— V. Was Aszaten glauben: Religion und Frömmigkeit 23; sche Weg freilich nur erfolgreich sein kann, wenn man sich selbst «anjocht» Wie das Wort «Yoga» ursprünglich zu übersetzen war, bleibt die mittlerweile modisch gewordene Meditation im Westen häufig eine bloße Alternativ— und Ausstiegsdroge. Versenkung findet nicht nur in Klöstern und unter Anachoreten statt, s(‚ndern hat auch im höchst weltlichen Betrieb Anhänger gefunden. Ein me- ditativ vorbereiteter Maler zeichnet z.B. nicht irgendeine Blume, sondern verwirklicht sich selbst als Blume — und dies nach langer Konzentration und in einer plötzlichen Explosion des künstlerischen Tuns. Beim Blumenstek— ken, also dem mittlerweile auch bei uns populären Ikebana, arrangiere nicht ich eine Blume, sondern ich arrangiere «mich» in dem Blumengesteck. Ein Samurai, der den Weg des Zen gegangen ist, benutzt nicht sein Schwert, son— dern wird selbst zum Schwert. Beim japanischen Bogenschießen, das Albert Herrigel so einfühlsam beschrieben hat, kommt es nicht darauf an, daß ich mit dem Pfeil als Objekt ein bestimmtes Ziel treffe, sondern daß ich, als Sub— jekt, selbst zum Pfeil werde. Hier erfolgt also erneut eine Anknüpfung an das oben im Zusammenhang mit der asiatischen Erkenntnistheorie (oben 5. I89ff.) bereits beschriebene «Innewerden». 7 Äußeres Frommsein: Das Ritualwesen in Asien Am eindrucksvollsten kommen religiöse Rituale in hinduistischen Tempel- kulten zum Ausdruck, die bis ins letzte stilisiert sind und sich von Ort zu Ort unterscheiden. Im allgemeinen lassen sich aber fünf Grundbestandteile unterscheiden: Einladung an die Götter, Opferdarbringung, Anbetung, Un— terhaltung und Heimsendung der Götter Während der Christ seinem Gott vor allem als Sünder und der Muslim Allah als Sklave entgegentritt, begegnet der Hindu seinen Göttern hauptsächlich als Gastgeber und zwar bei häus— lichen Gottesdiensten ebenso wie bei den Tempelfeiern. Nachdem oft Tau— sende von Menschen sich an den Vorbereitungen zum Fest beteiligt haben, spricht der Tempelpriester die feierliche Einladung aus. Im hinduistischen Bali werden zu diesem Zweck die steinernen Throntürme mit Blumen— arrangements ausgepolstert; die «Gästeräume» und Tische sind mit blumen- geschmückten Opferarrangements hauptsächlich eßbarer Art ausgestattet, damit sich die geladenen Gottheiten daran gütlich tun können. Während des gesamten Festes kommen die Gläubigen lächelnd und mit den schönsten Kleidern angetan zu Tausenden nacheinander in die heiligen Hallen A oder, Wie in Bali, in den mauerumsehlossenen Tempelfreiraum und beten die vor ihnen thronenden Götter an, wobei sie zumeist Blüten streuen oder Licht— Opfer darbringen. Sie werden von den Priestern mit Weihwasser besprengt Und zum Abschluß der Andachtsübung mit einer farbigen Paste zwischen den Augenbrauen betupft. Zum Amüsement der Götter während der oft mehrere Tage dauernden «Puia» werden Tänze, Theaterstücke und Musik- nllmmern dargeboten, erfolgen bei Dunkelheit Lichterumzüge und werden Asiatische Gesellscbaften mid Verbaliensslt/e 236 die göttlichen Gäste schließlich in Sänften zum nahe liegenden Fluß gebracht, wo sie ein Bad nehmen können. Am Ende der Puja nehmen die (;laub1gen von ihren himmlischen «Gästen» Abschied und räumen dann gemeinsam wieder die Opferarrangements ab. In manchen indischen Großtempeln findet nach ähnlichem Schema fast jeden Tag ein Kult zugunsten des Hausgottes statt, wobei er genauso behandelt wird wie ein altindischer Maharaja. In hinduistischen und. buddhistischen Andachtsstätten kommt im übrigen ein Element zum Tragen, das der Geist des Protestantismus aus dem \X’esien fast ganz vertrieben hat, nämlich der Geruchssinn. Kein Tempel, keine Ati—. dacht und keine Puja, bei der nicht ständig die verschiedensten Sorten von Weihrauch, angefangen von Sandelholz über den Zunder bis hin zum Aloe. holz, verbrannt würden. Den Worten des Zen—Meisters Suzuki zufolge igi der «Duft des Gingko» der «Duft des Buddhismus». Die daoistisehen Schreine und buddhistischen Tempel in Cholon, dem Vorstadtbeyirk S.ii» gons, sind von der Decke her mit riesigen We1hrauchspiralen behlingt, .ln denen sich die Glut tagelang duftspendend entlangfrißt. In der buddhistischen Welt ist der Reliquien—, Statuen- und Wallfahrtskult besonders ausgeprägt. Gemäß buddhistischer Überlieferung sind jene Reste der sterblichen Hülle Buddhas, die nach der Verbrennung noch iibriggelvliw ben waren, von Anhängern des Frleuchteten gesammelt und in “SIUPASV (Reliquienschreine) feierlich bestattet worden, die der Gläubige seit damals zur Bekundung seiner Andacht feierlich umwandelt. mit Blumen übersehiin tet und vor denen er Hymnen singt und Gebete aufsagt. Die Grabhügelstupa wurde zur Urform der buddhistischen Baukunst, die sich vom stunipfen Hügel bis hin zur ostasiatischen Pagode entwickelte Von überragender Be— deutung auch der Statuenkult, der unten noch zu beschreiben ist. Zu einem Kernstück des Buddhismus wurden auch die Wallfahrten zu den vier mehr tigsten Orten des Heils: wo Buddha geboren wurde (Capilavatsu am Hima— laya), wo er die Erleuchtung empfing (Bodh Gava), wo er das «Rad der Lehre in Bewegung setzte» (Sarnath bei Benares) und wo er ins Nirvana ein— ging (Kusinara). Auch im Hinduismus ist der Statuem und Wallfahrtskult außerordentlich lebendig — heiligster Ort aller Pilger ist der Berg Kailash im Himalaya. den der Gläubige in tagelangen Fußmärschen umwandelt, aber auch die Rewe zur heiligen Ganga. Im Islam gibt es zwar keinen Statuenkult, wohl aber ein ausgeprlighf\ Wallfahrtswesen, das freilich nicht nur nach Mekka, sondern hauptsacliln‘h Zu den Gräbern zahlreicher «Apostel» führt, die die Lehre des Propheten u.a. in Pakistan und in Indonesien verbreitet haben. Unter der Hand vs urde dieser Wallfahrtskult auch zu einem nach islamischem Selbstverständnis .m und für sich unzulässigen Reliquienkult. Auch in Ostasien gibt es zahlreiche Pilgerorte, wobei die «fünf heiligen Berge» in China, einige buddhistische Großklöster sowie shintoist1sche llUl" V. Was Asiaten glauben: Religion und Frömmigkeit 237 ligtümer wie der Berg FUii und das Ise—Heiligtum in japan besonders beliebt sind. Für den gläub1gen Lama—Buddh13ten ist nach wie vor Lhasa der Mittel- Punkt aller Pilgerwünsehe. Dort umwandelt er die Kathedrale des Lamai5- mus, den ]okhang, auf einem doppelten, jeweils etwa einen Kilometer lan- gen Pilgerwegi dabei stand1g Gebets_trommeln drehend und Gebete mur— melnd- Manche Pilger werfen Sich bei jedem Schritt flach zur Erde, vollzie- hen dort eine rt;3cltzjrnde Gebetsbewegung, erheben Sich Wieder und gleiten n erneut zu 0 en. da%ur äußeren Frömmigkeit gehören auch die Alltags—, Feiertags— und Sm- [ionsrituale. Die Asiaten kennen zwar keine Sabbat—Heiligung, wohl aber eine Alltagsheiligung. Der fromme Muslim beispielsweise verrichtet sein fünfmaliges Tagesgebet, der fromme Hindu nimmt vor Sonnenaufgang das rituelle Bad, hält eine Morgenandacht mit Rezitationen und Wasserspenden an die Götter und Hausidole, wirft zu Mittag «reine» Nahrung in das dem Gott Agni heilige Feuer und befleißigt sich auch sonst zahlreicher Reini— un szeremon1en. g \läeitaus wichtiger sind die in ganz Asien gefeierten Vollmondfeste, die so— wohl eine religiöse als auch eine soziale Funktion haben, insofern sie die Menschen für mehrere Tage zu einem freudigen Anlaß versammeln. Hierbei werden häufig Konflikte geschlichtet, und auch sonst kommt es zu einem «großen Reinemachen», sei es, daß man in den Tagen vor Mondneujahr den Hausputz durchführt oder aber seine Schulden begleicht, daß die Haus— und Küchengeister den höheren Göttern den jährlichen Endstand der guten und bösen Taten einer Familie mitteilen oder daß die Gui (Dämonen) mit Feuer— werk, Drachen— und Löwentänzen samt greller Musik ausgetrieben werden. Nicht zuletzt aber kommen bei solchen Festen auch die Familien zusammen. In neuerer Zeit wird chinesisch Neujahr/Ta auch als Anlaß zum gemeinsa— men Bäumepflanzen betrachtet — eine Anordnung, die z. B. in Vietnam auf Ho Chi Minh zurückgeht. Im metakonfuzianischen und im theravadabud— dhistischen Asien stehen drei Feste im Mittelpunkt, die gleichsam Archetypen des Reisbauernlebens sind, nämlich das Neujahrs—, das Allerseelen— und das Wasserbannungsfest, das zumeist in der gefährlichen Zeit des Hochwassers abgehalten wird und der Versöhnung der Flußgeister dient. In China finden am Drachenbootfest Ruderwettkämpfe statt, in Laos und Thailand dagegen werden beim «Loy Kratong» unzählige mit Blumen, Münzen und brennen— den Kerzen beladene Bananenblattschiffchen als Opfer an die Flußgeister ausgeschickt — eines der bezauberndsten Feste Asiens. Daneben gibt es Trockenmonatsfeste, in deren Verlauf Feuerraketen in den Himmel geschos— S€I_1 werden, um den säumigen Regengott an seine Pflichten zu erinnern. Nicht zu vergessen im Kreislauf des jahres auch die rein religiösen Festtage, 50 Z. B. Buddhas Geburts—, Erleuchtungs— und Todestag. Auch der Islam kennt zahlreiche Feste, die dem muslimischen Mondka— lerider folgen, darunter das Opferfest, Mohammeds Geburtstag, die Him— 238 Asiatisclu’ Gesellschaften und Verhall€m$fllf melfahrt des Propheten, den Fastenmonat Ramadan, vor allem aber das große Fest am Ende der Fastenzeit. In Indien gehören zu den Hauptjahresfesten der Herabstieg der Göttin Ganga (januar), Shivarati (Nacht des Shiva), Holi (Frühlings— und Liebes» fest, März), Rrislinas Geburtsfest (August), Ganeshas Geburtstag (Septem« ber), Durgapuja (Oktober) und Divali (Herbst- und Lichterfest, Novem— ber). Außerdem ziehen zahlreiche lokale Feste, darunter in Puri und Orissa, Millionen von Pilgern an. Besonders lokal verwurzelt sind vor allem die japanischen Matsuri, die mit einem für japaner ganz ungewöhnlichen Temperament begangen Wer» den. Während christliche Feste nach Möglichkeit alle Menschen mit ein— schließen sollen, ist das Matsuri ein typisch exklusives Ereignis, das jeden mann von der Teilnahme ausschließt, der nicht zum betreffenden Dorf oder zur betreffenden Danwei dazugehört. Eine gewisse Sonderstellung nehmen die Philippinen ein, bei denen fünf Feste im Vordergrund stehen, nämlich Weihnachten (für die Familie), «Fie— sta» (eine Woche nach Weihnachten mit Gemeindefeiern im Zentrum), Ostern (ein Verwandtschaftsereignis), die Maifcste (im Zeichen derjungfrau Maria und hauptsächlich der Festigung der Nachbarschaftsverbindungen ge— widmet) und Allerheiligen/Allerseelen (wieder ein Familienfest). Obwohl alle diese Feiern äußerlich katholisch inspiriert sind, brechen unterschwellig doch immer wieder prächristliche Elemente durch, vor allem am Karfreitag, wenn die Männer die Abwehr ihrer Anting—anting (Talismane) testen, wobei sich Talismanträger bisweilen sogar als Zielscheibe für scharfe Munition anf bieten, ein Brauch, der nicht selten fatale Folgen hat”. Neben Alltags; und Feiertagsritualen sind noch zwei weitere Zeremonien zu erwähnen, nämlich die Rites de passages (dazu Näheres unten S. 286ff.) sowie apotropäische Verrichtungen, die entweder durch Herbeirufung eines Magiers (in China: fengshui, in Malaysia: dukun), durch Versöhnungsopfer oder aber durch sogenannte Slametans bewirkt werden. Das vor allem in Java gebräuchliche Slametan ist ein zeremonielles Mahl, das die doppelte Funktion fiat, einerseits die Geister zu versöhnen und andererseits die Nach- barschaft an wichtigen Familienereignissen mitzubeteiligen. Slametans gehö— ren zu fast allen bedeutsamen Ereignissen, sei es nun, daß jemand eine Reise eintritt, daß er mit dem Bau eines neuen Hauses beginnt, daß ein Kind gebo— ren wird, daß eine Hochzeit stattfindet oder ein Familienmitglied beerdigt wird”. Ebenfalls ein wahrhaft aufwendiges Ritual begleitet den javanischen Feldbestellungsvorgang. Mit den Einzelheiten dieser Bubak—bumi—Zeremo» nie kann man mehrere engbedruckte Seiten füllen". Auch das Brauchtum der zumeist christlichen Bataker auf Sumatra ist rituell bis ins letzte ausg£“ fetlt und von üppigen Slametans eingerahmt ‚ von der Auswahl der Braut tiber die Heiratsanfrage und die Vereinbarung der Mitgift bis hin zur eigent’ llCh€n Hochzeitszeremonie, die aus nicht weniger als zehn Einzelvorg'a'ngen 77—— V. Was Asiaren glauben: Reli‘gzmz mit! I’rommi‘gleeit 239 besteht Rituale dieser Art dienen der Alltagsgt'staltung„ der Lebensheili— gung und gewahren emotionale Sicherheit. Wenn diese «Sicherungen» im Gefolge des Kulturwandels auszufallen begannen, würden wahrscheinlich islami5Che und andere «Fundamentalismen» die Lücken füllen! Über Staat und “KIYChCW sowie Priestertum wurde oben (5 125 ff.) schon ausführlich berichtet. 2. Die wichtigsten Religionen in Stichworten Gesamtdarstellungen zu den großen Religionen Asiens gibt es in Fülle“. Die meisten Beschreibungen bieten zwar einen guten Überblick zu den theoreti— schen Grundfragen, sie gehen jedoch wenig oder gar nicht auf die Praxis der Kleinen Traditionen sowie auf die moderneren Entwicklungen ein, z. B. den neuen Fundamentalismus im Islam. Die nachfolgende Darstellung soll — stichwortartig und in äußerster Raffung ‚ die Probleme skizzieren und auf gesellschaftlich relevante Fragestellungen eingehen, wie sie in den üblichen Darstellungen, so z. B. beim Daoismus, vernachlässigt werden. a} Die Religionen Chinas Allgemeiner Cham/eier Kaum religiöse Führer, dafür um so zahlreichere Religionsgemeinschaften und Laienbewegungen, zumeist im Danwei—Bereich (z.B. Tempelbauge— meinschaften); stark diesseitige Ausrichtung; Hauptakzent auf der Ethik. Die klassische Bezeichnung «Drei Religionen» (Buddhismus, Daoismus und Konfuzianismus) ist unzutreffend, da extremer Synkretismus: Basis ist die vom Konfuzianismus geheiligte Ahnenverehrung, um die herum sich daoi— stische und buddhistische Elemente kristallisiercn. Charakteristisch ist ferner die Wertschätzung des Diesseits, des Konkre— ten, des Maehbaren und * damit zusammenhängend * das (im Gegensatz zum indischen Denken so bemerkenswerte) Fehlen der metaphysischen Di— mension; ferner liegt die «Wahrheit in den 'I‘atsachen»: wahr ist also auch in der Religion nur das, was funktioniert. Eine Religion, die sich nicht auch schon im Diesseits bewährt, hat keine Chance. Konfuzianische Kulte, wie Opfer auf dem «Himmelsaltar», Opfer an die kaiserlichen Ahnen und Feiern zu Ehren des Konfuzius liegen in der Hand der Beamtenschaft (Ritenministerium und Provinzbeamten). Buddhistische M0nche halten regelmäßige Andachten und sind für die Beerdigungsriten zuSt?_ifldig. Zwei Kategorien von Daoisten—Priestern: Exorzisten, die vom D_30151_8n-«Papst» im Longhushan (Drachem und Tigergebirge) in der Pro— vmz J13ngxi bestallt wurden, und Eremitengemeinschaften (Kloster—Daois— "““), für die die «Dreihundert Mönchsgebote» gelten. 24o Analßfl)€ Gesellschaften und Verhaltensstile Konfuzianismus und Daoismus Zum Konfuzianismus vgl. oben S. 144, zum Metakonfuzianismus vgl. S. 153f., i60. Der Daoismus ist eine «Lehre» (xiao), die sich aus vier Schichten aufbaut: I. Urdaoismus: eine — spirituelle — Lebensversicherung der Bauern gegen Unwetter und Dämonen, gegen den Zorn des Himmels und der Wind—Wasser— Geister, die es zu bannen gilt. Dieser Grundbestand durchläuft in einer An «darwinistischem Ausleseprozeß» drei schwere Herausforderungen, die pr'a! gend werden. Den Daoismus versteht man am besten, wenn man weiß, gegen welche philosophischen und religiösen Hauptgegner er zu kämpfen hatte. 2. Auseinandersetzung mit dem Konfuzianismus führt zur Ausformulie— rung des Ideals der Passivität, des Eremitentums und des heiter-en(!) Ver— zichts auf weltlichen Einfluß. Wer (wie die Konfuzianer) Sittengebote ein— führt, bringe damit auch das Unsittliche, wer Recht erläßt (so die Legali— sten), auch Unrecht in die Welt. Daher: «Nicht handeln» (wuwei) und «sich verhalten wie das Wasser», das weich und widerstandslos dahinfließt, aber am Ende doch alles an Stärke übertrifft. Wer sich an dieses «Dao» (Weg) des Wassers hält, (d.h. mystisch zum Dao wird), ist ein Weiser, ein «Unsterb licher» (xian), der frei durch die Lüfte schwebt und in überströmendem Glück «wesentlich» ist. Er ist Teil des großen Yin—Yang geworden. Voraus setzung: Strenge Diät, Atem— und Meditationsübungen. }. Auseinandersetzung mit den Rhetorikern (4. vorehr. ]h.) führt zur Schärfung der Begriffe. Der erste Satz des Daodejing besagt, daß das Dao. wenn man es als «Dao» bezeichnet, schon nicht mehr das wirkliche Dao ist. Gut und Böse, Leben und Tod dürfen nicht «begrifflich» festgenagelt, son- dern müssen mystisch erlebt werden. (Vgl. die Schmetterlingsparabel des Zhuang Zi, 5. 197 f.). 4. Schwerste Krise des Daoismus bei Auseinandersetzung mit dem um 65 n. Chr. aus Indien eingeführten Buddhismus. Um überleben zu können, wird der Buddhismus in vielem nachgeahmt: daoistische Göttertrias, Him- mel und Höllen, Daoisten—Liturgie, eine daoistische Statuenkunst, die alte chinesische Gelehrte und Heroen als Götter und Schutzpatrone präsentiert; Xiwangmu (die königliche Mutter im Westen) wird zum Gegenstück der buddhistischen Gnadengöttin Guanyin, der «Schrein» (guan) tritt neben den buddhistischen Tempel (si) usw. Während das Mandarinat die Gestalten des Pantheons nicht anbetete, son— dern sie als sittlich vorbildhafte Gestalten aus der Geschichte gelten läßt, be- trachtete das Volk die Heroen—, Gelehrten— und Buddhastatuen als Götter Zum Anfassen, denen man seine Sorgen anvertraut und die man, wenn Sie nichts taugen, notfalls auch wieder absetzen kann. Für den Bauern ist der D30ismus (und der Buddhismus) ein Dienstleistungsunternehmen, von dem er Sozial— und Ernteversicherung, metet)rologische sowie astrologische Deu- tungen und Voraussagen, ärztliche Hinweise und seelische Tröstungen in ei- Y V. Was Asiaten glauben: Reltgirm und I’mmngk„„ 241 nem erwartet. Er unterscheidet zwischen den «Drei Religionen» nicht nach Dogma, sondern nach Nützlichkeit: I.)enhlxalenderdienst besorgt am besten das konfuzianische Beamtentum, die Bekampfung von Krankheiten, Unfäl- len und Pestilenzen der Damsten—Itxorzist, die Bestattung und das Totenwe— sen der buddhistisc‘he Mönch. Nützlichkeit l\t’l‘rt1114pll Zweckmäßigerweise respektiert man die }} buddhistischen und & daoistischen HirnmcL fürchtet sich vor den 18 buddhistischen und damsnsehen Hollen, vermeidet Feld— arbeit an «Schafs— und Tigertagen», läßt Sich die Träume deuten, die Hand lesen, die Zukunft voraussagen, verehrt seine Götter, indem man ihnen Weihrauch, Nahrungsmittel und «Göttergeld» opfert, und veriagt Dämo— nen, indem man Knallfrösche abbrennt. Buddhistische Himmel (vor allem der «Westliche Himmel») gelten als solider als daoistische. Von Daoisten—Priestern erwartet man handfeste W’ahrsagerei und Metho— den der Lebensverl'a'ngernng: Schattenboxen, Kräutermedizin, Heildrogen, Diätkombinationen‚ manchmal auch Führerschaft: Die großen Bauernauf— stände Chinas standen meist unter Führung clztoistischer Heilsbringer und Propheten. In der Jugend ist man konfuzianischer Beamte, im Alter Daoist, auf dem Sterbebett Buddhist. Der Daoismus fördert die künstlerische Inspiration; seine Philosophie ist die Dialektik: kein Hell ohne Dunkel, keine Erde ohne Himmel, kein Weiblich ohne Männlich. kein Phönix ohne Drache, kein Le— ben ohne Tod, kein Rot ohne Grün. Auch im kommunistischen China lebt diese Dialektik weiter, sei es nun in den Schriften Maos, in der rongrünen Farbkulisse der kulturrevolutionnren (iroliaufmärsche oder in den flattern— den Bändern mit rot kalligraphierten l’olitparolen, in denen die magische Kraft der alten Wolkenschrift—Kalligraphie nachwirkt. nicht zu vergessen auch in der alten Terriiinoltigie: der Klassenleind als «Niugui sheshen» («Kuhdämon—Schlangengeist»). Bisher gab es drei kulturelle Großimporte nach China: den Buddhismus, der bis zur Unkenntlichkeit —«\‘iiil\it'l'ln («daoisiert») wurde, sowie den west— lichen «Kapitalismus» und den Marxismus, denen (aller Voraussicht nach) dasselbe Schicksal zuteil wird. Kunst im Zeichen des Damswus um! Buddhismus Ein Kunstwerk soll die Verktirperung des Dao oder — im Buddhismus ‚ der «Leere» sein: Zwar zahllose Kunstgattungen (Bronzegielierei. Keramik, Porzellan, Lackschnitzerei und Lackmalerei, lilfenbeinschnitzerei, Cloi— SOnné und Champievé, Teppichknüpferei, Architektur, Steinskulptur), aber HauPtentfaltungsgebiet (weil der Polaritin von Yang und Yin am besten ent— sPl"echend) in der Malerei ‚ und hier wiederum im Landschaftsbild, das zu— ment geronnene Dialektik ist. l“iinf hervorstechende Merkmale: 1. Polarit'ait: zum Shanshui vgl. 5.48. 2— Ineinanderübergehm von Mal? und Schreibkunst: Die «polare» Dar— 242 Asiatische Gesellschaften und Verbalterzsstile stellungsweise (weich—hart, Wasser—Fels, «10000 Dinge»—Leere) wird unter— stützt durch die beiden in Ostasien seit jeher bevorzugten Malgründe: Seide (seit der Shang-Dynastie) und Papier (erfunden etwa 100 n.Chr.), die mit den drei klassischen Malrequisiten, nämlich Pinsel, Tusche und leichten Wasserfarben, bearbeitet werden. Malerei und Kalligraphie gehen dabei um merklich ineinander über. jeder Strich muß auf Anhieb sitzen und kann nicht mehr korrigiert werden. «Renaissancehafte» Perspektive, Raum, Vgl„. men und Licht-Schaueaniedergabe, wie sie für die klassische europäische Malerei so allesentscheidend sind, spielen hier so gut wie keine Rolle. Chi_ nesische Kunst zielt vor allem auf das Weglassen (sog. <nsvorrat. f — ... die (jebetx;‚y ,':.:‚ \’ Mekka .in;re '‚._ . Anders als in der christlichen, buddhistischen und hinduistischen Archi tektur haben die Dekorationen nicht die Funktion einer Biblia pauperum; vielmehr sollen sie in ihrem harmonischen Zusammenspiel einen Abglam von der Größe 1\llalis vermitteln und den Gläubigen in eine harmonisch. gottbegeisterte Stimmung versetzen. Die allgemeine Harmonie und Bal.mw der Lies.untkomposition von Raum und Dekoration ist es denn Atlth, du— von Muslimen und Nichtnutslimen als zentrale «islamische Tonart» empln„ den werden”. Der Dekor an islamischen Bauten kommt dem Bedarf des \Vüstenbewoh ners nach liii'bigkeit entgegen. Islamische Bauwerke sind überall dort beso„ ders prächtig, wo die Umgebung 7um Wiistenhaft—Monochromcn neigz‚ während sie in uppig»tropiseher Umgebung höchst unscheinbar zu sein plh» gen _ man vergleiche die farbig glasierten Fliesenkeramiken, Fayencemosak ken und Marmorintarsien Noidindiens und Pakistans sowie die gesehnittw nen Terrakotten Zentralasiens mit der k'timinerlichen Bretter- und Kuppek blecharchitektur einer iavanischen oder malaiischen Dorfmoschee! gab), die die richtige Gebetsorient1erung in Richtmw c) Bruni/113771113 Tl)emtuld’;z Der ältere Buddhismus (Theravada, manchmal auch « Hinayana» fi Kleines Fahrzeug) wurde durch das Missionswerk des l\'lauryakaisers Ashoka zuerst nach Cevlon- und Birma. später auch nach Thailand, Kambodscha und law verbreitet; andere Spiellormen. nämlich das Mahavana («Großes Fahr“ zeug»), vor allem in China, japan, Korea und Vietnam, das «Diamanel-ahn zeug» (oder «lamaismus») in Tibet sowie in einigen anderen Himalayth an? dem und in der Mongolei erfolgreich Der Buddhismus entstand als antibrahmanische Relormbewegung, deren gesellschaftliche Zielsetzung sich gegen das Kastensystem wandte und deren religiöse Stollrichtung gegen die 'nnduistische Aiman/Brahman— und Sam» Sara—Doppelideologie gerichtet war: Letztere wurde akzeptiert, die erstere dagegen abgelehnt. Nach (iautama Buddhas Lehre gibt es weder eine Welt noch eine l"in7‚elseele (beide seien l‚uttspiegelungen, Maya, und beruhten auf leidverlängernder Täuschung), sondern nur leidvolle Wiedergeburteih die dem (ieset7 von Ursache und Wirkung (Karma) unterliegen und aus de» ren KreiSlaul auszubrechen oberstes Ziel sein muß. Die Quintessenz der Y ‚1 „vingend ist in den Moscheebauten eigentlich nur V. Was Aszaten glauben: Religion und Frömmigkeit 2)’I Vier Edlen Wahrheiten: alles Leben ist Leiden; Ursache dafür sind die drei dübel Gier, Haß und Verblendung, die den karm1sch<3n Kreislauf von 332,1 Tod und Wiedergeburt verursachen; werden Gier, Haß und Ver— , " ‘ unden, so verschwindet damit auch das Leiden; ein Edler blend'flng Erbi)rfjd führt zu dieser Überwindung. Man übe Disziplin (shila) Adlth tlEchte Rede, rechtes Verhalten und rechtes Leben», Konzentration durehdlfi) durch «rechte Anstrengung, rechte Achtsamkeit und rechte Ver- (safEäflg» (also durch meditatives Einengen des Beobachtungsfeldes) und, selld ittes und höchstes, Weisheit (praia) durch «rechten Entschlut'fs und alsChtz Ansicht». Die eigentliche Weisheit besteht darin, ohne die Vorstellun— re ‘ ‘ ' kommen also die Unwirklichkeit des Ich exi— gen von Ich undrivrllein auszu , Stegtltrcllerzilirtdriiéclien Dingen keine Wirklichkeit zukommt und da es auch keiv nen 2Nächsten» im christlichen Sinne gibt, ist die buddhistische Ethik nicht gebietefld, sondern verbietend. Eine L)£}fpel—FürilfezReg;ll ist ';FSngk di; ' ral: Nichttöten, Nic t ijgen, ic tste en, ic tunzuc t serdplilsiscllitelrilerl\ajlu(lchung. Fiir Mönche gelten fünf zusätzliche asketische Re— u21n Das Nirvana, also die buddhistische Erlösung, hat keine aktive, son- äerri nur eine passive Qualität (bedeutet also nicht Glückscligkcit, sondern lediglich Nicht—mehr—wiedergeboren—Werden). \ „ Die «Drei zu verehrenden Kleinodten» smd Buddha, der 5angha (Monehs— gemeinde) sowie das Dhamma (Gesetz, Lehre) (Zum demokrauschen (‚ha— rakter und Fehlen einer zentralen Instanz vgl. S 12$l., i3ol., i46). _ Unterschiede zum Hinduismus: ldentisch sind die Lehren von der Wie— dergeburt (Samsara)‚ der Vergeltungskausahtat (Karma), derWelt als Bler3d— werk (Maya), die Toleranz« und Medität1t)nsprftms, der Statuenkulta as Wallfahrtswesen und das Fehlen eines Papsttums. Anderersetts zahlreiche Unterschiede: Ablehnung des Kastensvstems, Forderung nach grundsatzli— cher Gleichheit aller Menschen, vor allem aber aller Mönche; Ablehnung der Brahman/Atman—Lehre. Es gibt keine Einzel— oder Weltseele, sondern nur Leid und daher auch kein Vereinigungs, sondern nur ein Leidubeer— dungsstreben. In der Ethik fordert Buddha Gewaltlost/gkeü (ah1msa)lund wendet sich gegen die Tiempfer der hinduisttschen I\ah_4\ulte, Nicht zu et1‚t aber ist der Buddhismus eine l\'lissionsreligionz Als Hindu Wird man gebo— ren, zum Buddhismus dagegen kommt man aus freier bntschetdung; Bud- dhist wird man überdies nicht aufgrund eines Beitrittsakrarnents (z.B. einer Taufe), sondern durch schlichte Beherzigung der «Vier heiligen Wahrheiten» Sowie durch Beiolgung der üblichen Rituale. Unterschiede zum Malmyuna h' Hauptunterschiede zwischen Selbsterlösungs— und Gnadenbudd ismus (Theravada und Mahayana): I. ontologisch: Nach Theravada gibt es nir— gends ein Absolutes, vielmehr vergeht alles schon Wieder in dem Augen— '" 252 Aszatisc‘be Gesellschaften und Verhaltensstile blick, da es entstanden ist; demgegenüber postuliert Mahayana ein transmn- dentales Absolutes, nämlich die «Leere» (sunyata), die als Unabhängi;;lmt von jedem Kausalnexus definiert wird (Näheres dazu 5- 19011)» 3- l“.rlo. sungslehre: Theravacla: Selbsterlösung als einziger Weg über den l’lClligcn Achtfachen Pfad. Als Ideal gilt der Arhat, der «den Feind (in sich) besiegr„ hat — so die wörtliche Übersetzung. Mahayana: mehrere Frlösungmd„,„ nämlich durch Disziplin, Kontemplation und Weisheit oder aber ._ dies der Regelfall — durch den (}nadenerweis einer gütigen Gottheit: BOddllis.llt\q. Ideal. }. Gottesvorstellungen: Theravada: Buddha ist lediglich ein menschlh ches Erlösungsmodell, das zur Nachfolge einlädt _ keinesfalls jedoch ein Gott. Mahayana: Wer das Nirvana erreicht hat, aber aus Altruismus dic Schwelle dorthin nicht überschreitet, sondern seine Gnadenfülle den leiden» den Menschen zukommen läßt, hat gottähnlichen Charakter. Iis gibt Hefe solche «Boddhisattvas», zu denen in China, Vietnam und Korea, mr .illern aber in Tibet, auch vorbuddhistische Gottheiten «umfunktioniert » wurde“. Hinzu kommen zahlreiche milde und zornige (Tibet!) Gottheiten, \Xeltcn— hüter und «Himmelskönige» (tianwang). 4. Im VOlk5glauben des M.ih.ir.nm kommt der Glaube an die Existenz einer individuellen Seele zum I)iirgfp bruch, die nach dem Tod in den «westlichen Himmel» eingeht. s. Unter schiede im Anbetungs— und Verehrungsritual: hier Sammeln von «Verdictr sten» (dazu 5. 170 f.), dort Opfergaben und Gebetsstürme. 6. Im Tlicramdgr gibt es nur wenige Mönchssekten, meist sind es in jedem Land nur „\ ei «Nikayas», im Mahayana dagegen Aufspaltung in zahlreiche l‚.iiensekten, vor allem in japan, darunter die Tendai—, die Zen—, die Yodon die Shin" und die Nichiren—Sekte. Dem Theravada und dem Mahayana ist andererseits gemeinsam, d.ifi \1L‘ missionieren, daß sie über ein reiches Klosterwesen verfügen, einen Teil des Schrifttums gemeinsam haben und bereit sind, vorbuddhistische Rehgrunv formen bis an den Rand der Selbstaufgabe in sich aufzunehmen. Beide sind in der Regel regierungsaffirmativ: Die Regierung gewährt Schutz, der“ (uber all auf den Dörfern vertretene) Sangha sorgt — trotz des Gebotes politischer Abstinenz — de facto für Legitimation. Praxis Das Theravada sorgte für eine Durchdringung und damit sakrale Ausrich- tung des Alltagslebens. Überall auf den Dörfern sind die Mönche präsent: Sie gestalten die Riten bei der Geburt, bei der Hoehzert und bei der Beerdi— gung, geben dem Neugeborenen einen Namen, nehmen halbwiichsige Mim— ner mehrere Wochen lang ins Kloster auf, gestalten die Dorffeste nut und erteilen Unterricht in der Pali—Sprache. Das Theravada beeinflußt auch alltägliche Verhaltensweisen, thunhcfi Großzügigkeit (im Zuge des «Verdienste—Sammelns»), Individualismus (in" der ist seines Schicksals Schmiedl), Pazifismus, Freundlichkeit, Vorliebe fur V. Was Aszaten glauben: Religion xmd1“römngleezt 2)’} 5 äße Konformismus, Harmoniebedürfnis, Respekt gegenüber Älteren Pd \iorgesetzten, formbewufflter Umgang und <, «Darfst du aus demselben Brun— nen Wasser entnehmen wie die Kasten—Hindus deines Dorfes?», «Hast du den Eindruck, daß du im nationalen Parlament/im Dorf—Panchayat und auf den Schulen angemessen repräsentiert bis‘t“i?» In lnd1en leben heute rund 90 Millionen Harijans. Bisher gab es nur einen einzigen «unberührbaren» Minister! Zum Klassenstatus im iibrigen S.81f. « Hinduisti5Che Götter: S. 258l., Ethik: S zes f., Lehre: S. zzsf., 229f.‚ 133, Staat und Kirche: S. in , 130. ml Politisierungserschcinimgen Die Indische Union ist dasjenige Land, in dem heutzutage die meisten leben— digen Weltreligionen unmittelbar nebeneinander existieren. Auch nach der Teilung des Subkontinents ist Indien, gleich nach Indonesien und Bangla- desch, die drittgrößte Muslimnation der Welt Das Christentum faßte in In— dien früher Fuß als in Europa und findet sich hier in einer bunten Vielfalt von Konfessionen repräsentiert, die von der Urkirche der syrischen Ortho— doxie bis zu den Quäkern reichen. Diese Toleranz ist neuerdings im Zeichen der Politisierung des Hinduismus gelithrdet, Wie vorher die indischen Mo— hammedaner in Pakistan eine neue Heimat fanden, so streben fanatische Hinduvereinigungm, die sich mit dem Gedanken eines s;ikularen Staates nicht abfinden wollen, nach einem «Hindustan» " ebenso wie die meisten Sikhs nach einem Sikhistan (oder «Khalistan»). Auffassung der Congress Party: Der Hindu/Muslhw und der Hindu/Sikh- Konflikt gehöre zu den Traditionen der nationalen Identität, die es auszuhal- ten gelte; auch die indischen Muslims/Sikhs seien ja keineswegs Zuwanderer, Sondern lediglich indische Konvertiten. Vor allem Hindus und Sikhs Spra— chen das gleiche Idiom und feierten die gleichen religiösen Feste. Zu betonen sei die nationale und nicht etwa die religiöse Identität! . Dieser gandhische Grundgedanke des Vorrangs der nationalen Identität ist "‘ den letzten Jahren angesichts des wachsenden «Fundamentalismus» eini— g?!" extremer Hindugruppen, verschiedener islamischer Organisationen und nicht Zuletzt auch des Sikh—Nationalismus untergraben worden. 262 Asmiixche (Ig;e/lschajien und Ver/mltensstile H induisliscbe Kunst Hindu—Kunst soll den Zugang zum All—Einen öffnen und zur Erlangung hö_ herer Bewußtseinsstufen verhelfen. — Architektur: Wichtigstes architektonisches Leitmotiv ist die (;Ötth Cella, die bei den nomadischen Völkern der Veda noch auf Rädern gezogen wurde, weshalb frühe hinduistische Tempel z.T. noch Spuren der alten Radform erkennen lassen, und deren Dach später in Form eines Götterbcrxs (Meru) wiedergegeben wurde, auf den die Götter — hierarchisch über und untereinander — wohnen und teilweise auch ganz naiv samt ihren Wohnum gen dargestellt werden 4 oft Hunderte an der Zahl. Aus dieser Grundidee der Götterwohnung heraus entwickelten sich Seit dem Ende der (}upta—Zeit zwei Haupttypen von Sakralbauten, nämlich im nördlichen Indien die «Sikhara» und im Süden die «Vimana», beide auf qua— dratischem Grundriß und in pyramidenförmigem Aufbau, die sich vor allem dadurch unterscheiden, daß die Vimana einen von einer stumpfen Kuppel gekrönten Oberbau beibehielt. Beide Bautvpen erreichten ihre Blüte um das jahr 1000. Die Außenwände der Tempel sind mit vollplastischen Skulpturen überzogen, darunter im Norden die berühmten «Liebespaare» und erotif schen Gruppierungen, so z.B. an den Tempeln von Khajuraho (tl.jh.) und Konarak (I}.Jl1.); in Südindien riesige Tempeltore. Südindische Stile wurden auch in zahlreichen südostasiatischen Kulturen rezipiert, so z.B. von einigen hinduistischen Königreichen auf Java. Das hervorragendste Beispiel dafür ist der Prambanan, ein dem Shiva geweihtes Heiligtum in der Nähe des mitteljavanischen jogjakarta, der seinerseits wie— derum den ersten Khmer—Königen als Vorbild für die Bauten von Angkor gedient hat. Auch nach Bali hat sich die hinduistische Kunst fortgepflanzt, doch gibt es dort keine überwälbte Cella; die gesamte Tempelfläche steht vielmehr un- ter freiem Himmel und wird lediglich zur Seite hin durch hohe Mauern aus der Landschaft «herausgeschnitten» « verdient also gewiß den Namen «Tem— pel» (von griech.: temein, schneiden). Eine zweite Eigenart des balinesi— schen Tempels sind die gespaltenen Tore, die über dem Andiichtigen nicht gewölbt werden, sondern ‚ eben v offen bleiben! — Skulptur: Hochbedeutsam ist auch die hinduistische Plastik, die dazu dient, dem Gläubigen wenigstens einige der Götter des ansonsten unüber schaubaren hinduistischen Pantheons sichtbar zu machen. Die Statuen »- meist aus Stein oder Bronze — finden sich zumeist auf den Dächern der Tem< pel und der gewaltigen Tortürme, doch werden sie darüber hinaus auch im Inneren der Tempel aufgestellt — besonders häufig Vishnu und Shiva in ihren verschiedenen Erscheinungsformen, von denen die achte Erscheinung Vi5l}’ nus, nämlich Krishna, wohl am berühmtesten und populärsten ist. Häufig 3U_Ch der tanzende Shiva oder aber Shiva in seinen drei Aspekten (l.ortiillv f“CdVOII, weiblich). Während im (älteren) Buddhismus die Menschendar V, Was Asiazen glauben: Religion und Frömmigkeit 26} stellung noch durchaus anth\ropomorph ist und nur bei den niedrigeren Be— gleitfiguren dämonenhafte Gestalt annimmt, findet im späteren Hinduismus meist eine (vom huropaer so empfundene) «Denaturierumg» statt: Die Wände sind überzogen mit vrelkopftgen, vrelarm1gen und vielbeinigen, bis— weile" auch tierköphgen Wesen. Besonders «abstoßende» Form nehmen einige weibliche Avaratas des Shiva an, so Gamunda, die Zornige und ausge— mergelte Form der schwarzen Gottm Kalt, der T1er0pfer_gebracht werden, und Durga. Beliebter Darstellungsgegenstand Sind auch die Reittiere der je— weiligen Götter, anhand derer die betreffenden Gottergestalten manchmal überhaupt erst identifiziert werden können — allen voran das Reittier Shivas, der Büffel Nandi, und das Renner ViShnus, der Pfau—Adler Garuda, nach dem beispielsweise die moderne indonesrsche Fluglmie benannt ist. Sämtliche Skulpturen — und Architekturen — zeichnen sich durch äußerste Schmuckfülle aus: die Figuren durch Juwelen, mächtige Frisuren und «durchsichtige» Gewebe, die Architekturen aber durch Nachahmung der ursprünglichen Holzbauweise. Bezeichnenderweise wurden die ]ahrhun- dene vorher verwendeten Nägel, Zapfen, Geb'alkformen, die gedrechselten Säulen, die verkröpften Säulenenden und die filigranhaften Zirate minuziös in Stein nachgebildet — und zwar nicht nur in Indien, sondern beispielsweise auch im fernen Angkor: In Angkor Vat finden sich an den umlaufenden Ba— lustraden lange Partien von «Geweben», die so sorgfältig in den Stein einge— meißelt sind, daß man glaubt, sie wehten im Winde. Vielarmigkeit und —köpfigkeit gibt es auch in der mahayana—buddhisti— schen Kunst, doch verliert dieses Merkmal um so mehr an «Aufdringlich— keit», je weiter sich die rezipierende Kultur von Indien entfernt. In der japa— nischen Kunst von Kyoto und Nara beispielsweise gibt es zwar ebenfalls tausendarmige Kannons und vielarmige «Asuras», doch sind diese Bildnisse so anthropomorph «gebändigt», daß von seiten des betrachtenden Europä— ers keinerlei Kontaktschwierigkeiten aufkommen. Der Hinduismus und Südostasien Rund izoo]ahre lang, nämlich von etwa 400 n. Chr. bis zum Beginn der Ko— lonialzeit, hat Indien den meisten Ländern Südostasiens seinen soziokultu— rellen Stempel aufgeprägt — ohne Zweifel eine der erstaunlichsten Leistungen «auswärtiger Kulturpolitik», die es je in der Geschichte gegeben hat. Seit 400 n. Chr. erste hinduistische Einflüsse in Südostasien; ab 1200 the- raVadabuddhistische Missionserfolge A via Ceylon — in Siam, Laos, Kam— b0dscha und Birma. Seit dem i3.]ahrhundflt wurde Indien (südöstliche Coromandel— und südwestliche Malabarküste) auch zum Vermittler des Is— am; Eindringen des Islam in Aceh/Nordsumatra im 13.Jahrhundert‚ in Ma— laya Anfang des „Jahrhunderts und in java im tg.jahrhundert Überlage— rung des Hinduismus und Buddhismus, aber nicht völlige Verdrängung. Ende des indischen Einflusses igii, als Albuquerque Malakka erobert. 264 Asiatische Gesellschaften und Vt'tha/temstile Wer waren die Überbringer des Hinduismus? Drei Theorien“: I. KSIL1. triya—Theorie: Indisches Militär als Motor Z.T. direkter Indisierung durch koloniale Expansion. Diese in den zwanziger jahren von der «Great India Society» vertretene Ansicht war ein Kind ihrer Zeit, insofern sich namlich das kolonisierte Indien Trost aus der eigenen Vergangenheit zu holen suclitc_ Zwar gab es militärische Vorstöße Indiens, vor allem unter der südlichen Colad)ynastie, die iedoch Randerscheinungen bei der ansonsten höchst tin— kriegerischen Ausbreitung der indischen Kultur blieben. z. Vaishiya-Th„„_ rie: Indische Händler als Übermittler; trifft zwar für die islamische, aber nicht für die hinduistische Mission zu. Gründe: Hinduismus breitete sich nicht nur in den Hafenfürstentümern, sondern auch im Hinterland aus, Wo es keine indischen Händler gab; ferner war der Missionshinduismus stark durch Sanskrit geprägt, das die Händler nicht beherrschten. }. Bralinianem Theorie: Letztlich dürften es die Brahmanen gewesen sein, die von den lol,“, len Fürstenhäusern als eine Art «Entwicklungsexperten» berufen wurden und die nicht nur ihre Religion mit ihren hochwillkommenen Legitint.nioiw mechanismen, sondern auch W'eisheitsbücher mitbrachten. in denen Regeln der überregionalen Verwaltungskunde, der Baukunst und der Infrastruktur enthalten waren. Später kamen buddhistische Mönche hinzu, die iii, dem Auftrag Buddhas und Ashokas entsprechend, einen Missionsauftrag hatten und die dafür sorgten, daß zahlreiche Südostasiaten indische Universitatm, vor allem die weltber'tihmte buddhistische Universität von Nalanda nahe den heiligen buddhistischen Stätten von Bodh Gaya, besuchten. W’ie tief ging der indische Einfluß in Südostasien? Zum Teil wirkten zwar kolonial—indische Impulse sogar wieder auf das Mutterland zurück, so z. B. die Architektur Angkors auf die südindische Cola—Kultur (i i._]h.); also kein reiner «Monolog» Indiens (zur Verschichtung unten 5. 33i ff.). 'I'rotzdem tiefe Spuren: * Die auch heute noch sichtbarste Hinterlassenschaft ist das Schrift— system, das bei den Birmanen, Thai, Khmer und Cham. aber auch noch bei den inzwischen vom Lateinischen verdrängten javanischen und ballnesi— sehen Schriftformen deutlich zu erkennen ist, wenngleich die alten \f'orlagen regional variiert wurden. — Außerdem sind die südostasiatischen Sprachen mit Sanskrit4\usdrük ken angereichert worden, die in der literarischen Hochsprache, in der Reli« gion und im Austausch zwischen «Mahaguru» und «Mahasiswa» (in Bahasa Indonesia: «Lehrer» und «Schüler») nach wie vor eine wichtige Rolle spit“ len. Vor allem hat das Sanskrit den einheimischen Sprachen die Fähigkeit zur Bildung abstrakter Begriffe erleichtert. — Auch das Indische Recht, das in den klassischen Gesetzbüchern der «Dharmashastras» besonders im Gesetzbuch des Manu niedergelegt war. hat bis zur Rezeption europäischen Rechts laut G. Coedes‘i' eine ähnliche l)ri’ gefimktion ausgeübt wie das Lateinische Recht auf die barbarischen Gesell‘ V. Was Aszazen glauben: Religum und Frömmigkeit 265 haften in nachrömischer Zeit. Vor allem haben die Vorschriften des äajafliti (des königlichen Benehrnens) beträchtlichen Einfluß auf die lokalen Monarchien gehabt. _ . ‘ . ‘ ' Des weiteren verbreiteten Sich die verschiedenen indischen Periodisie— ssy5teme, sei es nun die buddhistische Zeitrechnung, welche 543 v, Chr. ruan nt oder aber das «Kleine Zeitalter»«$ystem, das vom jahre 638 n. Chr. beglflch’net. Die thailändische Königsgeschichte der Chakri«Dynasiic ist ;nBrenoch ganz nach der buddhistischen Zeitrechnung abgefaßt. Die «indi— hen» Kalendarien wurden erst durch eine Übernahme des europäischen sc ab elöst. „ ' _ syitelgginerghat die indische Asthetik die Kunst Südostaswns entscheidend mitbestimmt. Die Tempelstädte von Pagan und Angkor oder die javanischen Heiligtümer Pramban3n und Borobodur waren„ohne das indische Vorbild nicht denkbar, wenngleich lokale Traditionen furnianchmal bedeutsame« und geniale! — Abweichungen gesorgt haben. Diese Vorlnldfunktmn gilt allerdings nicht für die islamische Kunst, die in Südostasien zu keiner nen— nenswerten Entfaltung gekommen ist. _ Auch die verschiedenen indischen Religionen, vorn Shivaismus und Vtshnuismus bis hin zum Theravada— und Mahayantuddhismus sind für Jahrhunderte prägend gewesen, wobei allerdings das Theravada den Umweg über Ceylon nahm. In der malaiischen Welt wurden die hiridutstischen Kulte im 14. und „Jahrhundert vom Islam verdrängt — und haben steh am [ende nur in Bali halten können. Kratzt man freilich in java nur ein wenig am isla— mischen Lack, kommt sofort wieder hinduistische Tradition zum Vorschein. In Vietnam ist es nach wie vor der Mahayarm—Buddhismus, in Thailand, Birma, Laos, Kambodscha und Ceylon aber die Theravada—Uberlieferung, die die Lehre Gautamas, welche in Indien last ausgestorben war, bis auf den heutigen Tag bewahrt hat. _. ' 7 — Eng mit den religiösen sind auch die literarischen Uberhelerungen ver— knüpft, wie sie in der buddhistischen Folklore der jatakas (den soo Vorleben Buddhas) und in hinduistischen Überlieferungen weiterleben, nicht zuletzt im klassischen Tanztheater und im Schattenspiel. Sogar der Tourist begegnet den eindrucksvollen Tänzen Ramas und Sitas auf Schritt und Tritt, sei es nun in Bangkok, in Phnom Penh, Angkor, auf Bali oder sogar im äußerlich doch so islamischen Java. Wohin man auch blickt » überall schimmern die indi— $Chen Muster so kräftig durch, daß Goedes vorgeschlagen hat, _man moge das alte Indien doch einmal «durch die Brille des Ostens» studieren” und fekonstruieren ! 266 Asmtische Gesellschaften und Ver/mhezzsstile e) Südostasien: Sc/mttens/7ie/ Wlll’ Musik als Gottesdienst Als «verschichtetc» Kultur (zu diesem Begriff vgl. S. 33 1 ff.) hat Südostasien die meisten seiner künstlerischen Ausdrucksformen aus Indien oder China bezogen. Zwei Bereiche sind besonders charakteristisch geworden: das Schattenspiel und die (streckenweise autochthon gebliebene) Musik, Waydrig (’.S‘c‘lmtlenspiel} Das Schattensptel, eine Art \‘Ol’ih()(it‘i‘flt‘5 Kino, ist in ganz Asien beheimatet und hat beispielsweise auch in China durchaus eine Rolle gespielt, laßt sich aber seit jahrhunderten haupts.ichlich mit dem malaiischen Kulturkreis identifizieren und gehört vor allem zur indonesischen Kulturlandschaf die Pyramiden zu Ägypten oder die Musik zu Wien. In ]ava läßt es sich seit dem «).Jahrhundert nachweisen. Genauso wie sich die mittelalterliche europäische Kirche der Tafelmalcrei oder der erzit'l den Plastik als Propaganda und als Biblia pauperurn bedient hatte, wurde das Wayang—Spiel im l‘iinduistischen Südostasien zu einem Instrumentarium reli— giöser Belehrung und hatte insofern nicht nur asthetische, sondern vor allem religiös—strategische Bedeutung. Fromme F.insiedler aus fiirstlichem Gebl'tit demonstrieren «auf der Leinwand» tugendhaftes und der hinduistischem Heilslehre entsprechendes Leben, während das Böse in der Allegorie von Riesen, Gespenstern, Geistern, Gnomen und Kobolden auftritt. Von allen Way ang(wörtl.z Schatten)—Spielen ist das Wavang kulit (mit Le— derpuppen) das bekannteste. Die Figuren werden von Künstlern gefertigt, die einem eigenen Berufsstand angehören. Stets sind strenge ikonographi— sche Vorschriften zu beachten. Ein schwarzes Gesicht mit goldenem Körper zeigt einen l\twger in Liuf$erster Anspannung, ein grunes Gesicht dagegen gehört zu einem niedrigen Charakter. Adel und Wissen lebt in weißen Ge- sichtern, nackte Gier dagegen in den roten und Anmaßung in den gelben Gesichtern. t W ie ilen— Nicht nur die Farbe. sondern auch der Umrili liefert unmiliverst‘andliche Hinweise: Der feine Charakter zeichnet sich durch mandelförmige Augen und eine lange Nase aus, die von der Stirn bis zur Nasenspitze in einer fast geraden Linie verläuft; ihm ist ein leicht geneigtes Haupt eigen, das Beschei« denheit ausdrückt, er trägt ein Blirtchen und Wenig Schmuck. Der rohe Cha» rakter dagegen hat runde Augen, eine gequollene Nase, plumpe Kopf-- und Körperformen und einen Haarwald. Vor allem aber stellt er seinen Sclnnuck in protziger Weise zur Schau, spricht laut und ist in seinem Gel)ahren unge» hobelt. Sämtliche «Puppen» sind vollkommen in sich beweglich, wobei die Ge» lenke etwa an derselben Stelle angesetzt sind wie in der menschlichen Anato» m1e._Von diesen leise scl*1wingenden Figuren gibt es im Schattenspwl nicht Weniger als etwa 600. Eigentlich aber genügt schon ein Viertel dieser Zahl, V. Was Asmten glauben: Religion und meng/ecir 267 ie 144 menschlichen Leidenschaften, die von der javanischen Mystik ]iert wurden, zu symbolisieren. . ‘ ‘ . fort?“ liche Figuren werden von einem emz1g£n Spieler gehandhabt, dem Samt „ der im Schneidersitz hinter der transparenten Leinwand sitzt .. in “Da]angRiicken das Gamelan—Orchester, seitlich der Figurenwald und über “men? flackernde Lampe. Er führt nicht nur die Puppen und spricht die ihm dl‘ed en Rollen dazu, sondern gibt zwischendrin auch immer wieder Verschle.beunn en und Hinweise. Außerdem ist er für die l.ichtregie verane Besclli're}: undghat u.a. frischen Docht nachzuschieben. wc;rnzlzegensatz zu vielen anderen asiatischen Bühnenberufen genieth der Stand der Wayang—Spieler in Indonegen„hochstes soziales Ansehen. Nach vielen jahren der Ausbildung hat er eine im wahrstenqötnne des Wortes hei— lige Verantwortung wahrzunehmen. [tr haueht den \Xrayang—Figuren leben ein und vollzieht damlt eine heilige Handlung. ltr beherrscht samthche hbe» nen der javanischen Sprache, angefangen von der alten poetischen Kawr Sprache über das klassrschejavamsch und uber zwei Stufen des niedrigen Javanisch bis hin zu den drei ltbenen des hohen javamsch. Außerdem hat er mit einem Spezialvokabul-ar vertraut zu sem, das Personen des Königshofs sowie Göttern vorbehalten ist. Was wäre im iibrigen ein \Xr’ayangsS'pieler wert, der nicht auch die Formalitäten der alten l\'önigshöfe präzise Wieder— beleben könnte? Sprechen, Singen und doppelhändiges Handhaan von zwei bis drei Figuren wiihrend einer hitzigen Schlacht sind Unternehmun— gen, die in ihrer Gleichzeitigkeit unvereinbar erscheinen — für einen Dalang— Spieler freilich gibt es hier kaum Grenzen! . ' ’ Normalerweise dauert eine Wayang—Vorstellung, die stets im Zusammen— hang mit bestimmten religiösen Feiern (Hochzeit, Zahnfeilen etc.) stattfindet, die ganze Nacht hindurch, und zwar von der Dämmerung bis zum Morgen— grauen. Gegen Mitternacht ereignet sich einer der Höhepunkte, wenn näm— lich der Hauptheld des Stückes, z. B. der edle Ariuna, auftritt und sofort von bösen Mächten in heftige Kämpfe verwickelt wird. Kaum sind die heftigsten Szenen vorbei, pflegen auf einmal vier seltsame Gestalten aufzutreten, sich mit allerlei Schwänken zu vergniigen und teilweise, zum Firgötzen der Lu— SChauer, sogar Einlagen in modernem lndonesisch zu liefern: lis handelt sich um die vier treuen Diener des Ariuna, u. a. den kugelrunden und fidelen Se— mar— die mit Abstand beliebteste aller Figuren, der gleichsam das javanische V0lk in der Wavang—Welt repräsentiert und damit ein Gegenbild zum adltgen Priiaii—Ideal darstellt. Als Diener ist Semar ganz von liigeninteressen frei und lebt seiner Pflicht, geht also völlig in der“ hinduistischen Kastenethrk auf, Obwohl er, im Gegensatz zu den meisten Figuren des Wayang—Sp1els, kein Im— port aus Indien, sondern ein javanisches Geschöpf ist”. Das Wayang hat mehrere Funktionen: Es bringt die \Welt der Götter ins Di855eits herein und bewirkt damit eine «Realisierung des Göttlichen« (Wayang als Gottesdienst), es erfüllt gleichzeitig aber auch Abschirmfunk— umfll 268 Asiatische Gesellschaften und Verhaltensstile tionen, indem es nämlich übelwollende Dämonen die ganze Nacht hindumh so sehr fasziniert und absorbiert, daß sie gar nicht erst auf den GCdanken kommen, dem Neugeborenen oder aber dem jungverheirateten Paar, zu de— ren Festtag das Wayang bestellt wurde, zu schaden. Angesichts der Popularität des Schattenspiels liegt es auf der Hand, dal auch für politische Zwecke eingesetzt werden kann: Dies bekamen u. a. die holländiscben Kolonialherren Zu spüren, denen schnell klarwurde, daß die Symbolik des Kampfes zwischen Gut und Böse bedenkliche Propaganda_ wirkung haben konnte, und die deshalb bestimmte Formen des Wayang Ver- boten. Doch auch in nachkolonialer Zeit wurden Wayang—Gehalte immer wieder auf das politische Leben übertragen. Vor allem bei der Aussendung antikommunistischer Liquidationskommandos im Herbst 1965 oder aber bei der Verhaftung Sukarnos verstanden es die Machthaber, ihre limissäre mit Attributen zu umgeben, die Eigurenassoziationen zum Wayang und zu dessen Kampf gegen das Böse weckten. ! S 05 Gamelan: Musik in Südostasien Sieht man einmal von den Philippinen und von Vietnam ab, wo die spanisch/ südamerikanische Folklore bzw. der chinesische Einfluß tiefe Spuren hinter— lassen haben, begegnet man überall in Südostasien einer Musik höchst bu» denständigen Charakters, die zwar indischen Einfluß da und dort erkennen läßt, bei der aber ansonsten die präindische Tradition erhalten geblieben ist, vor allem, was die Musikinstrumente anbelangt. jedem Besucher Südost— asiens werden die Buckelgong— und Xylophon—Orchester mit ihrer mysti— schen Klangkultur unvergeßlich bleiben A vor allem die (Samelan—Musik. «Camel» heißt Hammer und charakterisiert treffend die Haupteigenschaft des Orchesters, das ja zur Hauptsache aus Schlaginstrumenten besteht. Pro— totypen des modernen Gamelan—Orchesters lassen sich bereits auf den Re— liefs des Borobodur—Tempels aus dem 9.]ahrhundert identifizieren. Das durchschnittliche Gamelan—Orchester setzt sich aus sieben Instrumentew gruppen zusammen, worunter Gongs, Trommeln, «Xylophone» (zT aus Holz, z.T. aus Metall), Zupfinstrumente, Miniflöten und das Gender, eine Art Tasteninstrument, das seine Mechanik auf Klangröhren übertra”gt und mit zwei runden Hammerchen gespielt wird, die Hauptrolle spielen. Auffallend ist, daß Musik kaum je für sich allein, sondern stets im Zusam- menhang mit einem Schauspiel, einem Tanz oder mit einer literarischen Ro Zitation steht. Kein Zweifel: Die südostasiatische Musik ist aufs engsre mit Zeremonien, Ritualen und religiösen Theaterdarstellungen verwoben. Charakteristisch ist, drittens, die in der Musikwissenschaft sogenannte «pdyphone Schichtung», womit gemeint ist, daß einerseits viele musikali— 5Che Linien simultan hörbar werden (deshalb «polyphon») und daß diese ;:s" trennt voneinander laufenden Linien Unterschiede in Bewegungstempo uml Dichte aufweisen. Viertens gibt es den Begriff der absoluten Tonhrihe in V Was Asiaten glauben: Relzgirm und frrnrzmigk„‚ 269 Südostasien nicht. Vielmehr richtet sich der Solist oder das Orchester nach t «stimmung» die der Geluhlslage des ieweihgen Anlasses angepaßt ist nd die deshalb von Mal zu Mal ad hoc festgelegt werden "_IUß‘ u Schließli‘3h ist die Musik, Wie übrigens uberall im traditionellen Asien, iemals Anlaß, indivrduellen (mfuhlen Ausdruck zu verleihen oder die Schönheit der Töne zu genießen.; Vielmehr ist sie Brucke und Kontakrmittc] den überginnlichen \Wesen, die es entwederabyulenkenoder aber gnädig 23 stimmen gilt. Aus diesem Grunde auch trellen Musiker itiitiitiruv.icricr be— sondere Schutzvorkehrungen, so zB. am l_\raton _(d.h. dem l\ontgsiodcr Sultan5h0f) von jog1akarta, wo sich die Musiker bei den groben _]ahresfesten einer Periode des Fastens und der Belbstreinigungyunterzmhen, bevor sie das Gamelan (also das HammenOrchpester) spielen. bogar di_e45chattc‘npuppen— spieler in Kambodscha und in Bali unterziehen sich religioscn Rnualen, be— vor sie ihr Spiel beginnen. Auch in Indien hat die Musik haufig Darbrin— gungsfunktion, vor allem bei den lempelfesten, in deren Verlauf die Gott— heit eingeladen und als anwesend gedacht Wird. lm Abendland wurde die Musik lange 7,011 analog zu den (iestirncn und «Sphären» sowie zur Mathematik gestaltet „ dies klmgi noch in Hindeniith5 «Harmonie der Welt» nach. In Asien gilt sie als (‚ottergeschenk Besonders galt dies für die Hof/Kratow0rchester. aber auch fiir die Tempelmusiken in den buddhistischen Ländern Südostasiens, ior allem in Birma, das wegen seiner jahrhundertelangen [,iremitenlmltigkeit die .iltert't'imlichsten lnstruf mente und Spielweisen besitzt. Diese Traditionen werden heute vor allem durch drei Entwicklungen ger fährdet, nämlich durch die nach westlichem Vorbild organisierten Musik- akademien, wo nicht mehr die Methode des iahi‘elangen mechanischen Nachahmens des Guru durch den Schüler, sondern svstematisches Musizie— ren mit Notationen und westlichen Instrumenten geübt wird, ferner durch den Einbruch der westlichen Musikkultnr (nicht zuletzt auch des «Schla— gers»), drittens aber durch das Aufkommen einer .1l&[i\lstls(lic‘fl Lebensstim— mung, die der kontemplatix entrtickten Welt des (idlt'it‘l1n, des indischen Raga oder aber des überall in Südostasien gt‘pllcgtcti hofischen Piphat— Ensembles fremd ist. Lediglich dort, wo der Tourismus Traditionen «finanzieren» und remoti— Vieren hilft, sind die Musikgebrauche erhalten geblieben, so z. B. der thai— ländische (und früher auch kambodschantsche} Hol» und Volkstanz und die Musik Balis, die wegen ihrer \'irtuosit.n. w;gcii der zeitweise rasenden Tempi und vor allem wegen des luinsatus un\\'.ittirrrtt*r Hammer und Schle— gel extremen Signalcharakter besitzt“. Wer sich mit der asiatischen Musik sonst nicht .ibfinden kann, wird beim Anhören des Gamelan—Orchesters \it'llillClll «eine Meinung lindern. Es gibt kaum lemanden, der nicht von dem tindifit'i‘t‘tt/‚it'i‘tc'ti Klang und von der sei— denen Schönheit, die über der Klangmasse schwebt, entzückt ist. Scharfe 270 Asiatische Gesellschaften und Verhaltensstile dynamische Kontraste, die plötzlichen TempoweChsel “Hd der überhell Klangcharakter der Schlaginstrumente geben der Musik den Charakter v e UnWirklichkeit und schaffen damit jene Hintergrundstimmung, die für don f unter Kontrolle gebracht. Die asiatische Mutter sagt in der Regel nicht: «Wenn du dies tust, wirst du bestraft», sondern «Wenn du dies tust, lachen dich die anderen aus.» Es wird also nicht an das Schuld-, sondern an das Schamge— fühl appelliert. Ein ungehorsames Kind wird weniger durch Schimpfen als vielmehr durch Sticheleien, «Aufziehen» und gutmütigen Spott zur Rii'son gebracht. Es bleibt jedem überlassen, ob er einen in dieser Form vorgebraeh- ten Tadel als Scherz oder als bitteren Ernst interpretiert. Immer bleibt der Ausweg, daß ja alles nur ein Spaß gewesen sei; und stets auch bleibt die Möglichkeit, sein Gesicht selbst dann zu wahren, wenn heikle Themen zur Debatte stehen. Auch hier gilt es, Konflikte so wenig wie möglich offen aus— zutragen. Asiatische Kinder werden selten zum Essen oder zum Schlafen- gehen zu bestimmter Stunde gezwungen; häufig sieht man sie noch um Mit- ternacht durch das Haus toben. Körperliche Strafen und Schelten sind url— üblich. In aller Regel verwöhnt man das Kind. In Gesellschaften, in denen Kinder so lange im Schoße der Familie bleiben wie auf den Philippinen, in Indien oder im traditionellen China. ist diese «sanfte Strategie» der Konfliktaustragung nicht nur im Sinne des Familien- friedens nahezu unentbehrlich, sondern auch für das spätere Verhalten d€5 Kindes von ausschlaggebender Bedeutung. VI. Wie man «Asiate» wird 275 Vor allem über die chinesische Erziehung lassen sich zwei Doppelleitsätle schreiben: Negativ ausgedrückt gilt es, das Kind me schreien (= leiden) und es auch nie alleine zu lassen; fangt ein Kind zu schreien an, hört unter Er- nen sofort das Gespräch auf, und Jedermann wendet sich dem Klei- nen zu, bis es sich wieder beruhigt hat. Positiv formuliert, darf das Kind an .. tlichen Unternehmungen der Eltern tetlnehrnen und hat ebenso wie der ärr:lvachsene sein eigenes Gesicht, auf das Rückstcht zu nehmen ist. wachse c) Erziehung nach dem 6. Lebensjahr Im Alter bis zu fünf Jahren spielt das. Geschlecht des Kindes beider Erzie— hung kaum eine Rolle. Dies beginnt Sich erst nach dem 6. Lebens;ahr zu an— dern. In bäuerlichen Regionen werden die Kinder letzt in den Arbeitsprozeß eingeschaltet und übernehmen leichtere Aufgaben, z.B. das Sammeln von Gras oder das Vi€hhüten. Vor allem aber werden letzt beide Geschlechter voneinander getrennt und separat erzogen. Maßgebend für diesen Szenen— wechsel ist der Eintritt der sexuellen Reifung. Zumeist haben sich in diesem Zusammenhang Reste alter Initiationsriten erhalten. Im 8. Lebensjahr bei— spielsweise erfolgt in der hinduistischen Gesellschaft die Verleihung der Hei— ligen Schnur an die Angehörigen der Oberkasten; in den islamischen Gesell— schaften — und übrigens auch auf den katholischen Philippinen ‘ findet die Beschneidung statt, die unter den frommen Familien Malaysias oder Indone- siens durchaus noch religiöse Bedeutung, in den philippinischen Familien dagegen nur noch den Stellenwert eines Familienrituals hat. Uberall_ gilt die Beschneidung, die heutzutage meist in der Klinik und unter Teilnahme gleich einer ganzen Gruppe von Kindern erfolgt, als Virilitätsprobe; auf den Philippinen stellt man die Männlichkeit Unbeschnittener mit dem abwerten— den Griff «supot» in Frage. Demgegenüber wird die weibliche Menstruation kaum noch von Zeremo- nien begleitet; allerdings nehmen nun die Neckereien zu, deren Ziel es ist, bei den Mädchen ein Gefühl für «Sittsamkeit», Bescheidenheit und weibli— che Anmut zu wecken. Während die Trennung zwischen den Geschlechtern stark ist, sind Frauen untereinander höchst kontaktfreudig. Vor allem in Ko— rea sieht man sie immer wieder gemeinsame Ausflüge unternehmen, zusam- men lachen, tanzen und picknicken, wobei die gemeinsame Fröhlichken manchmal auch vom Alkohol herrührt. Erziehungsideal ist bei beiden Geschlechtern ein Verhalten, das entspannt, zurückhaltend, angenehm im Umgang und frei von Zornes— oder Tempera— mentausbrüchen ist. Während sich das Frauenideal in den meisten asiati- schen Gesellschaften ähnelt (bei Mädchen setzt die systematische Erziehung fr_üher ein als bei jungen), zeigt das Männerbild gewisse Abweichungen und tl'ltt im Kontrast zwischen Thailändern und Filipinos einerseits sowie Japa— nem, Koreanern und Chinesen andererseits besonders deutlich zutage. 276 /ismliscbe Gesellschaften und Verbaherzsstzle In der philippinischen Gesellschaft ist eher der weiche und anmutige TV gefragt, der in seinem Äußeren auf den europäischen Geschmack meist mp was feminin wirkt, vor allem was die Stilisierung dcr Frisur oder aber die Vorliebe für Rüschcnhemden und für besondere Eleganz in der Kleidung an— belangt. Die als selbstverständlich vorausgesetzte Anmut im äußeren Verhal— ten führt dazu, daß die Übergänge zwischen Heterof und Homosexuellen sozial kaum zur Kenntnis genommen werden. Der «bakla» (Homosexuelle) stößt in der philippinischen Gesellschaft auf keinerlei Vorurteil. Besonder häufig ist er unter Architekten, Friseuren oder Modegestaltern anzutreffen In Thailand wünscht man sich Söhne, Freunde und Ehemiinner mit «küh‚ lem Herzen» (chai yen yin), die Sinn für Spaß (sanuk) haben und mit denen man zwanglos umgehen kann. Viel bewundert werden auch Personen, die andere geschickt hereinzulegen wissen, zumal wenn diese ihr Mißgescliick womöglich gar nicht merken; das Ganze geschehe möglichst noch anmuü;;_ In Ostasien wird demgegenüber eher der herbe Typ geschätzt, sei es nun in der Gestalt des japanischen Samurai oder aber des gerontokratischen Mandarins, um hier einmal zwei besonders prominente Idealbilder zu er— wähnen. In Indien hat sich das britische Virilitätsideal in bestimmten i\spck- ten durchsetzen können und dafür gesorgt, daß, wie Rothermund‘ es aus» drückt, «indische Prachtentfaltung durch spartanische Disziplin ersetzt wurde». So kann es vorkommen, daß der westlich—einfach gekleidete Gene ral sich Diener halt, neben deren orientalischer Kleidungspracht seine eigene Zurückhaltung um so kontrasthafter zur Geltung kommt. Diese äußere Auffassung hat z. T. auch auf die innere Haltung abgefärbt. Weit verbreitet im traditionellen Asien war die Kinderehe, die auf Betrei- ben der Eltern durch professionelle Vermittler gestiftet wurde. In China wa ren auf dem Land noch bis zum Erlaß des Ehegesetzes von 1950 sog. « Kind— bräute» (tongyangxi) üblich, die einem ebenfalls noch kindlichen Knaben anverlobt wurden. Dieser Brauch war Ausdruck eines sozialen Zusammen hangs, der in der neueren westlichen Erziehungspraxis verlorengegangen ist, seit man hier immer stärker zwischen einerjugend und einer Erwachsenen- kultur trennt. In Indien wurde die Kinderehe vor allem in Brahmanenkreisen gepflc_uh da auf diese Weise die jungfriiulichkeit — und damit auch die rituelle «Rein— heit» — zweifelsfrei gewährleistet blieb. Dem gleichen Zweck diente übrigk’“S das (auch in China seit der Sonngeit übliche) Verbot der Wiederverheira- tung von Witwen, das im hinduistischen Indien durch den für Ituroplifl schockierenden - und von den Briten bereits im i9.jahrhundert Verbote» nen — Brauch der Witwenverbrennung ergänzt wurde. In China Wurden der «guten Ehefrau und keuschen Mutter» Gedenkstelen errichtet, und auch in Indien war die «Sati», d.h. die «sich opfernde Gefährtin», hoch geehrt Während andererseits eine weiterlebende Witwe dauernde Demütigungen zu gewartigen hatte. S V]. Wie man «Asiate» wird 277 3. Ehe und Familie „) Eheschließung und Scheidung In china war (und ist) die Verehelichung ein wichtiges, in Indien sogar das zentrale Ereignis im Leben emes_Menschen, wahrend Sie in den theravada- buddhistischen und malaio—islamischen Gesellschaften einen wesentlich ge— ringefen Stellenwert hat. Nirgends m Asten wurde die Ehe bISAVOI‘ kur?em primär 315 Liebes—, sondern fast immer nur als Zeugungsgmnemschaft ver— standen. Individuelle Gefühle spielten also nur eine .Neb‘enrolle; weitaus wichtiger war (und ist) die Erwartung, daß (in der hinduistischen Gesell— schaft) beide Partner der gleichen Kaste angehören, daß ferner die. wirt— schaftlichen Voraussetzungen «stimmen» und daß vor allem das Horoskop für beide günstig ausfiel. Kein Wunder, wenn angesichts solcher Voraus— setzungen Ehen fast immer nur vermittelt wurden. Während man, wie es heißt, in Europa einen heißen Topf auf eine kalte Platte setzt, geschieht es in Asien zumeist gerade umgekehrt. So sehr die Liebe in den großen klassi— schen Romanen Chinas, Indiens, ]apans oder Thailands' auch verklärt sein mag — in der Ehe war und ist sie eher eine angenehme Zugabe als eine Vor- aussetzung. Hohe Erwartungen richten sich auch auf die Fruchtbarkeit der jungen Frau; Kinderlosigkeit gilt allemal als Übel und als seriöser Grund für Ehe— scheidungen, wie sie ansonsten in den metakonfuzianischen und hinduisti— schen Gesellschaften verpönt sind. Die Rechte der Frau in der Ehe fallen verschieden aus, je nachdem ob in der betreffenden Gesellschaft eine patrilineare, eine matrilineare oder eine «bilaterale» Tradition vorherrscht: Die patrilineare Familie ist der asiatische Normalfall ‚ zumindest herrscht sie in den bevölkerungsstarken metakonfuzianischen und hinduistischen Gesellschaften vor. Der Prototyp, nämlich das traditionelle chinesische Fa— milienrecht, war bestimmt von der Herrschaft des Mannes über die Frau und des Alters über die jugend. Es war patrilinear, patriarchalisch, patrilokal und patronym. Es verneinte die «freie Partnerwahl», verbot die Wiederverheira— tung Von Witwen, duldete das Nehmen von Nebenfrauen, behandelte Ehe— schließungen als eine Art Kaufvertrag, durch den die Braut gegen Leistung eines ansehnlichen Geschenks an Familie und Clan des Bräutigams ausge— händigt wurde, und ermöglichte Kindesverlobungen. Nach moderner sinc— l“Om_munistischer Auffassung gilt die traditionelle Familie als einer der vier “Skae» (politische, Sippen—, religiöse Und Gattengewalt), mit denen der größte Teil der Gesellschaft, vor allem aber die Frau, «gefesselt» war”. Auch um ihr Erbrecht gegenüber den Eltern war es zumeist schlecht bestellt, da sie mit der Verheiratung als «weggegeben» und damit für die eigene Familie als ""10ren galt. 278 Asiatische Gesellschaften und Verhaltensstile Häufig haben die Brauteltern, wie z.B. im heutigen Indien, einen h0rren. den Preis zu zahlen, wenn sie ihre Tochter an einen «vielversprechendm„ Schwiegersohn verehelichen wollen. Völlig unsentimental wird um eine möglichst üppige Mitgift gefeilscht. Erst sie ermöglicht ja nach allgemeiner Auffassung einen günstigen Start in das gemeinsame künftige Leben_ Weit verbreitet ist auch die Auffassung, daß mit einer ehelichen Verbindimg die Familien der beiden Ehegatten zusammengeschweißt werden sollen_ Auf den Philippinen begnügt man sich freilich nicht einmal damit, sondern 1ädt darüber hinaus bei der Geburt eines Kindes noch Personen aus dritten und vierten Familien ein, doch bitte die Patenschaft zu übernehmen und damit zu «Compadres» («Mitväternl») zu werden. Auch die hierbei Zustande kommenden Compadrazco—Bande laufen auf eine Stärkung und F‚rwg rung der familiären Eianußmöglichkeiten hinaus. In patriarchalischen Gesellschaften bestand die Verehelichung in der Über» gabe der Braut an die Familie des Bräutigams — in vielen Fällen könnte man hier sogar von einer «Auslieferung» sprechen; denn das Mädchen, das in sei- ner eigenen Familie verhältnismäßig viel Freiheit genossen hatte, war von jcrm an der schwiegermütterlichen Willkür ausgesetzt. Das Leid, das damit häufig begann, zieht sich wie ein roter Faden durch die Volksliteraturen. Nicht Viel besser erging es übrigens der hinduistischen Ehefrau. Beide konnten ihr Los allerdings durch die Geburt eines Sohnes schlagartig verbessern. Erbbercchtigt waren in den patrilinearen asiatischen Gesellschaften meist nur die Söhne. Mochten Frauen beim Vermögensrecht manchmal noch mit beteiligt sein, so blieben sie vom Sakralerbrecht, das ja die Nachfolge im Be- reich der so fundamentalen Ahnenverehrung regelte, völlig ausgeschlos— sen”. ite— In patrilinearen Gesellschaften pflegen Ehen auf einer soliden Basis zu ste— hen. Vor allem in Indien werden die Regeln sehr genau genommen. Die Ehe ist hier eine Art Sakrament, dessen Besiegelung mit feierlichen Zeremonien (Umschreitung des Heiligen Feuers des Gottes Agni) und mit finanziell fast ruinösem Aufwand begangen wird. Scheidungen bleiben die große Aus» nahme — auch in moderner Zeit, zumal die indische Frau nach wie vor bereit ist, die traditionelle Rolle der aufopfernden Hausfrau und Mutter auf sich zu nehmen. Nirgends kommt dies deutlicher zum Ausdruck als im populären indischen Film, der ja bei aller Melodramatik und Realitätsfernc doch immer wieder um gewisse Grundvorstellungen kreist, die Streifen dieses Genre$ nun einmal zum Kassenschlager machen. Einer der Schlüsselwerte, an denen im kommerziellen Film nie auch nur der Hauch eines Zweifels aufkommt„ ist die Familie — und der Kern dieser Familie: die Mutter in ihrer Rolle als Hüterin und Hohepriesterin der Traditionsbewahrung. Die chinesischC Schriftstellerin Han Suyin, die in dritter Ehe mit einem Inder verheiratet ist Und die das Absorbierende einer größeren Familie eigentlich schon Von China her kennen müßte, schreibt über ihre indische Verwandtschaft: «Eine VI. Wie man «Asiate» wird 279 ebenswertesten, aber manchmal auch_bis aufs Blut reizenden Züge der die Art und Weise, Wie ihre Mitglieder unerschütterlich, bereit- d ohne Unterbrechung immer und ewig beisammen sind, wie sie selben Meer schwimmen wie in einem großen Mutterschoß, un— abänderlich alle miteinander. Selbst_wennsie durch Raum und Zeit vonein- ‚„der getrennt sind, schreiben Sie Sich Briefe, die Kartons füllen... Sie zie_ hen aus der Gesellschaft des anderen em me endendes Gefühl von Wärme und Geborgenheit, von Zusammengehongke1t und gememsamern Interesse, das in der Kindheit beginnt, ihr ganzes Leben durch nicht abretßt, erst mit dem Tode aufhört und alleanderen Bemehungen zwe1trang1g erscheinen läßt Dieses Zusammengehöngkettsgefuhl begunst1gt auch die haufigen Ehe— schließungen zwischen Vettern und Cousmen I. und 2. Grades. Wer von au- ßen kommt, bleibt auf subt11e, unausgesprochene und sehr indische Weise immer außen“ ... Wenn alle Verwandten zusammenkommen, beispiels— weise zu einem Geburtstag oder zu einer Hochzeit, so sind es 470 Personen, die Kleinkinder nicht mitgerechnet”.» Im allgemeinen ist die patrilineare Familie besser als ihr Ruf. Nur theore- tisch erscheint sie als Repertoireveranstaltung mit starr vorgeschriebenem Rollenspiel. In der chinesischen Familienordnung gab es z.B. eine strikte Nomenklatur, an die sich jeweils auch präzise Verhaltenserwartungen knüpften. U. a. sprach man von «drei Vätern und acht Müttern» — hier einige Beispiele für die «acht Mütter» (mu : Mutter): I. «dimu»: Anrede für ein von einer Konkubine geborenes Kind gegenüber der Hauptgattin des Kin— desvaters, z. «jimu»: Bezeichnung für die Stiefmutter, }. «yangmu»: Adop— tivmutter, 4. «cimu»: Anrede für eine Konkubine, die ein Kind der Haupt— gattin betreut, ;. «jiamu»: Bezeichnung für die wiederverheiratete Mutter, 6. «chumu»: Bezeichnung für die geschiedene Mutter, 7. «shumu»: Anrede der von der Hauptgattin geborenen Kinder gegenüber einer Konkubine des Vaters und 8. «rumu»: Bezeichnung für die Anime. Auch für Söhne und Töchter gab es eine klare Reihenfolge (zi = «Kind» oder «Sohn»)z I. «dizi»: ein von der Hauptgattin geborener Sohn, 2. «shuzi»: ein von einer Konku— bine geborener Sohn, 3. «sizi»: der Stammhalter und Fortsetzer des Ahnen— kUlt5‚ 4. «yangzi»: Adoptivsohn, ;. «sisheng Zi»: ein unehelich geborenes Kind. Mit all diesen Bezeichnungen waren, wie gesagt, auch bestimmte Rechte und Pflichten im Ahnenkult, beim Erbrecht etc. verbunden. Die Stellung des Familienoberhaupts war aufs äußerste geschützt: Vater—, Gat— ten— und Familiengewalt bildeten eine unauflösliche Trias. Söhne und Töch— ter galten als eine Art Eigentum der Eltern und hatten kaum eigene Rechte. Ungehorsam und Pietätlosigkeit konnten mit schweren Strafen geahndet werden_ Die «Familiengewalt» umfaßte personelle (Erziehung, Strafe, Ver- tl'n‘—mg) und vermögensrechtliche Aspekte (Verwaltung, Einwilligung, Nut2nießung). Ferner wurde das konfuzianische Familiensystem mit drei HaLlptelementen identifiziert, nämlich Ahnenverehrung, d.h. Einbeziehung der “ . Familie ist willigst un ständlg lm 280 Asiulzst‘bc Gesellschaften und \/'erhaltt’nssttle der verstorbenen Eltern und Großeltern in die lebende Familie, Patriarch“ und Tendenz zur Großfamilie («drei Generationen unter einem Dach»), All diese Qualifizierungen entstammen mehr oder weniger der idealisigu renden Geschichtsschreibung, entsprachen jedoch selten der Wirklichkeir_ Felduntersuchungen seit 1915 decouvrierten immer wieder die These V0m «chinesischen Patriarchat» als reinen «Mythos»”. Bei einer Fragebogemkc tion von 1971 in Hongkong” stellte sich heraus, was ohnehin jedermann Zu wissen glaubt, daß nämlich in 53 % aller befragten Familien die Ehefrau die Entscheidung in sämtlichen wichtigen Familienangelegenheiten trifft « von der Kindererziehung über die Planung des Familienbudgets bis hin zur l» 78 % beiahten die Frage! Ferner hielten es 49% aller Inder für n?$jfiénswert, daß der eigene Ehegatte von den Eltern ausgewählt wird; äler5elben Ansicht waren 38 % der Malaien, wahrend Sich die Chinesen nur noch zu 25 % für eine solche Option erwarrnen konnten. ‘ Das Verhältnis ZWi5chen den Eheleuten 5mgapurs sollte durch folgende Dilemmaffage geklärt werden: - . n abgesehen, nach Wie vor in einem dichten Netz von Selbstverstandlichkei\ [en, die durch überkommene Normen präzise festgelegt und die auch hc nur selten hinterfragt we Gesellschaften, in denen «festgefijgte» sind, sondern auch für schwachstrukturierte Sozietäten, wo es zwar eben_ falls eine Erscheinungsform des «Individualismus» gibt, die jedoch, Wie im Theravada, keinen Wettbewerb auf Kosten anderer, sondern Ausgleich Und Harmonisierung sowie Mitgefühl und Em pathie im ursprünglichen Sinne des Wortes («Mit—hinein—Leidung») befürwortet (Näheres 5.302) überhaupt den westlichen Begriffen «Freiheit» oder «Liberalismus hezu sämtlichen asiatischen Sprachen eine negative Einfärbung widerf ist, weil damit niemals, wie spontan unterstellt wird, gemeinsch liche und verantwortliche Freiheit gemeint ist. Die in ganz Asien übliche Verzärtelung und Verwöhnung des KlClill{indg hat fast immer Ich—Schwäche zur Folge — und damit das Bedürfnis, wenig wie möglich mit anderen anzulegen. Wohin die «sanfte führen pflegt, schildert Kantowsky21 Beziehungsmuster ohnehin zu HauSe . wie ia » In na_ ahren flf[$frcund_ sich so » Erziehung zu treffend im indischen Kontext: Angie» siehts des ständigen Hautkontakts mit Bezugspersonen sei die Kindheit ei— nerseits eine «Zeit erfüllter Bedürfnisse», gleichzeitig aber auch eine Periode «ohne kreative Stimulierungen und Forderungen», zumal eine Bestrafung durch Liebesentzug nicht in Frage komme. Die «Sozialisierung durch Ge— währenlassen» schlage sich vor allem bei den männlichen Nachkommen der «Zweimalgeborenen» in einem unauslöschbaren Persönlichke nieder, nämlich einem überstarken Abhängigkeitsverhältnis zur so ganz im Gegensatz zur Vaterprojektion im Christe Folge sei eine «narzißtische Fixierung» trik, nicht zuletzt abe tätsinstanz, sei es nun itsmerkmal Mutter, das ntum stehe; weitere mit der Folge ausgeprägter Iigoyen— r auch ein passives Verhalten gegenüber jeder Autorh ein Vorgesetzter, ein Lehrer oder ein Älterer. In den metakonfuzianischen Gesellschaften mündet die Einordnung ausgerichtete Erziehung häufig achter nur schwer nachvollziehbare Gruppe oder einem Gruppenmento des Anlehnungsbedürfnisses hat der Begriff «amae» gepr'a'g valent gibt, da hier nir den wird. Amae sei im auf konfliktlose in eine für den westlichen Beob— Neigung, sich in Abhängigkeit zu einer r zu begeben. Für dieses Psychograinin japanische Psychologe Doi Takeoff' den t, für den es in keiner europäischen Sprache ein Aqui- gends zwischen aktiver und passiver Liebe unterschie» Sinne einer solchen I’assivität zu verstehen und müsse als Hauptcharakteristikum der «japanischen Gesellschaft und Kultur» ange- sehen werden”. Prototyp des Amae sei die Sehnsucht des Kindes nach Nliht‘ zu Seiner Mutter sowie, im späteren Leben, die ständige Suche nach immer neuen Mutterstrukturen (Universität, «Club», Betriebsgemeinschaft) * Ci“ Bestreben, das manchmal geradezu «pathologische» Züge annehme und nicht selten von «homosexuellen Neigungen» begleitet sei. Wirklich emotio« Ute rden. Dies gilt nicht nur fur metak0nfu‘z.ianische VI. Wie man «Asiate» wird 291 ' es auf 'a anischem Boden eigentlich nur in Männer- 6 Bellehurllegiilfitgi'erija‘ii ein geie$lschaftliches Treffen in Amerika und Japan, kreisen: Vergf kaum zu überbietende «Mischungsverhältnisse»“. Doi geht 50 stößt man 8“ he Ansätze auf]apan zu übertragen: Nach Freud entsteht HO- weiß Freufis‘ä durCh daß ein Sohn so eng mit seiner Mutter verbunden ist, moer0t'l.‘ la ehließlißih völlig mit ihr identifiziert und nach Liebesobjekten daß er S'IC}"hSC elbst gleichen”. Während der «westliche Mensch» sein Den— suchty (file}:lülirliefl im a“gemeinen nach dem Vater orientiere, liege die Mutter ken iin Grund der östlichen Natur»“’. . . „ . _ . „auf em Inter retation zutrifft oder nicht — Jedenfalls bestat1gt SlCl'] im Ob" diese Kont5xt erneut das panasiatische Bestreben, jeder Art von Un— iapa.in$€hlin't Alleinsein, individueller Selbstbehauptung, Eigeninitiative abhanglgf]('all;tihafrigkeit aus dem Wege zu gehen. In Indien und auf den Phi— ‘lnd.Kon 1 cht man lieber im Familien— und Verwandtenkreß. in Osta51en hpp1nen taffe:r in selbstgewählten Männerbünden, Betriebsgememschaften dageger(li e «Mutterstrukturem unter. Das Ergebnis ist in ledem Fall das und an. el\lilenn flieht vor der individuellen und konfliktbehafteten Einzel- gleIChe. :m Allerdings geschieht dies nicht immer ohne schlechtes Ge- ve'ranthr' eirgier Rundfrage unter asiatischen Studentinnen in der Bundesre- Wissfimi eld der deutsche Erziehungsstil nach anfänglicher Skep515 posmv PUbhk'l‘tV-ulrirefördere die Selbständigkeit, während asiatische Eltern in den Efdiehellsebensjahren gegenüber den Kindlerrll allzu \iiell)Besoigäillääeliggfrklgräcä ' ' ' ' ' tive unterdrückten. Die ‘0 ge seien assw1 _ _ il;lrtetsliilcfiir,lmI-Ileifimung bei mündlichen Prüfungen und Versagen bei 1eder Art - - 17 von Emzelle15tung . nal VII. Vom alltäglichen Umgang zwischen und mit Asiatem: Ein ABC der Begegnungskunde I. Kommunikationsdefizite als Hauptkonfliktquelle Die Form einer Mitteilung ist oft wichtiger als ihr Inhalt, und so kann e_5 nicht überraschen, daß Kommunikationsfehler meist zur Hauptursache von Konflikten werden, über die niemand mehr erstaunt ist als die am Prozgß unmittelbar Beteiligten. Konfliktfreie Kommunikation ist nur dort moglich, wo die Zeichen und Symbole der anderen Kultur beachtet — und Wenigsum die schlimmsten «Fettnäpfehen» umgangen werden. Ein Europäer, der (le eingefleischten Hierarchieregeln mißachtet, der ein «ja» wörtlich nimmt, der freundliche, ins Persönliche gehende Fragen als Zudringlichkeiten emp— findet, der lieber recht behalten als das Gesicht des anderen wahren mochte, der Unpünktlichkeit für eine Beleidigung hält, der einer jungen chinesischen Mutter ein weißes Blumengebinde mit einem Storchensymbol schenkt, ohne zu wissen, daß beides Tod und Unglück bedeutet, oder der «aus Zeiterspar— nis» ein oder mehrere Glieder in der eingefahrenen, innerbetrieblichen In— formations— und Befehlskette ausläßt, wird erstaunt sein, daß er sich in wi, ner neuen, sonst so zuvorkommenden Umwelt, plötzlich unerwarteten Hindernissen gegenübersieht. 2. Das öffentliche Asien: Begegnung mit den «Massen» und Kulturschock Wer sich längere Zeit in Asien aufgehalten und die anfänglich «exotischen» Eindrücke verarbeitet hat, entwickelt ein eigenes, höchst durchwachscnes Asienbild, das durch diese oder jene Vorliebe, 7.. B. eine tiefe Sympathie für den Buddhismus und seine Verklärtheiten, bestimmt sein mag. Gleichwohl bleiben generelle Haltungen bestehen, die auch nach dem 20. oder 30. BC* such noch spontan durchschlagen können und die sich in Vergnügen oder aber Unbehagen äußern. Als höchst positiv werden im allgemeinen die asiatischen Umgangsformen empfunden, die durch formale Höflichkeit, Heiterkeit, Leichtg.ingiglüöilv Kompromißbereitschaft, Geduld, Aufmerksamkeit, Contenancc und vor A,j‚ lem durch das Bestreben bestimmt sind, offene Konflikte atiszugrt‘nzcn. Mit zunehmendem Alter weiß man auch den asiatischen Hang zur Ritualisierung des Mitmenschlichen Zu schätzen — vor allem die Berechenbarkeit des ande- VII. Vom alltäglichen Umgang mit Asiaten 29} Doch gibt es andererseits eine Reihe von ortsüblichen Erscheinungen, f.“. uf den Durchschnittseuropäer, vor allem wenn er alleine reist, zumin- ie & d bei der ersten Begegnung irritierend, ja schockierend wirken und die est . h mit den Stichworten Gedrängel, Schmutz, Lärm und «Kleine Traditio— SIC wiedergeben lassen. ma 5 fast allen asiatischen Gesellschaften, abgesehen von Ausnahmeer- a ' n en wie der Mongolei, Kambodscha oder Laos, gemeinsam ist, sind “Ehemu gll e enw'a'rtigen Menschenmassen, die nie auch nur einen Augen— dl'e Stats aAlgleignseins zulassen. Stets befindet man sich in einer unübersehba— bllClil"esi dahinschlendernden Menschenmenge, in der es Crstaunlichep ren_‚ afss tgimmer friedlich zugeht. Selbst dort, wo es ausnahmsweise einmal weise an än el kommt, wird Aggressivität vermieden. jedermann beginnt zum Ge l kfäftig zu «rudern» und zu schieben, vermeidet aber gleichzeitig dann waiidernde Augenkonmkte; wer nach rechts schiebt, wendet seine helafäs fi)dsicher nach links — und umgekehrt. Überall ein Zusammenklang Bl“ll € Farben und zunächst schwer sortierbarer optischer Eindrücke. .Fast gle erd5 werden Straßenverkehrsregeln eingehalten. Kein Verkehrsmittel, Elalsgreiilcht vertreten wäre — vom Ochsenkarren über das Fahrrad bis zur Kik— scha. Nirgends geht es hierbei bunter, farbiger und lauter zu als in än%len _— und nun gar in Benares, wo sich täglich unubersehbare Pilger- un youjn— 5tenscharen zu den Gaths am heiligen Fluß Ganges hinunterschiebenh— ind er Menge eingekeilt ein «Kleinunternehmer», derquer uber seinem I‘aKrria1 ge— päckträger einen Sarg transportiert, daneben eine halbverhungerte IC) liem Bettler oder ein Sadhu, der sich aufgemacht hat, im Fluß sein'Morgen a dzu nehmen. Wer in dieses «heilige Irrenhaus» (A. Koestler) hineingerat, hat as Gefühl, von einem Ich schnell zu einem jemand zuywerden, zumal dann, wenn ihn auch noch grelle Hitze auflöst und ihn seine «Wurde» verlieren 2 t‘ . „ . l ßAlles überwältigend auch der Lärm. Wer je in einer der SChnellälif1hen ir}—1 gendeiner asiatischen Stadt eine halbe Stunde .zugebrachtuha't, u te $le Wahrscheinlich überrollt von einer Geräuschkuhsse aus unzahltgen Auto u— pen, lärmender Schallplattenmusik von nebenan, Hundegebell und den Aus— rufen umherziehender Händler. Selbst in den Tempeln geht es larrmg zu — man denke an die «Kanonenschüsse», die den Göttern in da0istischen Schreinen zum Opfer gebracht we;den, pder an das manchmal ohrenbetau— bende Geschrei in hinduistischen empe n. ' ‘ . _ Und doch gibt es gerade in Asien überall auch eine Kultur der 5tlljlij dig Verrnutlich eine sublime Form der Flucht vor dem sonst so alles durc rin genden Lärm ist — man denke an die uralten monastis€hen Traditionen des Buddhismus, die sich von Indien bis japan ausgebre1tet und dort in der Me— ditation der Zen-Gemeinschaften einen Höhepunkt gefunden haben, man denke aber auch an die zahllosen Ashrams (wörtlich <>*. Gutes Klima ist dem Durchschnittsfilipino meist mehr wert als geschäftlicher Er— folg. Pakikisama dient der gesellschaftlichen Integration, schadet aber manchmal dem Unternehmergeist und der individuellen Risikobereitschaft. Mitglieder in einem Betrieb, die kaum Leistung erbringen, sich aber als «nett» erweisen, werden mitgeschleppt. Kritische Stimmen5 tadeln die Uberbetonung des «Gefühlsklimas»: Das lahme den Leistungswillen. c) Gesicht Beherzigt man in Asien nichts weiter als die Regel «Gesicht geben, niemals Gesrcht nehmen, selbst Gesicht wahren», so ist fast schon alles Wichtige ge» tan. Jedermann hat ein soziales Gesicht, mit dem bestimmte Frwartürwen verbunden sind und das nicht nur stimdiger Bewährung, sondern auch PU’CF' manenter Bestätigungen bedarf— der Dolmetscher hat ein Dolmetscher-, der Kaufmann ein Kaufmanns— und der Student ein Studenten—«Gesicht»; ferner hat Jedermann einen bestimmten gesellschaftlichen Rang und ein bestimmtes Alter. Wehe demjenigen, der einen anderen Gesicht verlieren läßt (z. B. an VII. Vom alltäglichen Umgang mit Asiazen 299 den sprachlichen Qualitäten eines Dolmetschers offen Kritik übt), oder aber demienigen, der selber «aus der Rolle fällt». Behandlung von oben herab, Zurechtweisungen, «ehrliche» Aussprachen etc. führen am ehesten dazu, daß ein anderer sein «Gesicht verliert» (chm.: shimian, tharl.: khai naa), Die Angst vor Gesicht5verlust ist in ganz Asien gerbre1tet und heißt in Tagalog beispielsweise «hiya». Hiya ist, nach Bulatao , die «Angst vor Preisgabe des wichtigsten, was man hat: des eigenen Selbst. Es ist em Gefühl, das die Selbstbehauptung erschwert oder gefährdet, eine Angst vor Bloßstellung. Hiya kann dazu führen, daß der einzelne aus Furcht vor Gesrchtsverlust sich weigert‚ein auch nur margmales Risrk0 emzugehen. Asraten werden so erzo— gen, daß sie von der Gemeinschaft anerkannt werden; es ist für sie sehr wichtig, Was die anderen über sie denken, vor allem die Alten, die Familien- oberhäupter und die Nachbarn. lm Tagalog gibt es bezeichnenderweise nicht weniger als sechs Ausdrücke für das «Gesicht». Will man sein «Gesicht wahren» (thail.: kreng chai) statt, wie die Kam— bodschaner sagen, es zu «zerbrechen» (bak muk), so empfiehlt sich ein Ver— halten, das auf Thai «chai yen yin» heißt. Ein Mensch mit Chai yen yin ver— liert niemals die Selbstbeherrschung, ist immer gleichmäßig temperiert, zeigt möglichst nie Gefühle, fährt auch dann nicht aus der Haut, wenn er beleidigt worden ist, und belastet niemanden mit seinen Sorgen. Seine stoische Ruhe läßt den Gegner töricht, ia lacherlich erscheinen. Ein Mensch mit Chai yen legt immer ein freundliches, höfliches, nach Möglichkeit lächelnd—noncha— lautes und angenehmes Verhalten an den Tag und zeichnet sich durch Heiter— keit, Leichtgängigkeit, angenehme Umgangsformen und sogar eine gewisse Anmut aus. In seiner Umgebung kommt es niemals zu Spannungen, da er sich, wenn es ernst wird, physisch oder metaphorisch «aus dem Staub macht», wie ja überhaupt Rückzug statt Gegenangriff eine wichtige Lebens— regel ist. Das Gegenteil von Chai yen ist «Chai ron» (heißes Herz), das Zorn hochkommen und die Selbstbeherrschung vergessen läßt. Als erstrebenswert gilt ein durch und durch ausbalanciertes Verhalten, sei es die Erhabenheit und buddha—gleiche Entrücktheit eines Mönchs oder auch nur die souveräne «Trockenheit» eines Witzeerzählers7. Die Anthropo— l0gin Ruth Benedict hat die berühmte Unterscheidung zwischen (westlicher) «Schuld»— und (östlicher) Schamkultur in die wissenschaftliche Diskussion eingeführt. Es wäre vielleicht treffender, nicht von Schamf, sondern von «Gesichtskultur» zu sprechen. 11) Indire/etbeit Der Europäer pflegt in seinem Mitteilungsverhalten wesentlich direkter zu sein als der Durchschnittsasiate. Man redet hier nicht lange um den Brei herum, sondern «packt den Stier bei den Hörnern», «redet deut5Ch» oder Wle dergleichen Ausdrücke sonst noch lauten mögen, Während der wohler— 100 Asiatische Gesellschaften und Verbaltensstile zogene Asiate zumeist mit Umschreibungen, Andeutungen und Symbolen arbeitet. Je wichtiger eine Botschaft, um so behutsamer die Mitteilung. Man fällt nicht «mit der Tür ins Haus», sondern spricht sich zunächst einmal Vo“ Mensch zu Mensch an, Dabei werden im allgemeinen Bemerkungen einfach_ ster Strickart ausgetauscht, wobei das Wetter den sozusagen idealen An— knüpfungspunkt abgibt. Erst langsam tastet man sich dann an den eigentli- chen Verhandlungsgegenstand heran. Auch hier wieder gilt: keine Sponta— neität! Man ist immer wieder überrascht, mit welch «ungeheurem Interesse„ asiatische Gesprächspartner Bemerkungen über das Wetter, über die Güte des Schlafs in der vergangenen Nacht u. dgl. quittieren. Auch scheint es auf der Welt nichts Wichtigeres zu geben als Berichte des Gastes über die Dauer seines Aufenthaltes im Land und über die einzelnen Stationen seiner Reise Louis Fischerg berichtet vom Fall einer Prijaji(Adels)—Familie in einem j;,i_ vanischen Dorf, die verhindern wollte, daß ihre Tochter mit dem Sohn des Postmeisters eine Liaison einging. Hierbei bediente sie sich der typisch iaVa— nisch-indirekten Form. Die Mutter des Mädchens lud nämlich die Postmei- sterin zum Tee ein und ließ dabei traditionelle Symbolik zu Worte kommen; Wird kein Tee vorgesetzt, so darf der Gast nach javanischem Brauchtum nur einen Augenblick verweilen; wird das Getränk unmittelbar nach Ankunft des Gastes gereicht, so hat der Besuch kurz zu sein; im vorliegenden Fall servierte die Prijaji-Dame den Tee zwar erst nach geraumer Zeit, legte ihm aber eine Banane bei, also eine höchst gewöhnliche Frucht, die an jedem Wegrand wächst und die normalerweise nicht zu einer solchen Teestunde ge- hört. Damit war genügend deutlich ausgedrückt, daß die Tochter eines Edel— mannes nicht einen Postmeisterssohn heiratet. In China werden Kritik und Opposition innerhalb der Machtelite im Wege des traditionellen «Schattenschießens» vorgebracht, wofür u.a. die «Anti—Konfuziuskampagne» 1974 charakteristisch war, bei der nicht der Konfuzius der Antike, sondern der Konfuzius des Jahres 1974, nämlich Zhou Enlai, ins Feuer geriet. Gehört jemand nicht zu den Mächtigen, kann er sich freilich nicht einmal das Schattenschießen erlauben und ist statt des— sen auf noch subtilere Mittel angewiesen. Zwei der bedeutendsten modernen Schriftsteller Chinas, Mao Dun und Ding Ling, beschränkten sich beispiels- weise auf die bloße Schilderung persönlichen Leidens, ein Vorgehen, das aufgrund einer langen chinesischen Tradition als Mittel indirekter Kritik le- glt1m ist. Hierbei kommt es allerdings darauf an, die Toleranzgrenze Zwi- schen aktiver Kritik (z.B. in Form einer kritischen Analyse des Obrigkeits— verhaltens) und passivem Klagen nicht zu überschreiten. Selbst die anson- sten nicht kleinlichen Reformer achteten bei der nach 1979 erscheinenden «Narbenliteratur» stets darauf, daß die KP—Legitimation nicht hinterfragt Wurde. Bei Verstößen gab es harte Reaktionen: Als der von politischen Kampagnen gebeugte Held in dem Film «Bittere Liebe» am Schluß aus der Gesellschaft flieht und sterbend ein großes Fragezeichen in den Schnee malt, VII. Vom alltäglichen Umgang mit Asialcn 301 folgte eine monatelange Kampagne gegen Regisseur und Buchautor „ er war zu «direkt» geworden. . . ' _ . . _ Bei der Selbstkrmk zeigt SlCll allerdings ein tlcfgrt’1lcndel‘ Unterschied zwi— schen der metakonfuzianischen und der indischen‘GL-Sellschaft. Die ohnehin sehr kommunikationsfreudigen Inder sind kaum,-ie zurückhaltend, wenn es darum geht, Kritik an ihrem eigenen System zu uben. Anders als Chinesen oderjg‚paner, die ihre schmutzige Wasche vor den Augen Ijremderin der hin— tersten Ecke des Schrankes verstecken, waschen Inder sie in aller Offentlich— keit. Zu ReCht bemerkt Handkel, «daß Sich für den Außenstehendcn dadurch leicht der Eindruck einer unmittelbar bevorstehenden Katastrophe crgibr, obwohl tatsächlich nichts geschieht». Nicht zuletzt selbstknt1syche Ubertrei— bungen dieser Art haben dazu geliihrt,gdaß viele Ausländer indische Pro» bleme‚ so schwer sie auch sein mögen, in meist noch krasserer Verzerrung sehen. China andererseits kann gar nicht genug davon bekommen, sich und seine Methoden gegenüber dem Ausland ins beste Licht zu rücken, sei es früher die Kulturrevolution oder neuerdings die Reformpolitik. Dadurch entsteht die Gefahr, daß man nicht über das Reale, sondern über das Modell— hafte spricht. Merkwürdigerweise verzeihen die meisten Ausländer solche Übertreibungen gern den Chinesen, nicht iedoch den Victnamesen, von de— nen Pike meint, sie seien bei Selbstdarstellungen ihr «eigener Iirzfeind: je mehr sie sprechen, desto mehr Befremden rufen sie hervor»? Sogarjapaner geraten bei Eigendarstellungeii schnell in Selbstbcwcihräucherung. Angesichts der «Indirektheit» von Kommunikationsvorgiingen bedient man sich in Asien gern des Mittelsmannes, sei es nun des Ehestifters, des Schlichters oder ganz einfach des Kontaktmanns zwischen Behörden und Ba— sis. Die klassische Figur, die im ländlichen Indien den Abgrund zwischen Administrativorganen und Bauern zu überbrücken pflegt, ist der Pyraveekar (von persisch: pyrov : betreiben, erledigen und kar : Arbeit). I’yraveckars gibt es auf dörflicher, regionaler, nationaler und internationaler Ebene. Sie treten als Kommissionäre im Handel, als Makler bei (‚}rundstücksgesch'ziften, als Heiratsvermittler und als «Dolmetscher» zwischen Behörden und Bauern auf, wobei sie sich vor allem im Rahmen der ländlichen Iintwicklungspro— gmmme ein ergiebiges Arbeitsfeld geschaffen haben“. Der Pyraveekar kann entweder ein Beamter sein, der nebenbei Vermittlungsdienste übernimmt, Oder aber ein professioneller Mittelsmann. Während es in westlichen Gesell— schaften für Vermittlungszwecke PressureGroups und in sozialistischen Ge— sellschaften Parteifunktionäre gibt, sind Bauern in vielen Drittwelt—I.iindern Asiens auf den Mittelsmann angewiesen, vorallem in Indien, wo eine einzige Kreisbehörde bisweilen für bis zu drei Millionen Personen zuständig ist und V_VO Kreisstädte vom letzten Dorf manchmal bis zu 250 Kilometer entfernt liegen können. Angesichts seiner Uneiitbchrlichkeit liegt es auf der Hand, daß der Pyraveekar sich seine Dienste fürstlich honorieren läßt — und damit den Dörflern ähnlich schadet wie der notorische Geldverleiher. 302 Asmtische Gesellschaften und Verbaltensstile e) Gemeinschaftsftlbligkezt statt Individuali5mus Nitgends tritt der west—östliche Unterschied holzschnitthafter zutage als bei der Frage, 0 die Einzelperson ein autonomes oder aber ein heteronomes Wesen sei. Seit der Renaissance bestimmt sich das «abendländische» Men— schenbild durch die Stichworte: «Träger selbstverantwortlicher Würde», freie Entfaltung des Individuums, Schuldgefühl bei Aufgabenverfehlung‘ Rechtsethos und Vertragsdenken, Ich—Bewußtsein, Mut zum Konflikt, Ge— fahr der Isolierung — in jedem Fall aber: Streben nach Unabhängigkeit. Die asiatischen Korrelate zu diesen neun Begriffen wären: Gemeinschaftg‚ wesen, Gemeinschaftsfühligkeit, «Scham»—Gefühl, Pflichtethos und Korpo_ rativität, Wir—Bewußtsein, Streben nach Harmonie, gegenseitige Abstim_ mung und Streben nach Abhängigkeit. Selbst in Gesellschaften mit Verein, zelungscharakteristik, wie es beim Theravada der Fall ist, hat der «Indivi» dualismus» eine andere Einfärbung. In der westlichen Tradition ist der Be— griff positiv, im Theravada dagegen negativ besetzt. Weil der Mensch hier nicht als «Abbild Gottes» gilt, weil er nicht durch Gnade erlöst wird und weil ihm niemand helfen kann als nur er sich selbst, ist sein «Individua1ß- mus» eher ein «Alleinsein» als ein selbstbewußtes Für—sich-Sein. Dem Mit— menschen gegenüber ist folglich auch keine positive und aktive Zuwendung geboten, sondern ein Unterlassen von Leidzufügung und ein (passives) Mir— Fühlen, Mit—Leiden und Mit—Empfinden. Vor diesem Hintergrund wird ver— ständlich, warum der thailändische oder birmanische «Individualist» alles andere als ein Ellenbogenmensch ist und statt dessen Neigungen entwickelt, die denen des westlichen Individualismus antipodenhaft entgegengesetzt sind, z. B. nach Abhängigkeit von einer Clique und vor allem nach Harmo— nie mit seiner Umgebung. f) Hierarchiebewußtrein Einer der wichtigsten Mechanismen zur Sicherstellung der Harmonie ist ne— ben der guten Atmosphäre, der Wahrung des «Gesichts», der Indirektheit und der Gemeinschaftsfiihligkeit die Anerkennung der bestehenden Hierar— chie, für die fast jeder Asiate eine überempfindliche Antenne besitzt. Dies gilt vor allem für die metakonfuzianischen Gesellschaften, wo die Hierarchie so stark ausgeprägt ist, daß einem Sprecher, der den Rang seines Gegenüber nicht kennt, die Zunge versagt, so im japanischen und Koreanischen. Wer an der Spitze einer Delegation erscheint, ist ohne Zweifel die Num- mer eins. jeder Wechsel in der Reihenfolge Wiese auf eine « als solche ganz überraschende — Änderung in der Führung hin. Hierarchien sind auch bel Sitzordnungen zu beachten: Entweder sitzt der Delegationsleiter der Gäste— S€ite direkt zur Rechten des Verhandlungsleiters der Gastgeberseite, oder aber Sie sitzen sich gegenüber: Das erstere ist manchmal bei großen Rundti- VII. Vom alltäglichen Umgang mit Asiaten 303 das letztere dagegen bei Langtischen der Fall, wobei die Verhand— SChenfeiter genau in der Mitte des Tisches Platz nehmen, zu ihrer Rechten glizgjzweilige Nummer zwei, zu ihrer Linken die Nummer drei; der zweite rechts ist die Nummer Vier, der zweite von links die Nummer fünf usf. Voilder Verhandlung selbst gibt es auf leder Seite immer nur einen Sprecher. 3211 ein anderes Delegationsmitglied Bemerkungen einflechten, so darf es nicht einfach dazwischenreden, sondern muß bei seinem «Sprecher» ums W%?„Efifg SChlimmsten Fehler, deryeinemEuropäerunterlaufen kann, ist das Überspringen eines Glieds der Hierarchiekette. Wahrend sich ein Deut— scher manchmal aus Gründen der «Schnelligkeit und um der Sache Willen» direkt an den zuständigen Sachbearbeiter wendet, beachtet man in metakon— fuzianisch organisierten Unternehmen stets genauestens den Dienstweg, auch wenn dies noch so ze1traubend sem mag. . . In den theravadabuddhistischen und malayo—rslam15chen Gesellschaften geht es auf den Dörfern zwar höchst egalttär zu, zw15chen Bauernschaft und Bürokratie dagegen entwickelt sich sogleich Wieder ein. steiles Gefalle, das sich sowohl in Verhaltens— als auch in Sprachformen niedersehlagt. In den beiden verwandten Sprachen Thai und Laotisch ist es beispielsweise unmog- lich, in neutraler Weise das «Ich» oder «Du» zuverwenden; v1elmehr veran- dern sich solche Ausdrücke je nachdem, ob es Sich beim Adressaten umeme über— oder untergeordnete Person handelt. Abstufende Ausdrucke dieser Art werden bereits innerhalb der Familie, aber auch analog in der außerfarm— liären Kommunikation verwandt. Je nachdem, ob der Gesprächspartner al- ter oder jünger ist, kommt ein Vokabular zum Einsatz, das entweder gegen— über dem Großvater, dem Vater, der Mutter, dem Bruder oder aber der Schwester zu verwenden wäre. (Im volksrepublikanischen Laos experimen— tiert man z.Zt. mit einer egalisierenden Ausdruckswe1se.) Was den berufli— chen Status anbelangt, so stehen Mönche oder Beamte äußerst hoch im An— sehen, während Kaufleute in der Tradition niedr1g_emgestuft wurden. Ein laotisches Sprichwort lautet «Zehn Kaufleute Sind tllCht4$0 v1el wert Wie der Diener eines Gelehrten»”. Auch der Bauer steht in seinem Ansehen noch hoch über dem Kaufmann, wobei hinzuzufügen wäre, daß derüKaufmanns— beruf in Laos im allgemeinen von Ausländern, nämlich von Gh1nesen, In— dem oder Vietnamesen, wahrgenommen wird. (Wohlhabenhen wurde Im traditionellen Laos übrigens nach der verfügbaren Reismenge gemessen. Erst die neue Zeit bringt hier andere Maßstäbe hervor.) Um selbst hoher zu kommen, hängt man sich an einen Leitstern und schenkt seine Loyahtat nur der betreffenden Person, nicht irgendeiner Institution. Hat man Erfolg, füim der Weg schnell nach oben, verblaßt dagegen der Leitstern, so nimmt man dies wie ein Schicksal, nicht jedoch wie eigene Schuld hin. . Das tiefeingewurzelte Hierarchieverständnis erklärt im übrigen auch, Warum es in Asien fast nirgends «Geselligkeit» als gleichsam «asthet15che5 Asiatische Gesellschaften und Verbaltensstile 304 Spiel» gibt. Selbst zwischen Meister und ]üngern wirft man sich hier nich die Bälle und Anregungen zu, sondern schweigt ehrfürchtig vor dem «Lebt rer». In einer Chinesischen oder japanischen Gesprächsrunde führt fast _ der oberste Anwesende das Wort — und jedermann hat zu lachen wen nur das Zeichen dazu gibt. Kein Wunder, daß angesichts solcher Mondkng {ser geistre1ches Zwregespräch und schon gar kein «gemeinsames zwan rl im Philosoph1eren» zustande kommt. % 0565 Während zahlreiche asiatische Gesellschaften die Ungleichheit entw du als karma—verursacht oder als gottgewollt (Islam) akzeptieren herrs—he _sr der (überw1egend katholischen) philippinischen Gesellschaft dai Gefühl tr m daß die Menschen im allgemeinen gleich seien. Wer sich über die andxmn erhebt, wird schnell zum Gegenstand allgemeiner Mißbilligung Auchiilen— mit der egalitaristischen Betrachtungsweise zusammenhängende Ph'in > 515 Neid ist in den theravadabuddhistischen oder malaiiseh—isfamischenl(fer—“illn schaften so gut wie unbekannt, auf den Philippinen dagegen weit verbjreifx » Man bemüht sich daher, Erfolge zu verkleinern und neuerworbenen Reieif turn so weit wie möglich zu verheimlichen, um nicht Neid und Forderun ve— auf srch zu ziehen”. Allerdings gibt es wenige gesellschaftliche Spitzen » iion allem die zoo bis 300 Ilustrado—Familien, die sozusagen jenseits von Gut und Böse stehen und unschuldigsten Gewissens «palakasan» verlangen d h eine pr1vrlegterte Behandlung durch die Machthaber. Die Söhne und Tochter wohlhabender Familien, die sich am Rande des Gesetzes ihre Eskapaden lei— sten und dafür im allgemeinen kaum zur Rechenschaft gezogen werden sind Dauergegenstand heller Empörung in der philippinischen Presse. “ g) Rz!uali5iemng von V)rlmltenttaeßenr Berec*benl7arkeit und Konservativismus Harmonie läßt sich nur wahren, wenn die Umgebung berechenbar bleibt. Spontane1tät und «Go—ins» sind der Schrecken jedes Asiaten. Daher auch der Hang zur Ritualisierung möglichst vieler gesellschaftlicher Situationen. Sogar Konflikte lassen sich ja durch bewußt formelles Verhalten auf ein Mir mmum herabschrauben. Korrekte Verbeugungen, Benutzung der richti°cn Begrüßungsformeln zwischen Gleichen sowie gegenüber Vorgesetzten Lind verehrende bis kritiklose Anerkennung dessen, was ein Lehrer seinem Schü- ler oder ein Vorgesetzter seinem Untergebenen beibringt, sowie überhaupt Konformismus in allen Lebenslagen können dafür sorgen, daß eine "ulC «Atmosphäre» herrseht. «Man» überreicht bei der Vorstellung Visitenkar— ten, «man» bietet den Gästen ein präzises Programm, «man» stellt den (;;r St€n Tee vor, der von einer sonst schweigend im Hintergrund sitzenden Per— son e1ngesehenkt wird. i ‘ kaiii„gerilaäoéiilzzial‚nls-Chen und auch in der hinduistischen Gesellschaft a nliche «Ritcnfr0mmigkeit», die mit der Gesetzeslnim“ VII. Vom alltäglichen Umgang mit Asiaten 305 migkei‘ der alten Israeliten vergleichbar.war. Der Nachvollzug der traditio— geilen Normen als solcherwar bereits ein in sich srttlicher und von der Ge— sellschaft aufs außerste gebt]hgter und geherhgter Akt, da die «Li»—Vorschrif- ten ja nach traditioneller Interpretation nichts anderes waren als Widerspie— dungen makrokosmrscher Gesetze im Mikrokosmos der Familie oder der näheren sozialen Umgebung. Als altester Sohn trauerte «man» drei jahre enn der Vater gestorben war, selbst wenn man keinerlei wirkliche Trauer empfand. «Man» feierte Feste nach einem bestimmten Schema, «man» leistete 0brigkeitlichen Ermahnungen Lippendienste usw. Für das «Ich» gab es wenig legitime Entfaltungsmöglichkeiten. Dies galt und gilt erst recht in der hinduistischen Kastengesellschaft sowie in Gesellschaften, die einst im Zeichen des Hinduismus standen, wie z.B. Java. Vor allem dann, wenn gegensätzliche Interessen aufeinander zukommen, flieht man ins Ri- tual, schreitet zur gemeinschaftlichen Abstimmung (musjawarah) und be- schließt die Einigung mit einem Slametan—Mahl. Angesichts dieser Rituali- sierung weiter Lebensbereiche hat ein westlicher Beobachter manchmal den Eindruck, die Toten herrschten mit ihren Traditionen über die Lebenden. Kein Wunder, daß angesichts dieser Einstellung überall in Asien der Kon- servativismus zu Hause ist. Ein «westliches» Bedürfnis nach «Selbstverwirk— lichung», nach «neuen Erfahrungen» und nach «größerer Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung» ist dem Asiaten, sieht man einmal von wenigen Ausnahmen ab, auch heute noch fremd. Ihm genügt es, wenn seine Bedürf— nisse nach sozialer Einordnung, nach Sicherheit, nach Statusbestätigung und vor allem nach Berechenbarkeit des sozialen Umfelds befriedigt werden. Dieses Kriterium der «Berechenbarkeit» läßt es auch logisch erscheinen, daß der Durchschnittsasiate an Partnern und Waren, die ihm einmal vertraut ge- worden sind, lange festhält. Wer zu einem «Freund» geworden ist, pflegt dies geraume Zeit zu bleiben. Das positive Bild von «den Deutschen» und von «Deutschland», wie es heute fast überall in Asien präsent ist, kann des— halb gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Nicht nur «Freunde», sondern auch Waren können übrigens schnell eine Art Fetischcharakter annehmen. Ein Beispiel dafür ist der Verkauf von «Hamburger Hufeisen» um diejahrhundertwende, wie er von dem amerika— nischen Geschäftsmann Carl Crow” geschildert wird: Als Ende des I9.]ahrhunderts noch Segelschiffe nach China fuhren und dabei nur auf dem Rückwege voll beladen waren, galt es, für den Hinweg Ballast mitzuführen. Eines der Schiffe brachte hierbei eine Ladung alter Hufeisen aus der Hanse- Stadt mit und setzte sie in Shanghai zu Schleuderpreisen ab. Bald stellte es Sich heraus, daß die Hufeisen — halbiert und geschliffen — ideale Rasierme5— ser im traditionellen Stil abgaben. Im Nu stieg die Nachfrage so stark, daß die Reederei den Bedarf kaum noch decken konnte. Dadurch angespornt, versuchten nun auch Schiffe aus Liverpool und Antwerpen alte Hufeisen an— leliefern, stießen jedoch auf eine Mauer der Ablehnung. Die chinesischen lang, W Asidti5(he Gesellschaften und Verbaltensszi/e 306 Schmiede behaupteten, daß «erst die Größe und das Gewicht der deutschen Zugpferde und das tägliche Abschleifen der Hufeisen auf dem Hamburger Granitpflaster dem Metall jenen Schliff gaben, der gerade für die Erzeugu„g von Rasiermessern notwendig und in keiner Stadt gleichwertig sei». Am Ende wurden in Hamburg Hufeisen aus aller Welt gesammelt und von dort aus zügig nach China verschiffi, wo sie reißenden Absatz fanden, da sie «aus Hamburg» stammten. Wie gesagt: Wer oder was immer einen guten Ruf er— langt hat, behält ihn lange. 19} Gegenseizz'gkez'r In ganz Asien sind die Tugenden des Verpflichtungsdenkens, der Dankbar» keit und der Gegenseitigkeit weit stärker ausgeprägt als in Europa. Den Hö_ hepunkt erreicht dabei japan. Dort gibt es z. B. nicht weniger als 35 ver— schiedene Ausdrücke ftir Geschenke, wie z.B. Abschiedsn Einführungs— oder Beerdigungsgeschenke etc.”. Während man im Westen oft mehr ideelle und individuelle Geschenke macht, seien es nun persönliche Zeichnungen oder Blumen, entsprechen die japanischen Darreichungen materiell exakt der Gegengabe und richten sich im übrigen auch nach dem Rang, dem Alter und der konkreten sozialen Situation, so daß es vorkommen kann, daß je? mand dutzendernal das gleiche Hemd oder eine Flasche Salatöl erhält. Ist der Wert der Gegengabe. geringer als das ursprüngliche Geschenk, kommt Befremden auf, ist er dagegen höher, muß der Beschenkte sogleich nach- schießen, so daß sich hieraus schlimmstenfalls eine endlose Eskalationsspi— rale ergeben kann. Wer als Ausländer die Probe aufs Exempel machen will und seinem Gastgeber ein Geschenk von unterwegs mitbringt, wird diesen Beschluß vielleicht schon bald bereuen, wenn er es nicht versteht, das gegen— seitige Hin und Her des Sehenkens taktvoll wieder «herunterzufahren». Es gibt jedoch (rituell genau festgelegte) Gelegenheiten, bei denen der \X”CI'I der Geschenke nicht im Gleichgewicht stehen muß. Ein klassisches Beispiel (lil' für ist die Hochzeitsgabe, die vom Brautpaar nach Abschluß der Feierliclr keiten mit einem Gegengeschenk erwidert wird, das nur einen Teil des \‘i'erts der Brautgabe ausmacht. Hier und bei anderen Gelegenheiten entwickelt sich m. a. W. eine regelrechte Geschenkmathematik. Da die Geschenkpraxis so hochgradig ritualisiert ist, hat sich die Gepflo« genheit eingebiirgert, die meist hochiisthetische Verpackung sorgfältig zu Öffnen, die Karte des Schenkers herauszunehmen, sie durch seine eigene ZU ersetzen und das Geschenk dann weiter «auf Rundreise» zu schicken; pein- lich nur, wenn darin verderbliche Gegenstände untergebracht sind und einer der Beschenkten auf die unglücklich Idee kommen sollte, das Paket zu öff— nen. Um solche Praktiken zu unterbinden, sind die Geschenkabteilungefl mancher Kaufhäuser inzwischen dazu übergegangen, außen sichtbar einen Datumsstempel aufzudriicken. VII. Vom alltäglichen Umgang mit Asiaten 307 dieser «Ge enseitigkeitspraxis» ist die Harmonisierung der Hauptszri.ClI\/Ianchmal wirden freilich die Grenzen zwischen einer Höf- Bezlebunäbe und einer Bestechung hauehdünn — man denke etwa an Ge- lic1illlwlts%üy Politiker oder gar für Lehrer, die am nächsten Tag die Prüfung SChenkesohn des Schenkers abzunehmen haben. Da die Gaben stets einge_ fü-rde1n 'nd da sie vom Schenker als «höchst bescheiden» hingestelh wer- Wlee [dSlda ‚sie schließlich stets eine Gegenverpflichtung nach sich ziehen, den un höchst delikate Grenzfälle. Zur Bestechung wird das Geschenk entstehen t in dem Augenblick, da der Lehrer bessere als die verdienten No— freillCh ?b5t oder der Politiker bei einer Genehmigung die Augen zudrückt‘“. ten Ve_fghlt noch stärker als in japan (sowie in Korea oder in China) ist der Viellelfier Gegenseitigkeit auf den Philippinen ausgebildet. Zentraler Aus— giiäk der dortigen Verpflichtungsphilosophie ist «utang na Ioob». Inne sol— che «Ehrenverpflichmng» kommt zumeist in drei Schritten zustande: Zuerst rfoIgt die Übergabe eines «Geschenks» an eine Bezugsperson, bei der man e' h in Erinnerung bringen will, wobei diese Gabe vom einfachsten Gegen— SIC d bis hin zur Überlassung ganzer Latifundien gehen kann, je nach dem sm:sönlichen oder politischen Zuschnitt der beiden Parteien. In einem zwei— teen Akt folgt die Annahme oder Ablehnung. Annahme ist gleichbedeutergd mit der Errichtung eines wechselseitigen Verpfhchtungsverhaltmsses, A — lehnung läuft de facto auf einen «Korb» hinaus, der selten verz1ehen Wird. Der dritte Schritt besteht dann in einer Gegenleistung, die praktisch wie— derum eine Neuverpflichtung mit sich bringt. Die Utang—na—Ioob—Bezm- hung löst also objektiv eine Gegenleistung aus, zielt aber vor allem auf eine innere «Verbundenheit» hin, die vom Beschenkten gefli55entlic‘h zur Schau getragen werden muß. Dieses Verbundenheitsgefühl ist n0ch Wichtiger als die Gegenleistung. Es handelt sich hier also weniger um kommerz1elle A(;l$f; tausch— als vielmehr um soziale Integratiönsbezwhungen. Kein Wunder, a das größte Lob für einen Filipino darin besteht, daß man ihn alsb«eifikenkr)it— lich» hinstellt, während der größte Tadel im Vorwurf der}Dndank ar {eig e— steht”. Die Folgen dieses Rollenverständnßses Sind betrachtheh. Sie u (ij'en zu einer weitgehenden Personalisierung aller Beziehungen, zu «fließen. en Übergängen» zwischen Privatgeschenken und Bestechung sow1e zur Kohde— rung Von Wählern. Der örtliche Repräsentant einer politischen „Partei r1c tet beispielsweise eine Dorfhochzeit aus und verkündet aufdem Hohepunktdgs Festes, daß die. Gäste doch bitte einen bestimmten Politiker wahlen moc — ten. _ . . Weniger ausgebildet ist die Gegenseitigkeit— und Dankbarkeitsph1äo(sjogh1g in den Theravada—Ländern. Wer nämlich glaubt, daß eine Wohltat e ig ic die Folge karmischen Tuns ist, wird wenig Anlaß zur Dankbarkeit empfin— den. Ein theravadabuddhistischer Mönch gar, der Sich von den Glaub1gen mit Reis beschenken läßt, sieht keinerlei Anlaß, sich zu bedanken, son— dern erwartet umgekehrt diesen «Dank» vom Schenker, dem er ia Gelegen— 308 Asiatische Gesellschaften und Verbaltensstile heit zur Wohltätigkeit und damit zur Verbesserung des eigenen Karmas ge— geben hat. ;) Aggressionsstan: Die Kehrseite der Harmonie Eine gerade im Zusammenhang mit den Theravada—Gesellschaften häufig ge— stellte Frage lautet, wie Liebenswürdigkeit, Selbstbeherrschung und Tole, ranz vereinbar seien mit jenem «Vulkanismus», der zwar nur vereinzelt, da— für aber um so elementarer zutage tritt und der beweist, daß es unter der anscheinend so ruhigen Oberfläche heftig brodeln kann — man denke an die zahlreichen zwischen Birma, Siam und Kambodscha im Laufe der ]ahrhun_ derte geführten und mit eruptiver Brutalit'a't ausgetragenen Kriege (Vernich- tung Angkors und Brandschatzung Vientianes durch die Thai) oder aber an die prima facie etwas unverständliche Tatsache, daß das Verbrechen des Tot. schlags in dem sonst so friedlichen Birma häufiger vorkommt als in irgendei— nem anderen asiatischen Staat. Auf der Suche nach den Gründen für dieses so inkonsistente Verhalten, verweist Pye18 auf den kindlichen Sozialisierungsprozeß und wäth hierbei fast alle Schuld auf die birmanische Mutter ab, deren Verhalten dem Kind gegeniiber höchst zweispältig sei: Auf der einen Seite wende sie ihm alle mütterliche Liebe und Wärme zu, um jedoch im nächsten Augenblick wie— der «kalt, distanziert und sogar grausam neckend mit dem Kind umzuge» hen». Ständig werde das Kind so einem Wechselbad zwischen Zuneigung, Schamgefiihl und Angst ausgesetzt — Angst nicht zuletzt auch deshalb, weil es immer wieder mit den Nats (Dämonen) erschreckt werde. Im Kinde ent— stehe auf diese Weise eine Haltung permanenten Mißtrauens und ständiger Angst, die offen zur Schau zu tragen sich freilich nicht zieme. Unter einer dünnen Kruste von Sanftmut und lächelnder Höflichkeit verbörgen sich des? halb Furcht und Mißtrauen, die man durch Streben nach Macht zu kompem sieren suche. Absurde Deutungen dieser Art hätten sich vermeiden lassen, wäre das gee samtasiatische Spektrum im Visier geblieben. Kehren doch dieselben Wider— sprüche auch im chinesischen und japanischen Verhalten wieder. Wenn es um Klärung des Widerspruchs von strenger Etikette und wilder Aggressivi— tät geht, braucht man nicht unbedingt auf Fehlleistungen der birrnaniscberz Mutter zurückgreifen. Vulkanismus ist vielmehr die Kehrseite iibermäßigcr Selbstzügelung, ist eine Art Ventil für den im Inneren angestauten Uber- druck. Während Angehörige anderer Völker, man denke vor allem an die Südeuropäer, im Rahmen ihrer Verhaltenskultur ausreichend Gelegenheit haben, Spontaneität zu entfalten und erst gar keinen Aggressionsstau auf— kommen zu lassen, bleibt den meisten asiatischen Völkern, deren Verhalten von einem Maskenkodex geregelt ist, gar nichts anderes übrig, als Aggres— stonen nach innen abzulenken, m. a. W. also alles «in sich hineinzufressenm VII. Vom alltäglichen Umgang niit Asmten 309 Kein Wunder, wenn eines Tages die innere Erdung nicht mehr funktioniert und das Gewitter dann mit Vehemenz nach außen abgeleitet wird. Uberall halten zwar (im «Sicherungen» den inneren Spannungen lange Zeit stand; brennen sie aber einmal durch, so gibt es kein Halten mehr. Dies wäre übri— enS auch eine Erklärung fur die Ausschreitungen der japanischen Soldaten ign China während des Zweiten Weltkrieges“ oder aber fiir dasAmoklaufen, wie es in die so sanfte gmalausche Welt uberhaupt nicht hineinzupassen scheint, das aber beiden interkommunalen Unruhen i969 in Kuala Lumpur mit elementarer Gewalt zum Ausbruch kam. _ . ‘ 4 Damit es nicht zum Aggressumysstau kommt, smd in einigen Gesell— schaft50rdnungen subtile Blitzablener eingebaut. Spontane1_taty beispiels— weise wird frei bei der Teilnahme an Hahnenkampfwetten, beim Thaiboxen oder beim neuerdings so beliebten_l“ußball. Wer je Zaungast bei einem Hah— nenkampf war, wird über die dabei explosmnsarng zutage tretenden Tempe— ramentsausbrüche erstaunt, wenn nicht erschreckt sein. In diesem Augen— blick lernt man besser verstehen, warum ein «kühles Herz» in der Werteord— nung so hoch angesiedelt ist. 4. Körpersprache Was das physische Ausdrucksrepertoire anbelangt, so ist der Durchschnitts— asiate mit seinem Würdeideal fast so etwas wie ein Antipode zu den Afrika— nern mit ihrer lebhaften Körpersprache. Selbst die überall in Asien beheima— tete Tanzkunst beweist keineswegs das Gegenteil; denn gerade bei den Tän— zen, die zumeist religiösen Charakters sind und bei denen sich der Mensch in einen Rhythmus versetzt, der zum Einklang mit dem Göttlichen oderder Natur (Bao) oder aber mit dem Ritual (Konfuzius) führt, herrscht strikte pantomimische Gesetzmäßigkeit. Daß es einer Tänzerin erlaubt ist, zu la— cheln, hebt den thailändischen schon weit vom asiatischen Normtanz ab. Und doch gibt es auch in Asien ein reiches Vokabular an Gebärden und Si— gnalen, das sich wie ein Cantus firmus durch das asiatische Kommunika— tionsverhalten zieht und das von europäischen Gewohnheiten oft beträcht— lich abweicht. 1) Finger- und Handbewcgufigi’" Als unkultiviert, ja beleidigend gelten in ganz Asien das Deuten auf eine Per— SOn, das Herbeiwinken eines anderen mit rollendem Zeigefinger oder mit ei- nem, Zwei, drei oder vier Fingern, vom Herbeischnalzen ganz zu schwei— gen. Andererseits ist es jedoch erlaubt, auf jemanden entweder mit dem Daumen zu deuten (so in den islamischen Ländern) oder aber ihn — gleich— sam einladend — mit geöffneter Hand (jedoch aneinandergelegten Fingern) Asiatische Gesellschaften und Verbaltensstile 310 herbeizuwinken. Im ersteren Fall deutet der Daumen der rechten (!) Hand unter dem die vier Finger zur Faust zusammengelegt sind, auf den Adres ’ ten; nach der malaiischen Tradition hat der Daumen eine gute Bedeut sa» denn er vertritt Gott, während der kleine Finger Symbol des Bösen ist deshalb auch nicht empfehlenswert, eine Handbewegung zu vollziehe der Daumen und kleiner Finger ausgestreckt, der Rest der Finger aber e' rollt bleibt. Vor allem von älteren Malaien könnte diese Konfiguratiomge_ eine Aussage in Richtung «Gott ist schlecht» gedeutet werden. Es em fr“l 218 sich, jede Handbewegung mit einem Lächeln zu begleiten. p le lt Als extrem ungesittet gelten aggressive Handbewegungen wie das Bo der einen geballten in die offene Fläche der anderen Hand oder aber die €? dung von Fingerformationen, die als frivol empfunden werden könnt ! _ Auch das Einstützen beider Hände in die Hüften gilt als Zeichen von Arm. ganz — wie übrigens auch das Verschränken der Hände auf dem Rücken“;— Gegenwart eines Arbeitenden. Zu vermeiden sind nach Möglichkeit au 2 «italienisch» ausholende Gesten bei der Unterhaltung, da sie schlecht -C allgemeinen Reserviertheit passen. zur Streng verpönt ist es, Dinge mit der linken Hand zu reichen oder entge- genzunehmen oder jemandem die linke Hand entgegenzustrecken. Man ißt mit der Rechten, aber man «säubert» mit der Linken — dies ist die überall gebräuchliche Interpretation. Die sicherste Art, Gegenstände zu reichen besteht darin, hierfür die rechte Hand zu verwenden und den rechten Ami von unten her in die Höhe der Armbanduhr bei oben liegendem Daumen zu umklammern. In Ostasien, und hier wiederum besonders in Korea, dürfen Gegenstände nur mit beiden Händen gleichzeitig gereicht und entgegenge- nommen werden. Die Nordkoreaner beleidigen ihre amerikanischen Ver— handlungspartner in Panmumjom schon seit 1953, indem sie ihnen Proto— kolle und Dokumente immer nur mit einer Hand überreichen. .In Indien und in den meisten Ländern Südostasiens (mit Ausnahme von Vietnam und besonders westlich orientierten Bevölkerungsschichten) wird mit den Händen gegessen — eine Sitte, die in der konfuzianischen Welt wie— derum als barbarisch gilt. Beim Anfassen der Speisen darf nur die rechte Hand eingesetzt werden, wobei die Finger nicht über das zweite Glied hin— aus besudelt werden dürfen. Drückt man beim Einnehmen den Happen mit dem Daumen nach, so offenbart sich darin besondere Eßbegeisterung und ein Kompliment an die Köche. Höchst unschicklich ist es, die Finger abzu— lecken oder sie in den Mund zu stecken. Die Linke bleibt während des ge" samten Essens nach Möglichkeit unter dem Tischrand; sie darf höchstens ZUm We1terreichen einer Schüssel oder zum Halten eines Trinkglases einge— setzt werden. teljzaismßezgurueßäreigslfiormen anbelangt, sohat sich die Sitte desI-Iändeschüt— dem L d _gd uropamerung zwar in den Stadten eingeburgCrt, ist auf an e je och nach Wie vor unubhch — und auch den stadt15chen A513ten ung? ES in n, bei VII. Vom alltäglichen Umgang mit Asiat€n 311 der ist es im allgemeinen lieber, wenn ihnen das westliche Zeremo- t bleibt. In Indien und in den Theravadg— Ländern gibt es statt dessen die schöne und anm\ltlg? 68516 des GTUßCHS mlt_«bctend gefalteten», bis zur Nase, manchmal sogar bis zur Stirn erhobenen Hunden, die von einem ruhigen Lächeln und einem leichten Kopfneigen sow1e von einem weiten Öffnen der Augen begleitet ist, wobei der Augenkontakt kurz zu sein hat. In Indien pflegt man gegenüber Personen des anderen Geschlechts zusatzhch eine «Sozialdi— Stanz» von mindestens einem Meter anzunehmen, die notfalls durch einen (für den Ausländer manchmalverwirrenden) Schutt rückwärts hergestellt wird. Eine jüngere Person ehrt einen Alteren dadurch, daß Sie mit der rechten Hand dessen Fußspitzen berührt # und so eine Art Proskynesrs vollzieht. In der malaiisch—islamischen Welt begnügen sich Personen verschiedenen Geschlechts mit einem aufmerksamen gegenseitigen Zunicken, während man bei der Begrüßung von Mann zu Mann oder von Frau zu Frau die aus— ge5treckten Hände des Partners mit den eigenen Händen kurz berührt und sie sodann zur eigenen Brust zurückführt, um auf diese Weise die «Herzlich— keit» des Grußes zu unterstreichen. Eine jüngere Frau, die eine ältere Dame begrüßt, führt beide Hände zur Brust, Während die Ältere diese Bewegung nur mit einer Hand vollzieht. Grußgesten werden im allgemeinen von ver— balen Grußformeln begleitet, die z.B. in der modernen Bahasa Indonesia mit dem arabischen Segenswort «Selamat» und einer (Hinzufügung z.B. «Morgen», «Abend», «Reise» usw.) ergänzt werden — je nach dem Anlaß, dem der «Segen» gelten soll. Auch in den anderen Kulturen wechseln die Grußformen je nach der Tageszeit. In China fragt man höflich, ob der an— dere «schon seinen Reis gehabt hat», eine Frage, der die Prämisse zugrunde liegt, daß man sich bejahendenfalls auch wohl fühlt. Injapan und Korea spielen Hand— und lüiigerbeWt*gungen beim Begrüßen kaum eine Rolle. Hier vollzieht man vielmehr die weltberühmte Verbeugung (jap.: Ojigi), und zwar aus der Hüfte heraus, nachdem man vorher einen Schritt zurückgetreten ist, wobei gleichzeitig Grußformeln («ohayo», «kon— nichiwa») oder vielleicht Entschuldigungsformen («sumimasen») gemurmelt werden. Begegnet man sich zum erstenmal, nennt man seinen Namen mit bescheidener und zumeist fast unhörbarer Stimme — und überreicht, mög— lichst wiederum mit beiden Händen, seine Visitenkarte. Der andere liest mit gespannter Aufmerksamkeit Namen und Bezeichnungen und läßt sodann häufig ein hörbares Zischen durch die Zähne vernehmen: Ausdruck der Be— Wunderung für die hohe Stellung seines Gegenüber! Anschließend erfolgt nochmals eine respektvolle Verbeugung, die u. U. in immer kleiner werdende Nickbewegungen auspendelt, wobei man sich zwischendurch kurz in die Au— gen blickt. Die Arme bleiben bei der Verbeugung gestreckt: Bei den Männern W6rden sie allerdings auseinandergenommen und an die Hüften gepreßt, bei df“ Frauen werden sie — Innenhandkante an Innenhandkante — zusammenge— führt. In China ist der Verbeugungsvorgang kürzer und weniger formell. „rereinan nie“ ersp3f u 3 12 Asiatzsche Gesellschaften und Verbaltensstile In diesem Zusammenhang noch eine Bemerkung zum Rauchen: In Asien gibt es eine Vielzahl von Arten des T3b3kgenusses, die von der Zigarette westlichen Stils über die Wasserpfeife und das Bambusrohr (Südchina) bis hin zum «berührungslosen» Saugen geht, das von gewissen hinduistischen Kasten aus rituellen Reinlichkeitsüberlegungen geübt wird. Da die Asiaten‚ sobald sie sich im überschaubaren Personenkreis bewegen, wesentlich ge— meinschaftsförmiger denken als die meisten Europäer, bittet man um die Er- laubnis, rauchen zu dürfen — diese Sitte ist in Indien freilich wesentlich strenger als beispielsweise in China. In Indien und Südostasien gilt es gene— rell als Zeichen mangelnden Respekts, in Gegenwart von älteren Personen zu rauchen. In Korea versteckt man die brennende Zigarette hinter dem Rücken, sobald ein Älterer hinzutritt. In Indien pflegen Kinder aus Respekt auch nicht in Anwesenheit ihrer Eltern zu rauchen. In Japan ist Rauchen in öffentlichen Verkehrsmitteln, vor allem in den U—Bahn—Zügen, sowie in Stoßzeiten auch auf den Bahnhof—Wartesteigen verboten. Manche Asiatcn, z.B. die Sikhs, lehnen aus religiösen Gründen Rauchen überhaupt ab, Un— angebracht ist es, einer Asiatin Zigaretten anzubieten. Rauchende Frauen gelten dort als exotische Ausnahmeerscheinung. b) Füße Im städtischen Asien hat sich die westliche Sitte des Gebrauchs von Tisch und Stühlen weitgehend durchgesetzt — zumindest im öffentlichen Leben. Privat und auf den Dörfern dagegen sitzt man noch häufig auf dem Boden — eine Sitte, die Südostasien und Indien mit Japan und Korea teilt. In China und Vietnam dagegen nimmt man seit Jahrhunderten an Tischen und auf Stühlen Platz. Probleme für den Ausländer ergeben sich im allgemeinen nur dann, wenn er privat eingeladen wird. Grundsätzlich sind in Indien, Japan und Korea sowie den meisten südostasiatischen Ländern die Straßenschuhe beim Betre' ten der Wohnung (und übrigens auch eines Tempels) auszuziehen, und zwar nicht nur aus hygienischen, sondern vor allem aus religiös-rituellen Grün den: Man könnte ja unversehens Partikel in die Wohnung tragen, die «dämof nisch aufgeladen» sind, oder aber — so in der indischen und islamischen Welt — die Spuren «unreiner» Objekte ins Hausinnere bringen — etwa Blutreste oder Hunde— und Schweineexkremente etc. In indischen Häusern dürfen Schuhe auf keinen Fall im Küchenbereich oder in einem Puia—(Andachts)— Raum getragen werden. In China und Vietnam andererseits verhält man sich ähnlich wie in Europa. Türschwellen, die häufig sehr hoch sind, werden nicht be—, sondern überstiegen. Man setzt sich erst, wenn der Älteste unter den Anwesenden Platz g£‘* nommen hat. Beim Sitzen auf der Bodenmatte haben Männer generell die Beine zu kreuzen. Sie ausgestreckt liegen zu lassen, gilt als nachlässig und VII. Vom alltäglichen Umgang rnit Astatt’n 3 13 unhöflich; vor allem darf man dem_ Gegenüber nie die I‘ußsohlen zuwendem geschweige denn mit den Zehenspnzen auf ihn, etwa gar seinen Kopf zeigen „ dies wäre ein noch unverze1hhcherer Verstoß als das Deuten mit dem Fin- ger- Es löste nergose Heiterke1t beim thailandischen Publikum aus, 315 der frühere US—Pra51dent Johnson wahrend einer I“Crnschdiskussion dauernd mit der Fußspitze auf den Kopf des Königs «ziehe». Der Fuß ist der unterste Teil des Körpers, der Kopf dagegen Sitz des «Allerliciligstcm im Menschen. Vollend5 unmöglich wäre es, die Füße zur Entspannung auf den Tisch zu legen. _ ‘ All diese Vorschriften Sind besonders streng zu handhaben, wenn ältere Personen anwesend sind: Spätestens jetzt kann man es sich nicht mehr «be« quem machen». In Korea preßt man — zumindest vorübergehend — die bei- den Fußsohlen fest auf die Matte: ein Ausdruck angespannten Respekts! Es gilt als unhöflich, über eine auf dem Boden sitzende Person hinwegzusteig€fl oder an einer älteren Person vorüberzugehen, ohne sich kurz zu verbeugen und dabei vielleicht auch noch die rechte Hand deinonstrativ und respekt- voll nach unten zu strecken. Stets empfiehlt es sich dabei, sei es nun in Ja- pan, Korea oder in der malaiischen Welt, in leicht gebückter Haltung zu ge- hen. In Java gilt es auch noch als unhöflieh, wenn eine Person niedrigeren sozialen Ranges in Anwesenheit von Respektspcrsonen den Kopf hoch trägt. Frauen sitzen seitwärts mit angezogeneii Knien auf der einen und den Fü— ßen auf der anderen, dem Blick des Gegenüber abgewandten Seite. Da es im traditionellen Asien keine gemischten Reihen gibt, gelten diese Verhaltensre— geln praktisch nur für «gleichgeschlechtlichc» Gesellschaften. Wenn (einhei— mische) Frauen überhaupt an Männergesellschaften teilnehmen, so allenfalls als höflich bedienende Gastgeberinnen. Ein fröhliches Beisammensein gibt es jedoch mit professionellen Unterhalterinncn, seien es nun die Kisaeng in Korea oder die Geishas in Japan. 6) Kopfbewegungen Der Kopf galt im traditionellen Asien als Sitz numinoscr Kräfte, den nie— mand außer den unmittelbaren Angehörigen berühren durfte. Dieses strenge Tabu gilt bei Kindern auch heute noch in Indien und Thailand, bei Erwach— Senen aber in ganz Asien. Kopfbewegungen spielen in der Kommunikation eine Wichtige Rolle, sei es nun bei der vor allem in Japan und Korea geübten Verneigung oder aber zur Bestätigung oder V*rneinung einer Frage. Häufig haben Kopfzeichen in Asien jedoch eine andere Bedeutung als in Europa. Wenn beispielsweise ein Inder den Ki)pf schüttelt, so heißt das nicht, wie in Europa, «nein», sondern bedeutet Zustimmung. Mit diesem indischen K<>pfnicken kommen europäische Iihdrauen manchmal selbst nach Jahr— Zehnten des Verheiratetseins nicht klar. 314 Asiatische Gesellschaften und Verhaltensstile Mit Blickkontakten wird in Asien sparsamer umgegangen als in Europa, und nun gar im deutschsprechenden Mitteleuropa: Hier gilt der Augenkon_ takt als Zeichen von aufmerksamer Höflichkeit, während das gleiche «Ver— weilen» in Asien als höchst unangenehm, ja manchmal bedrohlich empfim_ den wird. Liebkosungen mit Kindern erfolgen nicht nach Art des westlichen Küs— sens. Vielmehr drückt die Mutter ihre Nase auf die Wange des Kindes Und gibt dabei einen kurzen Atemstoß ab. Auf diese Weise wird in den malaiisch_ islamischen Ländern übrigens auch die Hand eines Alteren durch einen lün» geren geküßt. Diese malaiische Art des Küssens heißt «chium». d) Berührungen Während es im Westen durchaus üblich ist, Personen des anderen Ge— schlechts den Arm zu reichen (z. B. beim Überqueren einer Straße) oder sie zur Bekräftigung eigener Worte kurz anzutippen und sie bei der Begrüßung vielleicht auf die Wange zu küssen, ist eine solche Kontaktnahme in allen Ländern Asiens streng tabuisiert — von Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit gar nicht erst zu reden. Dieses Tabu gerät erst bei der jungen städtischen Ge— neration langsam in Vergessenheit, wobei der westliche Film einen entscheh denden Einfluß ausübt. Andererseits sind physische Kontakte zwischen Per sonen des gleichen Geschlechts im allgemeinen nicht nur erlaubt, sondern auch beliebt. Häufig sieht man Männer (und Frauen sowieso) Hand in Hand durch die Straßen schlendern A ein Bild, das nun wiederum von den meisten Europäern als befremdlich empfunden wird und Assoziationen hervorruft, die dem durchschnittlichen Asiaten ferne lägen — und ihm Unrecht tun. ;. Sprachsignale Kommunikation kann direkt oder eher symbolhaft, konflikt— oder aber han moniebedacht, egalitär oder hierarchisch, eher spontan oder formell—ritualh stisch, laut oder leise, offen oder aber zurückhaltend erfolgen: Die jeweils erstere dieser Alternativen entspricht tendenziell dem europäischen, die letz: tere jeweils dem asiatischen Mitteilungsverhalten. Dies gilt auch für die Sprache, die zunächst einmal ganz einfach als Instrument der Tatsachenmii— teilung, der Tatsachenbewertung und der Analyse, daneben aber auch, in echt «asiatischer» Weise, zum Zweck der Hierarchisierung, der Gemein/ schaftsbeschwörung und der Identifizierung eingesetzt werden kann. Da ist erstens die Hierarchisierungsfunktion: Idiome, die wie das ]apani» sche, Koreanische, Birmanische, Thai oder Javanische besonders hierar— chieorientiert sind, verlangen, daß ein Sprecher unterschiedliche Anredeparr tikel, ja sogar manchmal verschiedene Verben oder Substantive für ein und ** VII. Vom alltäglichen Umgang mit Asiaren } I)’ dieselbe Sache verwendet, l€ nachdem, _Ob er < fende entweder einen sogenannten «Pinselnamen» oder aber, wie in jüngster VII. Vom alltäglichen Umgang mit Asiaten 3,9 Vergangenheit, einen revolutionären Namen annimmt, so z.B. das chinesi— sche Politbüromttghed Wan LI («Zehntausend Meilen») oder die langjährige Nummer zwei in Vietnam, Truong Chmh («Langer Marsch»), oder (Kim) [kung («Aufgehende Sonne»). Im allgemeinen werden Personen mit ihrem Nachnamen oder einem Zu- satz «Herr» (chin.: xiansheng, Wörtl. «Früher Geborener») oder aber mit «Genosse» (z.B. Wang «tongzhi») angesprochen. Im Koreanischen kommt es darauf an, ob der «Genosse» hierarchisch über oder unter dem Sprechen— den steht. Ist er höher angesiedelt, so hat man ihn mit (dem vornehmeren sino—koreanischen Titel) «Tongji» anzusprechen, im andern Fall mit «Tongmu»- Die Gepflogenheiten der feudalistischen Hierarchie sind auf die moderne «sozialistische» Gesellschaft bruchlos übergegangen. Weit verbreitet sind Spitznamen, im Koreanischen z.B. «Dickschädel» oder «Betonkopf» oder «Yangban», eine zumeist neckend gemeinte Bezeich— nung, unter der früher nur Angehörige der Mandarinatsklasse auftraten. Äl— tere Personen werden häufig mit «Onkel» (Ho Chi Minh z. B. als «Onkel HQ»), mit «Großvater» oder aber «Großmutter», manchmal auch — wie in China - mit «Alte ältere Schwester» (laojie) oder «Alter, älterer Bruder» (laoge) angesprochen, z. B. ein Kellner. Frauen behalten ihren Nachnamen übrigens auch nach der Verheiratung. Im hinduistischen Indien gibt es gegenüber dem bisher Gesagten eine weitaus weniger einheitliche Namensvergabe, weil hier die Kasten/]ati—Dif— ferenzierung durchschlägt. Um in einer anonymen Großstadt zu erkennen, welcher Kaste jemand angehört, braucht man nur seinen Namen zu wissen — und schon hat man im allgemeinen den Schlüssel zu seinem sozialen Schub— fach. Zwar sind die «Vornamen» allen Schichten und ]atis gemeinsam, doch die «Familiennamen» signalisieren dann sogleich wieder, welcher Kaste der Träger angehört. Ein echter Sozialist oder Kommunist ist gut beraten, ledig— lich unter seinem «Vornamen» aufzutreten, während ein Konservativer eher den «Familiennamen» betont. «Vornamen» waren für die unteren Kasten lange Zeit die einzigen Na- mensbezeichnungen. Heutzutage stehen sie im allgemeinen hinter dem «Fa— miliennamen», falls ein solcher verwendet wird. Die meisten Vornamen ent— stammen der religiösen Nomenklatur, wobei die zahllosen Ehrennamen der beiden Hauptgötter Vishnu und Shiva besonders beliebt sind, z.B. «Gopal» (Vishnu/Krishna als Beschützer der Herden), «Madhusudan» (Riesentöter) oder — bei Mädchen — «Lakshmi» (Gattin Vishnus), «Parvati» (Gemahlin 5hivas), aber auch «Asha» (Hoffnung) oder «Sulochana» (Schönäugige). «Familiennamen» erscheinen bei höheren Kasten in der Regel in Form des Ortsnamens der Clanherkunft, bei den unteren Kasten zumeist in Form der Be1”Ufsbezeichnung”. Den Historiker S. Gopal verband mit seinem Vater, dem Staatspräsidenten S. Radhakrishnan namensmäßig nur das «S.», das die Initiale des Ortsnamens Sarvepali bildet. auf den diese südindische Asiatische Gesellschaften und Verhaltensszile 320 Brahmanenfamilie ihre Herkunft zurückführt. In manchen Gegenden, z. B, in Andhra, fügen Brahmanen ihrem Namen noch den Ehrentitel «Ram hinzu. «Herr S. R. Rau» ist also auf Anhieb als Brahmane zu erkennen, stammt aus einem Ort, der mit einem «5» beginnt, und hat den Vornamen «R», vielleicht also «Ramakrishna». Unterkastenangehörige führen demg„ genüber entweder nur einen «Vornamen» oder aber in aller Regel einen 7,„- sätzlichen berufsbezeichnenden Nachnamen, z.B. «Mali Gopal» («Gärtner» + Vorname Gopal); statt «Mali» kann es auch heißen «Teli» («Ölpresser») «Lohar» («Schmied») oder «Desai» («Landrat»), bei königlichen Kasten auch «Singh» («Löwe») — welch letztere Bezeichnung auch zu jedem Sikh. Namen gehört. Die Anrede erfolgt bei den Hochkastenangehörigen mit l£'* nem Namen, den sie ausgeschrieben vorweisen, bei Unterkastcnangchörigen dagegen beim Vornamen. Ähnliche Regelungen gelten für die Angehörigen der alten südostasiati— schen Gesellschaften, wo es, nach indischem Vorbild, bis an die Schwelle des zo.jahrhunderts zumeist nur den Vornamen als «Identifikatitinsausweis„ gab, so z. B. in Thailand und Laos. Im Gegensatz zur überwältigenden Fülle von «Vornamen» im chinesi— schen und indischen Kulturbereich beschränken sich die muslimischen (ie— sellschaften auf einige bekannte Allerweltsnamen (Mohammed, Ali, Hus- sein, Hassan etc.). Der Ministerpräsident von Malaysia heißt beispielsweise Mohammed Mahathir, wobei dem Namen seit Beginn des hohen Amtes der Ehrentitel «Datuk Seri» vorgeschaltet wird. 6. Raum und Zeit als Kommunikationselemente Über die verschiedenen Raunr und Zeitbegriffe in Europa und Asien ist oben (5. 199 ff.) bereits gesprochen worden. Diese Unterschiede wirken sich auch auf die Kommunikation aus: Da ist erstens die grundverschiedene Einstellung zum Räumlichen: limpf findet der Nordeuropäer im allgemeinen ein Bedürfnis nach Abschottung «seines» Raums durch Zäune, Gartenhecken, «geräuscharme» Wände und solide Türen, ia manchmal Doppeltüren, wünscht er außerdem weite (;C‚ sprächsabstände und verabscheut er nicht zuletzt körperliche Berührungen. so ist in Asien Zusammenleben auf engstem Raum und «Offenheit» der Wohnungen die Regel, sei es nun im wohlhabendenjapan mit seinen hellhü< rigen Häusern oder im armen lndien — gar nicht zu reden von Südostasien. wo die tropischen Temperaturen ein übriges tun, um die räumlichen Distatr zen schmelzen zu lassen. Überall herrscht hier drangvolle Enge, nirgend$ gibt es «privaten Raum», und Isolation ist hier ein Fremdwort. Mit zuneh» mender Enge wächst die soziale Kontrolle und der Bedarf an gegenseitigcf Rücksichtnahme. Der «einsame alte Mensch» ist hier eine extreme Ausnah— VII. Vom alltäglichen Umgang mit Asiaten }} 1 meer50hein.ung’ andererseits gibt es aber auch keine Rückzugsmöglichkeiten in eine «prlv8t€ Sphare». Ein zweiter fundamentaler Verhaltensunterschied ergibt sich aus einem grundlegend verschiedenen Ze1tverstandms;, insofern der Nordeuropäer nämlich, um hier einen Ausdruck von Hall zu benutzen, ein «Zeiteintei— ler», der Durchschn1ttsasiate dagegen ein «Zenzerteiler» ist. Der Deutsche neigt dazu, sein Pensum in sukzessweAbschmtte aufzuteilen und es Schritt fü,- Schritt zu erledigen; er geht hierbei, Wie man sagt, «in seiner Arbeit auf» und fühlt sich durch Besucher aller Art schnell gestört. Asiaten dagegen ha— ben selten etwas gegen Unterbrechung ihrer Arbeit einzuwenden. Für sie ist Kommunikation und Beziehungspflege wichtiger als die Erledigung dieser oder jener Teilarbeit. Sie leben inmitten dichtgeknüpfter Informationsnetze und sind deshalb auch wesentlich besser über Hintergründe ihrer Umwelt informiert als Deutsche. Überall hat in Asien das Zwischenmenschliche «Vorfahrt» — was zählen demgegenüber Tagesordnungen und Pläne? Nicht zuletzt deshalb sind stundenlange Arbeitsessen, bei denen man zweckmäßb gerweise nicht über Geschäfte spricht, von großer Bedeutung. Hier ist man Mensch, hier darf man’s sein, und hier auch soll man sich persönlich schät— zenlernen. Menschliche und nicht etwa Funktionsbeziehungen gelten über— all als Salz gesellschaftlichen Verhaltens. Das unterschiedliche Zeitgefühl äußert sich übrigens nicht nur darin, daß man in Asien mehr Zeit für einander hat, sondern es kommt auch in einer anderen kommunikativen Dimension, nämlich in der Kunst, zum Ausdruck - sei es nun in der Malerei (man denke an den ostasiatischen «Eineckstil»), an die ewig fortlaufenden Skulpturenfriese des Buddhismus, an die endlosen Kalligraphien des Islam oder aber an die Musik: Balinesische oder javanische Gamelan—Musik oder aber indische Ragas scheinen die Zeit stillstehen zu lassen. Hier gibt es kein Voranschreiten im Andante oder Allegro, sondern ein häufiges meditatives Verweilen bei einem einzigen Ton. Sich nie von der Uhr versklaven lassen „ dies ist ebenfalls ein Stück asiatischer Lebensphi— losophie. Dritter Teil Wertewandel oder Werteeinbruch? I. Wertesystem und politische Kultur besitzen keinen Ewigkeitscharakter Werte sind geschichtlich gewachsene Vorstellungen von dem, was die Mehr— heit einer Gesellschaft als «normal» und als wünschenswert empfindet. Als historische Erscheinungen sind sie einem dauernden Wandel unterworfen, 50 daß die Frage hier nicht sein kann, ob die überkommenen asiatischen Vor— ste]1ungen sich verwestlichen müssen, sondern Vielmehr wie schnell hier eine Annäherung geschieht und vor allem wie sich diese Anpassung vollzieht. r. Die Frage nach der Geschwindigkeit des Kulturwandels Die Suche nach Bewahrung der nationalen, gesellschaftlichen und soziokul— turellen Eigenart ist, wie bisherige Erfahrungen in der Dritten Welt zeigen, zumeist brisanter und politischer als etwa die Auseinandersetzung um den objektiv ganz gewiß nicht weniger wichtigen Kurs des Wirtschaftsaufbaus. Auch die asiatischen Gesellschaften stehen heute vor der Frage, wie sie die schwierige Wegstrecke zwischen den beiden Polen Tradition und Moderne am besten ansteuern. Sollen sie sich am Anker der Vergangenheit festketten oder den Hals—über-Kopf—Sprung in die Moderne wagen, oder sollte am Ende nicht ein mittlerer Kurs ratsamer sein? Für alle drei Varianten gibt es inzwischen Schulbeispiele. Wer, wie der Birmane U Nu, die Moderne zu— gunsten der Tradition auszuschließen versucht, läßt sein land hoffnungslos in Rückstand geraten; wer andererseits die Tradition ausradieren will und al— les auf die Karte der Modernität setzt, wie das ehemalige Schah—Regime in Persien oder aber der Maoismus in China, muß riskieren, daß die Vergan— genheit ihn schnell wieder einholt. Noch immer gilt: je identitätsgefährde— ter, desto rückfallträchtiger! Reaktionen können sich in extrem linker oder extrem rechter Form äußern, sie können aber, sobald sie sich etwas abge— kühlt haben, auch als Reformimpuls wirken: so in China nach Mao! Drei Überlegungen sprechen dafür, daß in Asien heute der Mittelweg be— schritten und daß dabei eher ein Schnecken— als ein Eiltempo eingeschlagen wird. Y 326 Wertewandel oder Werteeinbrucb? a) Extreme Widerstandsfäbig/eeir der Traditionen Jedes Land und jeder Kulturkreis entfaltet unterschiedliche Selbsterhal_ tungskräfte, die, so möchte man spontan meinen, vom jeweiligen Alter der Tradition, von der Größe des Territoriums und von der Exponiertheir ge- genüber dem Westen abhängen. Bei näherem Hinsehen zeigen sich allerdings durchaus andere Ergebnisse. So scheint z.B. das Alter der Tradition wenig Einfluß auf die Widen standsfähigkeit zu haben. Indien und China hatten beide eine rund 4000 Jahre lange kontinuierliche Tradition hinter sich, ehe sie dem Westen «be— gegneten», und doch konnte Indien von den Briten verhältnismäßig leicht in Besitz genommen werden, während China, das doch in den letzten Jahren der Mandschu—Dynastie nicht weniger hinfällig zu sein schien als Indien am Ende der Moghulzeit, sich als höchst widerborstig erwies. Allerdings gilt dieser Unterschied nur für die Politik, nicht jedoch für die Kultur; hier er— wiesen sich beide als gleichermaßen souverän. Auch die Größe des Territoriums sagt nicht unbedingt etwas über die Abwehrfähigkeit aus. Zwar liegt es auf der Hand, daß kleine Gebiete wie Ceylon, Malaysia, Kambodscha oder Laos leichter zu durchdringen waren als Riesengebiete vom Ausmaß Indonesiens, Indiens oder Chinas. Doch ge— nügte bei diesen Mammutterritorien oft schon eine Teilbesetzung, um das Ganze unter Kontrolle zu bringen. So konzentrierten sich z.B. die Nieder— länder fast 300 Jahre lang nur aufJava und begannen erst im späten 19.Jahr— hundert auch den «Rest» des indonesischen Archipels unter koloniale Vorherrschaft zu bringen. Kulturell freilich blieb sich das am längsten be— herrschte Gebiet, nämlich Java, am treuesten. Auch bei der Frage, wie lange ein Land der fremden Kultur ausgesetzt ist, erlebt man Überraschungen. So waren beispielsweise Ceylon, Java und In— dien besonders lange Zeit kolonial beherrscht gewesen und haben trotzdem ihre Eigenart viel weniger verloren als andere nur kurzzeitig kolonisierte Gebiete wie Singapur oder die so rasch christianisierten malaiischen und in- dochinesischen Randkulturen. Für die Fähigkeit, die Identität zu bewahren, müssen also andere Faktoren ausschlaggebend sein als das Alter der Tradition, die Größe des Territoriums oder aber die Dauer der Kolonialherrschaft. Man muß hier auf innere Struk— turen achten, nämlich auf den Zusammenhalt der Gruppen an der Basis, auf die Effizienz der zentralen Kontrolle und auf die Gemeinsamkeit der Werte, wobei die beiden ersten Mechanismen eher der Abwehr politischer Beherr— schung, die Wertegemeinsamkeit dagegen der Verteidigung gegen Einbrüche ins soziokulturelle System dienlich sind. So gesehen verwundert es nicht weiter, daß die säkular orientierten Kulturen mit homogener Bevölkerung vor allem Korea, China und Vietnam, den kolonialen Übergriffen weitaus besser standhalten konnten als sakral ausgerichtete Gesellschaften mit hete— I, Wertesyxtem undpolitiscbe Kultur 327 l.ogener Bevölkerung, _wie z.B. Indien, Ceylon, Laos, Kambodscha oder Birma. Allerdings ist hier erneut zu betonen, daß aueh die kolonisierten Völ— ker letztlich nur ihre politische Unabhangigkeit,_ nicht dagegen ihr Werte- System verloren haben — zumindest nicht durch die Kolonialherrsch3ft: Was in Jahrhunderten oder Jahrtausenden gewachsen ist, kann nicht von einem auf den anderen Tag verschw1nden. b) Die Instrumentalisiemng von Traditionen als ihre Chance Vor allem die drei Indochinastaaten liefern ein Musterbeispiel dafür, wie ge— fährlich es ist, mit der Tradition auf Konfrontat10n5kurs zu gehen, und Wie verhältnismäßig reibungslos andererseits gew155e Ziele durchsetzbar wer— den, wenn man die Tradition vor den Wagen der eigenen Vorstellungen spannt. Was es heißt, die gesamte Vergangenheit ausrad1eren und dem Neuen durch völlige Zerstörung des Alten zur Geburt verhelfen zu wollen, haben die Roten Khmer erfahren müssen. Der passwe Widerstand der Be— völkerung war so stark, daß eine Rückkehr der Khmers Rouges an die Macht überhaupt nur Hand in Hand mit buddhistischen Wertvorstellungen erfolgen könnte. Wie leicht andererseits neue Ziele im Gewande alter Vorstellungen zu rea— lisieren sind, haben die kommunistischen Pathet Lao demonstriert, deren «synkretistischem» Geschick es gelang, der Bevölkerung lange Zeit marx15n— sche Denkweisen im Gewande buddhistischer Begriffe zu «verkaufen». Der traditionelle Begriff «kaona», der in der Tradition so viel Wie geistige Er— bauung bedeutet, wurde z.B. für die Verinnerlichung von Partei— und Regie— rungsparolen instrumentalisiert. «Sati», früher gleichbedeutend mit Mech— tation, wurde von den Kommunisten zur «revoluuonarenWachsamke1t» umgedeutet, und sogar der Zentralbegriff «Karma» erhielt eine neue _5chat— tierung, insofern nämlich den München unter dem Siegel des «Verdienste— sammelns» soziale Aufgaben als Krankenpfleger oder_Gartner zugewiesen wurden. Der Pathet Lao versäumte auch nicht, auf die Ahnlichkeit zw1schen dem Sangha und der LRVP (Laotischen Revolutionären Volkspartei) hinzu- weisen: Beide seien Hüter der «Wahrheit» — hier des Buddhismus, dort des Leninismus; beide hätten eine Hierarchie unabhängig von den Regierungs— institutionen aufgebaut — hier vom Königshaus und der Aristokrat1e, dort von der Regierung in Vientiane und ihrer Bürokratie. Beide auch hatten Sich unmittelbare Verdienste um die laotische Gesellschaftsbasrs erworben, wo— bei allerdings die LRVP insofern erfolgreicher gewesen sei, als sie auch die Minoritäten in die gemeinsame Sache habe mit embez1ehen konnen. Man mag über solche Gleichsetzungen von Berufsrevolunonaren und Be— 1”llfskonservativen sowie von Klassenkämpfern und Toleranzvertretern die Nase rümpfen. Tatsache bleibt am Ende, daß selbst kommumst15chel’ar— teien es für nötig halten, mit dem Buddhismus Kompromisse zu schließen 3 2 8 Wertewana'el oder Werteeinbrucb? und sich manchmal sogar seiner Wortregelungen und seiner Rituale zu be- dienen‘. Auch die Regierung der VR Kampuchea, deren führende Mitglieder früher mehrheitlich dem Khmer Rouge angehört hatten, untermauern ihren Legitimitätsanspruch seit 1979 u.a. durch Förderung des Buddhismuf. Ebenso haben es die birmanischen Kommunisten eine Zeitlang verstan_ den, marxistische Inhalte in buddhistische Terminologie zu kleiden. «Klas. senlose Gesellschaft» beispielsweise wurde mit einem Begriff wiedergegd ben, der dem traditionellen innerweltlichen Nirvana entspricht; «Streik» wurde gleichgesetzt mit einem Terminus, der so viel wie «Umdrehen der Reisschale» bedeutet, d.h. die Weigerung eines Mönches, von einem be— stimmten Laien Gaben anzunehmen3. Der Marxismus erscheint in den Darstellungen linker birmanischer Ideologen als «niedere Wahrheit» des Buddhismus, die einem durchaus religiösen Anliegen diene, nämlich der Be- reitstellung irdischer Güter, auf die gestützt es dem meditationswilligen Gläubigen möglich sei, sich nun ganz höheren Zielen zu widmen: Marxis— mus sozusagen also als Bestandteil des «Ashoka—Laienbuddhismus»! Auch die vietnamesischen Kommunisten verstanden es, traditionelle Vorstellun- gen für ihre Zwecke nutzbar zu machen. Ho Chi Minh beispielsweise prä— sentierte sich den Bauern als Vollzieher des «tianming», d.h. des «Himmels— auftrags». Ferner wurden die neuen Genossenschaften, wie Paul Mus in sei— ner «Sociologie d’une guerre» m:.hweist, als organisatorische Fortsetzung jener traditionellen Dorfgemeinde hingestellt, die immer schon um die Kult— stätte des Dorfgottes herum angesiedelt war. Die Kader erschienen als Ver— treter von Geheimgesellschaften, die im Laufe der ]ahrhunderte immer wieder zu Führern gerechtigkeitssuchender bäuerlicher Protestbewegungen gegen das Mandarinat geworden waren. Sollten sich ferner die drei traditio— nellen Sehnsüchte nach «langem Leben, Glück und Reichtum» nicht am wir— kungsvollsten mit Hilfe sozialistischer Methoden erreichen lassen? In Birma sowie im theravadabuddhistischen Ceylon traten Staatsminner wie U Nu und Solomon Bandaranaike als Verkörperungen des (künftigen) Buddha Maitreya auf. In Indonesien wurde verschiedene Male der Ram— adil-Mythos neubelebt (Ratu = König, adil = gerecht). Unter der Herr— schaft des «Gerechten Königs» werde Milch und Honig fließen. Alles ge- schehe unter seiner Herrschaft gleichsam von selbst. Er brauche seine Stimme nicht zu erheben, um sich Gehör zu verschaffen. Von ihm gehe der «sanfte Befehl» aus, dem alles «Grobe» abgehe“. Hier, in der Königsidee, finden sich zwei javanische Grundbegriffe wieder, nämlich «alus» (sanft, ele— gant, höflich, einfühlsam, unaufdringlich) und «kasar» (grob im Sinne von Disharmonie, Unausgeglichenheit, Haßlichkeit und mangelnder Selbstkon— trolle). Eine königliche Gestalt wie der edle Arjuna ist, nach Magnis-SU- sen05, «dermaßen alus . . . und von innerer Kraft erfüllt», daß die Riesen, die im Schattenspiel vor ihm herumtoben, sich die Haare ausraufen, Erde fres- sen und Purzelbäume schlagen, keinen Augenblick an ihn herankommell Y ]. Wertesystem und politische K„1„„‚ 329 Mit einer gleichsam verächtlich geworfenen B€Wegung seines Armes stößt « schließlich einen Dolch in den Riesen.» . “Als «alus—hafte» Verkörperung eines «gerechten Königs» verstand Sich h Ahmed Sukarno: Freilich sorgte er nicht für Milch und Honig, sondern auc rließ eine in allen Fugen ächzende ert5€baft. Audi moderne Cartoons g:;gezeitgeschichtliche Denkmale in Indonesien verwenden bei jeder sich nur . „den Gelegenheit traditionelle Symbole, vor allem aus dem reichen gf;2us des Wayang-Schattenspiels, um so in dfn Kopfen der Bauernbevöl— kerung Legitimitätszust1mmung hervorzurufen . d k “ . Wo selbst die als Vorkämpfer des I‘ortschritts auftreten en ommumst1— schen und nationalistischen Parteien nicht ohne die alten Symbole auskom— men zu können glauben, besitzt die Tradition offensichtlich Lebenskraft! c) Umwscbiea'licbes Wandlungstempo beiprimdren und sekundären Werfen Besonders bei politisch geteilten Kulturnationen wie den beiden Koreas oder den beiden Chinas wird deutlich, daß Sich innerhalb weniger ]ahrzehnte zwar differierende «Sekundärwerte» herausentwmkeln konnen, daß die «primären» Werte jedoch von der Spaltung nahezu unberuhrt bleiben. [In Korea beispielsweise lassen sich bei den «sekundaren» Maßstabendre1er ei Sonderentwicklungen feststellen: Der Legmm1tatsbewms Wird in 5udkorea mit der wirtschaftlichen Leistungsbilanz, in Nordkorea dagegen mit dem «koreanischen» Identitätserfolg im Zeichen des «Chuche» (Izigeiistand1g— keitskurs) angetreten. Was die Verteilung des Erarbe1teten anbelangt,;o er— folgt sie in Südkorea nach Leistungs—, in Nordkorea dagegen Cher.rffii' ßelga}; litären und politischen Gesichtspunkten. DieMachtnaehfolge se ie. ich wird in Südkorea, sieht man einmal von den Zeiten der Militarherrschaft a , eher im Zeichen des Contrat—social»Denkens, in Nordkorea dagegen nach marxistisch verbr'aimten «Himmelsmandats»—Kriter1en geregelt. Lenkt man das Auge nun auf die «primären Werte», die den Kern des (ge— samt—)koreanischen Volkscharakters ausmachen, so haben SlCl’r St.lt 19Aiig keine wesentlichen Verschiebungen ergeben — man denke an das Kibun (« dt— m0$phäre» — ein Zentralbegriff der koreanischen Verhaltenslehre), anp ic nun schon mehrere Male erwähnte «Schamkultur», an den emotionalen er— sonalismus (der Durchschnittskoreaner zeigt\ eher offene Zuneagurgg otäer ist schneller zu begeistern als ein ]apaner oder _(.hmese, er fahrt;e oc an erer seits auch schneller aus der Haut) sowiemcht zuletzt an die hochst ausge— Pfägte Sprache und an die künstlerische Überlieferung. Zu dgn Pl;lmäritrfjk— turen, die sich in ihrer kulturspezifischen Eigenart ferner angc zu a ten Pflegen, gehören darüber hinaus das Raumn Zeit—, Konfhkt— und Kärnmu- nikationsverständnis. Umgekehrt pflegen SlCl'l dorfhche Braäck tumer schnell zu verflüchtigen, sobald sie mit städtischen Milieus in Ron i t gera— ten. * 330 Wertewandel 0d87 Werteeinbruch? 2. Das «Wie» des Kulturwandels Der Wertewandel vollzieht sich heutzutage vor allem in den modernen Schu— len und in den Streitkräften, nicht zuletzt auch im Umgang mit westlichem Fernsehen sowie mit moderner Technologie. Nur einen marginalen Einfluß andererseits hat der so häufig gescholtene Massentourismus, dessen Nutzen und Schaden sich in einem Satz zusammenfassen lassen: Er bringt Devisen (allerdings, da auch das Ausland mitverdient, lediglich mit einer Sickerrate), schafft Arbeitsplätze und trägt zur Erhaltung «sehenswerter» Traditionen bei, er fördert aber andererseits auch Bettelei, Prostitution und Kriminalität, läßt auf kleinstem Raum das Nord—Süd—Gefälle spürbar werden, stellt unge- wollt einheimische Sittenvorstellungen in Frage und trägt dazu bei, die Viel— falt altehrwürdiger Traditionen fotogerecht auf Nippesformat zu reduzieren. Mit alledem berührt er freilich nur Randzonen. Zentraler Ansatzpunkt für den Wandel von unten wäre theoretisch der Schulunterricht. Hier freilich zeigen sich überall Tendenzen zur Selbst— und damit Rückbesinnung, vor allem in den metakonfuzianischen Ländern, Wo etwa ein Drittel des Unterrichts auf Lehrfächer entfällt, die zwar mit so ver— schiedenen Überschriften wie «Gemeinschaftskunde», «Ethik», «Religion», «Gesellschaftswissenschaft» o. a. versehen sind, die aber alle mehr oder we— niger auf dasselbe hinauslaufen, nämlich auf eine subtile Vergangenheitsbe— schwörung. Es wird auch nach wie vor viel auswendig gelernt, vor allem Traditionsstoff. Auf der Fahrt in die Moderne legen die meisten asiatischen Gesellschaften also nur einen niedrigen Gang ein und drücken häufig auf die Bremse. 3. Der inhaltliche Wandel In der Auseinandersetzung mit der europäischen Herausforderung wurde die Geschichte der asiatischen Kultur zu einem Selbsterfahrungsprozeß, der zwischen Verwestlichung und Rückkehr zur eigenen Tradition verläuft. Die daraus hervorgehende «Verschichtung» ist unter II. zu beschreiben. II. Kulturwandel in Richtung «Verschichtung» Bereits unter dem Stichwort «Grundbedürfnisstraregie» (S. 173 ff_) wurde ausgeführt, daß es Ziel jeder wirklich echten «Entw1cklung» sein müsse, die Europa-Schablone zu vermeiden und autochthone Anpassungslösungen hervorzubringen. Da die bodenständ1gen Traditionen auf absehbare Zeit wohl kaum verschwinden (selbst im hochtechnisierten Europa gibt es ja be— kanntlich noch zahlreiche kulturelle Schattierungen), kommt es voraussicht— lich eher zu einem Verschichtungs— als zu einem Verschmelzungsprozeß. «Verschmelzung» läuft auf ein Entweder-Oder hinaus, bei dem Alt und Neu im Sinne eines Systemziels gleichermaßen umgeformt werden, während bei der «Verschichtung» das Sowohl—Als—auch dominiert — mit der Folge, daß die einzelnen Traditionen oft unvermittelt übereinander eingebaut werden und in dieser Zusammensetzung nicht unbedingt «logisch» wirken. Die Ver— schichtungsmethode hat vor allem im Zeichen des Hinduismus eine uralte Geschichte, in deren Verlauf sich Tradition auf Tradition stapelte, ohne daß je etwas verlorenging oder als «überholt» betrachtet wurde. Als Folge der Übernahme hinduistischer Vorbilder haben sich auch in Südostasien ähn- liche Verschichtungsgewohnheiten durchsetzen können. Weitaus weniger «verschichtungsfreundlich» sind die konfuzianischen Kulturen: Die Mandschuren, die China von 1644 bis 191 1 beherrscht haben, mußten diese Dominanz mit einem hohen Preis zahlen, nämlich mit dem Verlust ihrer völkischen Identität. Wie sehr die heute rund 2,6 Millionen Mandschuren «han-isiert» worden sind, zeigte sich bei einem «Kongreß zur Rettung der mandschurischen Sprache» im Oktober 1981, der feststellen mußte, daß in ganz China nur noch neun Personen das Mandschurrsche be- herrschen7. Demgegenüber wurden die Minderheiten in Südosta51en oder Indien nicht «verschmolzen», sondern lediglich «verschichtet», d.h. in ihrer soziokulturellen Identität belassen. Die hier im Hinblick auf China gemachte Verschmelzungsaussage muß freilich nicht bedeuten, daß China nicht auch zur «Verschichtung» fähig Wäre. In welcher Richtung dies geschehen kann, soll anhand einiger Südost— asiatischer Beispiele illustriert werden: _ Religions—Verschichtung: Ein Besuch im buddhistischen Wat Po m Bang— k0k zeigt in für einen europäischen Besucher höchst eindrucksvoller «[In— SChuld» die völlig unproblematische Koexistenz von Buddhaf1guren, hm— duistischen Lingas, Geisterhäuschen und Wahrsagemst1tutionen. In Birma Wird die Hochreligion des Buddhismus mit den vorbuddh15nschen_ Nat— Kulturen in «arbeitsteiliger» Weise zusammengewürfelt: Um ms Nirvana 332 Werlewandel oder Werteeinbmcb? einzugehen, muß man Wohltaten üben, zu denen man freilich wiederum „„ imstande ist, wenn man über genügend freie Mittel verfügt. Warum hier nicht die Nats um Wohlstandsbeihilfe bitten! Zu mühelosen Verschichtun_ gen kommt es auch im Hinduismus, dem ja bekanntlich sämtliche Religh‚- nen als Heilswege geeignet erscheinen, wenngleich er zwischen höheren und etwas schlichteren Wegen unterscheidet. Sogar die monotheistischste aller Religionen, der Islam, mußte sich in Südostasien animistisch—hinduistisehc Hinzufügungen gefallen lassen. Man bekennt sich zwar zu Allah als dem einzigen Gott, läßt sich dadurch aber keineswegs davon abhalten, auch den Geistern der Türpfosten, der Bäume, Seen oder Berge Opfer zu bringen. Man leistet zwar die fünf täglichen Andachtsübungen, verfällt dabei aber gerne in mantra—ähnliche Gebetsiibungen. Ein Höhepunkt synkretistischer Entwicklungen wurde bei den zwei neuen Religionen Südvietnams, dem Cao Dai und dem Hoa Hao, erreicht. Die 1926 gegründete Cao—Dai—Reli— gion ist Sammelbecken fast aller wichtigen in Asien heimischen Religionen und Nationalmythen: Hier geben sich die Heroen Vietnams, aber auch Kon- fuzius, Lao Zi, der Katholizismus und der Buddhismus die Hand. Die An— hänger der Hoa—Hao—Bewegung unterscheiden sich von den Caodaiistm durch ihren eher «protestantischen» Charakter: Sie lehnen aufwendige Tem— pelkulte und —bauten, Kirchenbürokratie und byzantinische Zeremonien ab_ Das einzige, was für sie zählt, ist verinnerlichter Glaube. Im Gegensatz zum Caodaiismus opfern sie auch nicht den Geistern, wohl aber dem Buddha, den Ahnen und den Nationalhelden. Selbst hier gibt es also ein vielfältiges Neben— und Ubereinander. Soziale Verschichtung: Klassisches Beispiel hierfür ist das durchaus kon— fliktgeladene Nebeneinander von «Communities» in Rangun, Singapur, Bangkok, Phnom Penh und Manila — gar nicht zu reden von Malaysia. Ne ben den bäuerlich wirkenden Kampongs der Bumiputra gibt es dort die Chi- natowns mit ihrer drangvollen Enge und ruhelosen Geschäftigkeit sowie die indischen Viertel mit ihren von grellbunten Götterfiguren überwachsencn und von Weihrauch umkräuselten Tempelgebirgen. Auch in der Lebens weise gibt es ein scharf abgestuftes Nebeneinander, vor allem zwischen den drei Communities in Malaysia (dazu S.85f.). Von Furnival wurde dieser Tatbestand mit dem etwas unglücklichen Ausdruck «plural societv» um— schrieben — unglücklich deshalb, weil es sich lediglich um eine Pluralität von Communities, keineswegs jedoch, wie es der Begriff assoziiert, um eine plu— ralistische Gesellschaft handelt. Besonders kraß zeigte sich die Verschieb— tung im alten Phnom Penh, wo es französische, vietnamesische, indische und autochthone Khmer—Viertel gab und wo auch zahlreiche Ladenaule schriften viersprachig gehalten waren — ein Tatbestand, der von den Khmer5 Rouges als unzumutbar betrachtet und durch Liquidierung der Ausländer (Vor allem der Auslandsvietnamesen) in brutaler Form beseitigt wurde — SChr zum Schaden Kambodschas, wie sich bald herausstellte; denn Verschichtung II. Kulturwandel in Richtung « Verschicbtung» 33} ist ein kulturgeschichtlich gesehen «natürliches» Phänomen in Südostasien, dessen Beseitigung nur zu «unnatürhchen» Konsequenzen führen kann. Als weiteres Beispiel eines unvermittelten Nebeneinander sei hier die friedliche, aber keineswegs juristisch befriedigende Koexistenz von Shariah und Adat erwähnt, Wie Sie oben (S. 119f.) beschrieben wurde. Verschichtung in der Politik: Als Beispiele seien hier NASAKONL ASEAN und ZOPFAN angeführt: NASAKOM war ein Konzept Sukarnos, in dem drei auf den ersten Blick miteinander unvereinbare politische Rich- tungen, nämlich Nationalismus, Islam («Sarekat») und Kommunismus, miteinander verquickt wurden. ASEAN sollte fünf (später sechs) südostasia— tische Staaten, die z.T. keinerlei historische Gemeinsamkeiten aufweisen können, zu einem Regionalbiindnis zusammenschweißen — und hat diese Aufgabe bisher in überraschend harmonischer Weise gelöst. ZOPFAN schließlich soll alle zehn Staaten Südostasiens im Zeichen des Dreiklangs Kooperation, Neutralität und Neutralisierung durch die Großmächte zu ei- ner Ai't «Super-Österreich» in Südostasien zusammenschweißen — und dies bei Staaten, von denen drei marxistisch, sechs aber prononciert antimarxi— stisch ausgerichtet sind! Kein Zweifel gleichwohl, daß dieser (1967 entwor- fene) Regionalisierungsplan — unter der einen oder anderen Bezeichnung — eines Tages Gestalt annehmen wird. Eine echt «südostasiatische Lösung» schlug das malaysische Außenmini- sterium am 9.April 1985 für die Lösung der Kambodscha-Frage vor. Da die beiden einander auf dem Schlachtfeld bekämpfenden Rivalen damals nicht zusammenkommen konnten (weil sie sich sonst gegenseitig anerkannt hätten), trotzdem aber zusammenkommen mußten (weil dem Leid der Be— völkerung ein Ende gesetzt werden sollte), brachte Kuala Lumpur einen ty— pischen Sowohl-als—auch—Vorschlag, der unter der Bezeichnung «Proximity Meeting» («Beinahe—Treffen») stand. Die Gegner sollten sich zwar an einem bestimmten Ort in Asien zu Gesprächen treffen, jedoch nicht am selben Tisch, sondern in einander benachbarten Räumen, wobei ein neutraler Ver- mittler die Boten— und Moderatorenfunktion übernehmen sollte. Beide Sei— ten sollten also zusammenkommen und doch nicht «zusammenkommen», miteinander sprechen und doch nicht «miteinander sprechen»? Hier zeigte Sich erneut, daß ein «Entweder—Oder» dem südostasiatischen Denken fremd ist. Verschichtung in der Kunst: Auch hier gibt es, wie bereits oben beim Wat— PO—Beispiel angedeutet, schier unerschöpfliche Kombinationsmöglichkei— ten. Besonders charakteristisch der indonesische Batik, der eigentlich islami- SChen Ursprungs ist, in dem sich aber neben der abstrakten Musterung zu— nehmend auch hinduistische Motive (Garudas, Königsgestalten aus dem Wayang, traditioneller Lebensbaum) breitgemacht haben. Weitere Beispiele Smd der Sultanspalast in jogjakarta oder der Regierungspalast in Kuala Lum- pur — jeder für sich ein Sammelsurium verschiedenster Stileinflüsse. Y 334 Werwwandel oder Werteeinbmcb? Daß übrigens auch metakonfuzianische Kulturen zur Verschichtung fähig sind, hat japan bewiesen, das vor allem in den vergangenen jahren «im Bauch» um so japanischer wurde, je mehr Hirn und Hände nach westlichen Mustern zu funktionieren hatten. Folgende Thesen lassen sich nach alledem im Hinblick auf die weitere «Begegnung» zwischen asiatischem und westlichem Wertesystem aufstellen; These Nr. !: Nicht Verschmelzung und Absorption, sondern Verschich— tung ist (zumindest mittelfristig) ein geeigneter Weg, um westliche Elemente zu rezipieren, ohne die eigene Persönlichkeit zu verlieren. These Nr.z: Nicht das Entweder—Oder, sondern das Sowohl—Als—auch dürfte zur panasiatischen Handlungsmaxime werden. Umgekehrt gibt es auch für die wissenschaftliche Interpretation Asiens nicht einen einzigen Ansatz (z. B. eine «duale» oder «plurale» Erklärung), sondern eine Vielheit von Ansätzen, die allein als solche der nun einmal vorhandenen Vielschich- tigkeit Rechnung tragen können. Puristen sind in Asien fehl am Platz. These Nr. 3: Während Europa ein Nacheinander der Entwicklungen er« lebt hat, wobei das Neue im allgemeinen das Alte aufgehoben hat, findet in Asien ein Nebeneinander der Entwicklungen statt: nicht sukzessive Ablö- sung also, sondern simultanes Beibehalten. Kein Wunder, daß die oben bt:— schriebene klassisch westliche Zuwachsstrategie, die von der Ablösung des Alten durch das Neue ausgeht, bereits im Ansatz verfehlt war. Erst recht mußten die maoistischen oder Pol Potschen Versuche einer totalen Liquidie— rung der Traditionen scheitern. «Entwicklungs»-adäquat ist also nicht der «Neubau», sondern der «An— bau». Es muß der Entwicklung durchaus nicht schaden, wenn z. B. China auf der einen Seite mit Vorrang Hochleistungsgebiete errichtet (z.B. das Yangzi-Delta, die 14 Küstenstädte oder die Wirtschaftssonderzonen) und wenn es andererseits bewußt die Landwirtschaft auf verschiedenem » auch dem niedrigsten! — Entwicklungsniveau fördert. Man darf auch getrost mit einem fließend englisch sprechenden Thai rechnen, der trotz aller berufsbe— dingten «Modernität» jeden Tag noch den Geistern opfert, liebevoll dem buddhistischen Tempelkult nachgeht und astrologiegläubig ist. Ein Auslän— der mag mit ihm zwar durchaus zurechtkommcn, wenn er ihn als «Westler» behandelt; noch besser freilich kann er sich mit ihm arrangieren, wenn er ihn in seiner «geschichteten» Persönlichkeit erkennt und akzeptiert. These Nr. 4: Bei der «Verschichtung» handelt es sich nicht etwa um eine Involution, sondern um eine Evolution asiatischer Machart. Während Inve— lution zunehmende Komplizierung, Fortschrittslosigkeit und Stillstand nach sich zieht, bringt die Verschichtung durchaus innovative Elemente mit ins Spiel, insofern nämlich das «zo.jahrhundert» auf die Flöze der vergangenen Jahrhunderte aufgesetzt wird. Die darin zutage tretende logische Unverein— barkeit ist ein westliches, nicht jedoch ein asiatisches Verständnisproblem. Anhang