I. Unwesentliche Unterschiede Die Suche nach einer bündigen Formel für den Unterschied zwischen «Asien» und dem «Abendland» geht weit zurück und hat zu einer Fülle von Formeln geführt, die sich schlagwortartig folgendermaßen wiedergeben las— sen: Dynamik/Statik,]ugendlichkeit/Alter, Freiheit/Despotie, Verstandeskul— tur/Gefühlskultur, geschichtlich/unhistorisch («ohne Entwicklung»), Dies— seits/jenseits-Bezogenheit‚ Materialismus/Geisdgkeit und wie ähnliche Di- chotomien noch lauten mögen. Zur größten Berühmtheit hat es Hegels Antithese von Freiheit und Des— potie sowie von Geschichtlichkeit und «Entwicklungslosigkeit» gebracht. Sie hat dem Urteil der Zeit nicht standgehaltcn: «Despotie» gibt es nicht nur in Asien, und andererseits ist Demokratie keineswegs auf den Westen be- schränkt: Die «Dorfdemokratie» ist über weite Teile Asiens selbstverständ— lich (zur Danwei/Transdanwei-Theorie vgl. unten S‚ 57ff.). Von «Entwicklungslosigkeit» andererseits kann man in Asien nur dann sprechen, wenn man als Maßstab das europäische Tempo der letzten zoo Jahre anlegt. Vor der Renaissancezeit ist asiatische Geschichte nicht wesent— lich langsamer verlaufen als europäische. Seit dem «Erwachen» ]apans und dem wirtschaftlichen Vordringen der ostasiatischen Konkurrenz käme auch niemand mehr auf die Idee, Asien als «statisch» und «passiv», den Westen dagegen als Inbegriff der Dynamik zu bezeichnen. Auch die Diesseits/jenseits— oder aber die Materialismus/Gei— stigkeitsthese vermag angesichts der raschen sozioökonomischen Entwick— lung in einigen Teilen Asiens kaum noch zu überzeugen — ganz zu schweigen von der Antithese Jugendlichkeit/Alter. Soweit von physischer jugendlich— keit die Rede ist, erscheint Europa gegenüber Ländern wie Indien, China oder Vietnam als geradezu greisenhaft. Aber auch geistig steht die Auf— bruchstimmung der asiatischen Gesellschaften denjenigen des Westens ganz gewiß nicht mehr nach.