42 Asien und «der Westen» in dem tunlichst jede hastige Bewegung zu vermeiden ist. Gläser und Por- zellanvasen sind greifbar, und man kann sie stets im Auge behalten, die Gei— ster dagegen sind es nicht. Was bleibt also anderes übrig, als ihnen mit «Ge— spür» und «innerem Radar» zu begegnen? Wie aber kann ich wissen, ob ich mich zwischen dem «Porzellan» auch richtig bewege und «Scherben ver- meide»? Vor allem die javanische Kultur hat hier besonders feine Antennen ent— wickelt. Man kann die dortigen Denkgewohnheiten folgendermaßen aus— drücken: Angesichts der analogen Verkettung aller Ursachen und Ereignis— abläufe «erspüre» ich aus der Unruhe in meinem Inneren oder aber aus der Aufgeregtheit meiner Umgebung, daß auch die Welt der Geister in Aufruhr ist. Fühle ich mich umgekehrt mit mir selbst eins und erlebe ich Harmonie mit meiner Familie, meinen Nachbarn und meiner dörflichen Umwelt, so weiß ich, daß auch kein Dämon (und damit auch keine Naturgewalt) etwas gegen mich im Schilde führt“. Dieses von meinen Vorfahren ererbte «Wissen» liefert mir die Maxime meines Handelns, die nämlich in dem kategorischen Imperativ besteht, um jeden Preis zu vermeiden, daß Konflikte an die Oberfläche treten. Stürme dürfen erst gar nicht aufkommen. «Harmonie» wird hier zum obersten Ge- bot, vor dem alle anderen, im übrigen noch so anerkannten Werte zurücka treten haben. Um etwa der «Gerechtigkeit» willen einen Prozeß vom Zaun zu brechen und damit Streit unter meine Nachbarn hineinzutragen, wäre ein unverzeihlicher Verstoß gegen die Gesellschaftsordnung. je animistischer also eine Lebensordnung ist, um so vorsichtiger, ja ängst— licher — und am Ende auch harmoniebedachter —— bewegt sich der einzelne, um wenigstens das Seine zur Harmonie beizutragen und dadurch vielleicht auch die natürliche und die numinose Welt zum Wohlverhalten zu zwingen. Hier liegt die Wurzel des «guten Vorbilds», dem vor allem in der konfuziani- schen Welt magische Bedeutung zugemessen wird. Je säkularer und naturwissenschaftlicher umgekehrt die Welt interpretiert wird, um so selbstbewußter, berechnender, planender und entschlußfreudi- ger geht der Mensch vor. Er kennt seine Umwelt und nimmt notfalls auch Konflikte in Kauf, sei es nun aus egoistischen oder auch aus durchaus mora— lischen Erwägungen. Hierzu drei Beispiele: Ein westlicher Entwicklungs— helfer geht vor Gericht, um die Einhaltung von Zusagen zu erzwingen, die ihm um des lieben Friedens willen ursprünglich gemacht, dann aber nicht eingehalten worden waren; er zeigt einen Dorfvorsteher bei den Behörden an, weil dieser Entwicklungsgelder der Regierung in die eigene Tasche ge- steckt hat; er legt sich mit einer Dorfgemeinschaft über technische Fragen elnes Kanalisationsprojekts an. In allen diesen drei Fällen pocht er ganz ge- Wlß auf Werte, die in allen asiatischen Gesellschaften anerkannt sind, wie Gerechtigkeit, Ehrlichkeit und Wahrheit; am Ende aber bleibt er moralisch doch im Unrecht, da er die oberste aller Wertkategorien, nämlich das Har- 11. Der eigentliche Unterschied: Ganzheitlicbkeit 43 monieprinzip, verletzt hat. Sein Verhalten wird damit verwerfenswert, auch wenn seine Absichten noch so lauter und seine Schritte noch so «korrekt» gewesen sein mögen. Nirgends in Asiens, und schon gar nicht in Java, wird ihm nämlich das Recht zugestanden, autonom, d. h_ unter Berufung auf sein eigenes Gewissen, zu entscheiden, ob er der «Gerechtigkeit» notfalls auch auf Kosten der Harmonie die Ehre geben darf. Das Gebot, Störungen der Harmonie zu vermeiden, ist der individuellen Disposition entzogen, wo— durch letztlich freilich auch die Moral relativiert wird7. Zwei Prinzipien sind in der javanischen Gesellschaft von alles überragen- der Bedeutung, nämlich Konfliktvermeidung und Rangrespektierung, wo- bei für letztere ein Repertoire streng stilisierter Sprach- und Gebärdeforrnen zur Verfügung steht. 50 stark ist das Bedürfnis, soziale Mißklänge zu vermeiden daß man selbst dann ja sagt, wenn man nach Lage der Dinge eigentlich mif Nein ant— worten müßte. Im ]avanischen gibt es sieben Arten des ]a—Sagens, deren Be— deutung von ja über vielleicht bis hin zu nein reichen kann. Spitzt man das Problem zu, so kann man es in die Frage kleiden: Soll ich ehrlich (treu, gerecht usw.) oder aber harmoniebedacht sein? Die traditio— nelle asiatische Antwort fiele allemal in letzterem Sinne aus. Dieses existentielle Harmoniebedürfnis ist ein idealer Humus für konser- vatives Denken: Wer Konflikte vermeiden will, renne bitte nicht gegen Ka- sten—, Familien-, Clan- und Danwei—Ordnungen an. Warnend heißt es sogar manchmal: «Kastenordnung oder Anarchie», wobei vorausgesetzt wird, daß die Kastenordnung keine menschliche, sondern eine göttliche Stiftung sei. 3. Die «Drei Harmonien» Entsprechend dem vor allem in der konfuzianischen Tradition beheimateten Dreiklang «Himmel, Erde, Mensch» seien nachfolgend drei Exemplifizie— rungen des ganzheitlichen Umgangs mit dem Mitmenschen, mit der Natur und mit dem Ubersinnlichen gegeben. 4) Im Einklang mit der menschlichen Umwelt Eine Warnung vorweg: «Sanfte» Konfliktbewältigung ist keineswegs Kon— flikt105igkeit, wie eine Rundfrage in dem äußerlich so harmoniebedachten Malaysia8 gezeigt hat. Eine Grundvorstellung bei den Befragten war der Wett- bewerb um ein gleichbleibend großes Stück Kuchen, von dem eine wachsende Zahl von Konkurrenten zehren möchte. Die Menschen befänden sich dabei in einem steten Uberlebenskampf; von Natur aus seien sie schlecht, verstünden es aber, ihre wahren Absichten hinter einer Höflichkeitsmaske zu verbergen. Außerhalb der eigenen Familie gebe es keine Moral; man handle nicht nach