44 Asien und «der Westen» den Befehlen des Gewissens, sondern nach äußerlicher Schicklichkeit. Die Regierung Sei gut beraten, wenn sie vor allem die Polizeifunktionen des Stan- tes stärke. Gleichzeitig gaben die Befragten aber auch zu, daß angesichts die- ser durch begrenztes Güterangebot, wachsenden Wettbewerb und soziales Mißtrauen gekennzeichneten Grundbefindlichkeiten der Bedarf an Mecha— nismen der Konfliktvermeidung steige. Ob «Harmonie» aus edler Absicht, aus Berechnung, Trägheit oder aber Opportunismus geübt wird, spiele letze lich keine Rolle — Hauptsache, sie sei da. Wie der «Harmoniebedarf» zu ganzheitlichem Verhalten führt, sei anhand einiger Beispiele angeführt: Während der westliche Mensch bereit ist, in mehrere gesellschaftlichc Rollen zu schlüpfen, bei umerschiedlichen Sachzwängen Rollendissonanz in Kauf zu nehmen und überhaupt eine rational durchorganisierte Gesellschaft zu akzeptieren, strebt der Durchschnittsasiate nach Rollenkonkordanz und möchte eher einer organisch gewachsenen und überschaubaren Wir—(ie— meinschaft angehören. Den «Einzigen» im Sinne eines Max Stirner gibt es unter diesen Umständen in Asien genauso wenig wie die «blauen Ameisen». In den überschaubaren Kleingruppen der Dörfer, Betriebe und Nachbar schaften würde kaum jemand eine 51—%—Demokratie akzeptieren. Statt des— sen wird der Konsens aller, aber auch wirklich aller Mitglieder angestrebt, wobei zeitaufwendige Harmonisierungsprozesse nötig sind, z.B. das javani— sche Musjawarah, die Ringisei-Praxis im japanischen Industrie— und Behör— denbetrieb und nicht zuletzt das so unendlich häufige und manchmal auch lästige chinesische «Kaihui» («Versammlungen abhalten»). Ganz im Gegensatz zum Westen wird in Asien ferner selten zwischen Pri- vat— und Geschäftsfragen getrennt. Beziehungen aller Art, ob im Betrieb, im Behördenalltag oder in der Nachbarschaft, sind vielmehr primär personaler und erst in zweiter Linie sachlich—funktionaler Art. Kein Wunder, daß der «Personalismus» in all seinen Ausprägungen, vom Nepotismus bis hin zur Patronage, als normal gilt! Harmoniegefährdende Situationen werden entweder durch Einschaltung einer dritten Person oder durch strikte Ritualisierung entschärft. So ist der Mittelsmann ein panasiatisches Faktotum, das bei Schlichtungen und schwierigen Geschäftstransaktionen ebenso in Erscheinung tritt wie bei heiklen Ehestiftungen. Was die Ritualisierung anbelangt, so hilft sie auf subtile Weise Streßsitua- tionen zu entschärfen. Die Trauer der Hinterbliebenen zum Beispiel hat sich vor allem in korrekten Zeremonialabläufen zu äußern, nicht in individuellen Bekundungen, die ja allenfalls andere Gemeinschaftsmitglieder «belasten>> würden. Auch sonst geht es wesentlich ganzheitlicher zu als im Westen, 50 z. B._beim Lernen, das fast immer in Gemeinschaft erfolgt. Hier wäre erstens das auch heute noch weitverbreitete Meister-SchüleF Verhältnis als Beispiel zu nennen, das nicht nur im Hinduismus oder in den [I. Der eigentliche Unterschied: Canzbeitlicb/eeit 4} Pesantren (muslimischen Internaten Mala sias ' dern sich sogar im revolutionären ()3hina fiat h:?lftii lt?jäeiielterlebt, T3”?— 5Piel bet der Vermittlung der traditionellen Medizin die erad 59 Zäm le!- Mao Zedongs eine so erstaunliche Wiedergeburt erfahreä hat eIim elta Fed hier zum Nachahmen eines majestätischen Lehrers. Einem Al' erSlfn vi," wie Arthur Koestler9 wurde höchst unbehaglich zumute llen_ :epltiker einer solchen Guru/Schüler—Situation konfrontiert sah Ei fis er "SAC ' mit Hmel tm südindischen Kerala gerade an seinem Schreibtisch f7tlte m “nem men, als die Tür sich öffnete und ein Inder ihn bat der hoh ?; geno"m- doch bitte seinem Sohn erlauben, eine Zeitlang still in seiner Iil"hast m°ge weilen. Typisch der nun folgende Kommentar: «Die ganze Zeita e zu Vi" auf dem Boden hockende ]üngling den Blick seiner großen Baritf>il-Äe er nicht von mir ab. Sie schlürften meine schweißtriefende Erscheinl ng?" Sie höhlten mich aus, sie hingen an mir wie elektromagnetisch Bxlng eul, Ob ich lächelte oder finster drein sah, ob ich schrieb oder ur elete Uteghe . für ihn keinen Unterschied: Alles war geistige Bereicherugn gEr ‚sarfiac td saugte und labte sich wie eine Zecke im Hundefell. Ich hatte äiohl über Tö- g15 gelesen, die in Himalaya-Höhlen mit ihren Gurus lebten und 1 Jahre lang me das Wort an ihn richteten — aber erst jetzt, unter dem hy nofischen Blick des Jungen, begriff ich die symbolische Wechselbeziehungp zwischen Schüler und Meister und fand sie recht unbehaglich.» In Asien hat der Leh- rer vor allem ein persönliches und erst in zweiter Linie ein fachliches Vor- bild zu sem (Näheres S. 194 f.). Ähnlich ganzheitlich wird auch die Eltern- rolle gesehen. Zweitens ist das Lernen nicht nur ein analytisches Durchdringen des Stoffs, sondern ein intuitives Erfassen und Erfiihlen, ja «Eintauchen» in die Materie (Näheres dazu unten S. 189ff.). Daher die weitverbreitete Neigung Texte auswendig zu lernen und so ein Gespür für das Erlernte zu erlangeni Schriftzeichen etwa werden im metakonfuzianischen Kulturkreis zunächst einfach nur gepaukt, wobei der Lehrende von der Erwartung ausgeht, daß die Stimmungen und Schönheiten des Ideogramms dem Schüler eines Tages schon noch aufgehen. Bezeichnenderweise erfolgt dieses Einpauken häufig mchtsolo, sondern in Gemeinschaft mit anderen. Drittens aber werden die Unterschiede zum Westen deutlich bei der Suche nach einer Definition des «gebildeten» Menschen. Im Westen ist er im allge— me1nenern Wissender, in Asien dagegen ein Bewahrender (Konfuzianis- mus), em Entsagender (der Hindu in seinem vierten Lebensabschnitt), ein Dlenender (Maoismus) oder ein Ergebener - man denke an den gläubigen Mohammedaner. Fast immer haben diese Eigenschaften Gemeinschaftsbe- Zug, vor allem im Konfuzianismus. Darüber hinaus war bis in die jüngste Zeit hinein das (ebenfalls ganzheitliche) Amateurideal verbindlich, sei es nun beim konfuziariischen Mandarinat, beim japanischen Schwertadel oder in den Hindu— und Islamschulen, deren Lehren nie bloßer «Religionsunter—