I. «Asien» und «Die Asiaten» Mit «Asien» sind hier fünfundzwanzig Staaten und Stadtstaaten gemeint, die diesem Kontinent üblicherweise zugerechnet werden: die sieben Länder Ostasiens‚ China, Hongkong, Japan, Korea—N., Korea-S., Macao und Tai— wan; ferner sieben Staaten Südasiens, Bangladesch, Bhutan, Indien, Maledi— ven, Nepal, Pakistan und Sri Lanka; zehn Länder Südostasiens, und zwar die sechs ASEAN—Mitglieder Brunei, Indonesien, Malaysia, Philippinen, Singapur und Thailand, die drei Indochina-Staamn Kambodscha, Laos und Vietnam sowie Birma und schließlich ein zentralasiatischer Staat, die Mon- golische Volksrepublik. Drei Schritte sollen der Annäherung an die Asiaten und ihre Verhaltens- kultur dienen. Zunächst ist die Frage zu beantworten, ob es überhaupt «die» Asiaten sowie panasiatische Verhaltensmuster gibt; sodann sind die asiati- schen Subsysteme zu ermitteln, und schließlich gilt es zu untersuchen, in welcher Weise sich wiederum die Angehörigen dieser jeweiligen Subsysteme voneinander unterscheiden. Die Antwort auf die erste Frage, ob es panasiatische Verhaltensmuster gibt, fällt deshalb nicht leicht, weil Asien zwar als geographische, nicht aber als soziokulturelle Einheit existiert. Zwar ist «Asien» großstaatlicher, ge- schichtlich tiefer verwurzelt, religiös autochthoner und historiographisch äl— ter als die Kulturen irgendeines anderen Erdreils. Gleichwohl handelt es sich hier nicht um eine Einheit, sondern um eine Vielheit, sogar ein Vielfaches Gegeneinander. «Asien» war sich auch nie einer Zusammengehörigkeit be- wußt und darf deshalb wohl als europäische Erfindung gelten. Sieht man einmal von kurzlebigen lntegrationsbestrebungen unter Führung Japans während der vierziger Jahre ab, so gibt es auch im zo.Jahrhundert nirgends panasiatische Zielsetzungen, die darauf hindeuten, daß Asien in absehbarer Zeit zu einer Einheit zusammenwachsen könnte.1 Dies gilt grundsätzlich auch für die Verhaltenskulturen. Gleichwohl lassen sich zahlreiche Gemein- samkeiten ermitteln, die einen durchaus panasiatischen Eindruck erwecken, freilich nicht deshalb, weil sie wirklich gesamtasiatisch wären, sondern weil sie so erscheinen müssen, sobald sie mit jenem europäischen Wertesystem konfrontiert werden, das in der Geschichte der Menschheit zwar als Aus— nahmefall gelten muß, das inzwischen aber gleichwohl universale Verbind- lichkeit gewonnen hat. Die bei einem solchen Vergleich hervortretende asiatische «Gemeinsamkeit» ist nachfolgend unter dem Stichwort «Ganz— heitlichkeit» im Gegensatz zur europäischen Differenzierungstendenz zu beschreiben.