II. Der eigentliche Unterschied: Ganzheitlichkeit r. Ganzheitlichkeit als «Harmonie» So gäbe es am Ende überhaupt kein eindeutiges Unterscheidungsmerkmal? Auf den ersten Blick scheint dies der Fall zu sein. Sogar eine Autorität vom Range Nakamuras, der dem «asiatischen Denken» eine so gründliche Unter- suchung gewidmet hat, sieht sich angesichts der Uneinheitlichkeit Asiens außerstande, einen klaren Trennungsstrich zu ziehen]. Zuzustimmen ist ihm insoweit, als es, wie oben ausgeführt, »Asien« in der Tat nicht gibt; gleich— wohl läßt sich auch heute noch ein panasiatisches Durchschnittsverhalten und -denken ausmachen, das sich vom westlichen beträchtlich unterschei— det. Gemeint ist hier die zumindest in der Tradition so selbstverständliche Ganzheitlichkeit, wie sie sich sowohl im Denken als auch im Einzelverhal— ten und im Gesellschaftsaufbau ausdrückt und wie sie in so bemerkenswer— tem Gegensatz zur westlichen Differenzierungs- und Aufspaltungstendenz steht. Diese Ganzheitlichkeit liefert, wo sie sich gehalten hat, den Schlüssel für das Verständnis, wo sie aber verlorengegangen ist, die Erklärung für das Un- behagen und die Reizbarkeit vieler Asiaten in der modernen Welt. Ganzheitliche Denk- und Verhaltensweisen sind überall dort zu Hause, wo, wie im traditionellen Asien, ein existentielles Grundbedürfnis nach «Harmonie» besteht. Westlichen Gesellschaften ist eine solche Einstellung spätestens seit dem Ende des Mittelalters abhanden gekommen. Vor allem heutzutage neigen sie dazu, Konflikte nicht etwa als störend zu empfinden. sondern sie im Gegenteil als positiv-aufbauend zu betrachten, da sie den «Fortschritt» vorantrieben, zur Selbstbehauptung des Individuums beitrü— gen und den Pluralismus förderten. Alle diese drei Grundwerte waren dem traditionellen Asien unbekannt. Dort zählte nur die Vergangenheit (mit ih« ren überlieferten Verhaltensmustern) und nicht die Zukunft, nur das Wir, nicht das Ich und nur die religiös geheiligte und durch Tabus abgesicherte Lehre, nicht dagegen die Einzelmeinung oder gar die «Originalität». A und O allen sozialen Strebens war die Harmonie. Zwei Fragen sind nachfolgend zu beantworten: Woher kommt dieses Har- moniebedürfnis, und wie wirkt es sich praktisch aus? I]. Der eigentliche Unterschied: Ganzheitlicbleeit 39 2. Woher kommt das Harmoniebedürfnis? a) Analogistiscbes Weltbild und Ver/eetiungsdenleen Sieht man von einigen städtischen Inseln ab, so bestand Asien bis ins zo_]ahrhundert hinein aus Bauern— und vereinzelt auch aus Hirtengesell— schaften, denen die schicksalhafte Verkettung zwischen Himmel, Erde und Mensch selbstverständlich war. Eine einzige falsche Note in diesem Drei— klang — und schon herrschte Disharmonie, die von gefährlichen Folgen be— gleitet sein konnte. Nichts war zufällig in diesem Weltbild (zum Verhältnis zwischen »Zufall« und Ursache vgl. unten S. 206 ff.), und nichts ging verlo— ren — man denke an die hinduistisch—buddhistische Karma—Lehre. Dieser Automatismus führte dazu, daß z.B. auch Natur— und Politkatastrophen miteinander in Zusammenhang gebracht wurden: Eine schlechte Regierung, nahm man an, störte das Gleichgewicht und verursachte damit Naturkata— strophen, wie umgekehrt Naturkatastrophen «himmlische Zeichen» für ei- nen sich ankündigenden dynastischen Sturz sein konnten. Diese Überzeugung von der Parallelität der drei Ebenen war allen frühen Kulturen Asiens gemeinsam — und lebt zum Teil auch heute noch weiter. Nichts geschah hier ohne Analogie im psychologischen, gesellschaftlichen, kosmischen oder aber im Geisterbereich. Sowohl im javanischen2 als auch im chinesischen3 Kulturbereich gibt es genaue Entsprechungen von Farben, Stimmungen, Krankheiten, Himmelsrichtungen, ]ahreszeiten, Klimazu— ständen und seelischen Stimmungen, die durch Fünferreihen festgelegt sind (Tabelle 5.127). Ein praktisches Beispiel: Nach den Spekulationen der von Konfuzius redigierten «Frühlings— und Herbstannalen» gehören der Osten, der Frühling, die grüne Farbe, der Drache als Tierzeichen, die Re- glerungsparole einer «milden Regierung» und die Materie Holz zur glei— chen Entsprechungsordnung. Logischerweise hatte sich der Kaiser in den drei Frühlingsmonaten im östlichen Trakt der Halle des Lichts aufzuhalten, einen Wagen zu fahren, der von Apfelschimmeln gezogen wurde, und grüne Banner mit sich zu führen. Der Hofstaat hatte grüne Gewänder und grüne ]ade anzulegen. Die Opferfeiern des Kaisers waren auf dem östlichen Anger abzuhalten. Der Kaiser hatte seinen Ministern zu befehlen, großmü— Hg und milde zu sein und zu verhindern, daß Bäume gefällt und Waffen eingesetzt wurden (Holz wird durch Metall vernichtet). Entsprechende Anwensungsparallelen galten für die Sommer—, die Altweibersommer-, die Herbst- und die Wintermonate, also für alle fünf Jahreszeiten. Kam es zu Naturkatastrophen oder zu anderen unheilvollen Ereignissen, so war damit aus der bäuerlichen Perspektive eo ipso bewiesen, daß der Kaiser, von des— 5€I} «richtigem» (d.h. harmoniebedachtem) Verhalten ja alles «unter dem Hlmmel» abhing, den Auftrag von oben nicht erfüllt und deshalb sein Mandat verloren hatte.