14 Vorwort Abtritt der charismatischen Führerpersönlichkeiten vom Format eines Mao Zedong, Ho Chi Minh, Nehru oder Sukarno deutlich die Tradition wieder zu Wort gemeldet und beginnt, ihr Recht einzufordern. Fast physisch greifbar wurde dies in China, wo die seit 1978 laufenden Reformen wie eine Eigenblutimpfung wirken, nachdem die Bevölkerung vorher drei Jahrzehnte lang mit «körperfremden» Mitteln behandelt werden war. Ähnliche Entwicklungen zeigen sich auch im Indonesien der Nach—Su— karno-Zeit oder im neuen Malaysia, das im Zeichen der Re-Islamisierung steht. Überall regen sich wieder die alten Werte, die sich in der Zwischenzeit freilich erheblich modifiziert und den neuen Bedingungen angepaßt haben. Es sind nicht mehr die «Großen Traditionen» der mandarinären, der brah— manischen oder der javanischen Prijaji-Welt, die das Denken besetzt halten, sondern die zähen und mit tausend Organen klammernden «Kleinen Tradi— tionen» des Handwerker— und Bauernkonfuzianismus, des Dorfhinduismus und des «Ada-Islam», die sich in soliden, für den Überlebenskampf im All- tag nutzbringenden Regeln niedergeschlagen haben und die völlig unabhän— gig sind vom Verschwinden oder Fortbestehen der traditionellen Eliten. Angesichts dieser neuen Situation steht die nachfolgende Darstellung un- ter einem Doppelziel: Zum einen geht es darum, die traditionellen Wertesy- sterne durch die asiatische Brille zu sehen und «verstehen» zu lernen, zum anderen ist danach zu fragen, inwieweit die traditionellen Elemente der «Modernisierung» dienen oder wieweit sie ihr im Wege stehen. Was der Autor vermeiden möchte, ist eine Darstellungsweise, wie sie zur Kolonialzeit noch durchaus üblich war, als nämlich asiatische Wertesysteme entweder als «Eingeborenen-Brauchtum» abgetan oder umgekehrt zu weih- rauchumkräuselten Weistümern hochstilisiert wurden. Vermieden sei des— halb auch das in der Asienliteratur so beliebte Wort «geheimnisvoll». Ein Land wie China ist, wenn man es mit seinen eigenen Maßstäben begreifen lernt, nicht «geheimnisvoller» oder «rätselhafter» als etwa Frankreich oder Italien. Ein moderner Autor befindet sich in der angenehmen Lage, häufig reisen, Erfahrungen sammeln und Arbeitshypothesen immer wieder falsifizieren oder verifizieren zu können. Gleichzeitig weiß er sich unter der Kontrolle zahlreicher Leser, die ebenfalls empirische Eindrücke sammeln konnten. Darüber hinaus hat sich sogar die Optik solcher Zeitgenossen verändert, die keine praktischen Reiseerfahrungen haben. Man vergleiche nur einen In- dien—Film aus den fünfziger mit einem solchen aus den achtziger Jahren. Die Versuchung, von den Realitäten abzuheben, ist angesichts dieser Doppel— kontrolle nicht besonders groß. Der Autor hat sich bemüht, ein Begegnungsbuch zu schreiben, wie er es selbst gern zur Hand gehabt hätte, als er — vor einem runden Vierteljahrhun— dert — zum erstenmal nach Asien kam. Vorwort ‚5 Grundbegriffe wie «Asien», «Die Asiaten», «Wertesystem», «Normali— tät», «Entwicklung» und «Kulturwandel/Wertewandel» werden im Text nä- her erklärt. Als Leitkulturen sollen «China» und «Indien» in der Darstellung eine Hauptrolle spielen. Noch bei keinem seiner Bücher hat der Autor das ursprüngliche Manu— skript so radikal zusammenstreichen müssen wie bei der vorliegenden Dar— stellung. Jedes einzelne Kapitel hätte sich mühelos auf den zehn— bis zwan- zigfachen Umfang ausspinnen lassen. Möge die vorliegende Darstellung zu besserem Verständnis, zu einer kon— fliktfreieren Kommunikation und vielleicht sogar zur «Begegnung» mit «den» Asiaten beitragen. Besonders zu danken hat der Autor seinen Mitarbeiterinnen Frau Ma- rianne Kühne, Frau Grethe Meier-Gildemeister und Frau Wiebke Timpe, die Niederschrift und Korrektur des Manuskripts besorgt haben. Oskar Weggel