;0 Asien und «der Westen» Anders 315 bei Flüssen, Bergen und Pflanzen gibt es keine einheitliche Hal» tung «Asiens» zu den Tieren. Zu den tierfreundlichsten Religionen gehören ganz sicher der Buddhismus, derjeumsmus und der Hinduismus; beim Bud» dhismus hängt dies mit dem Seelenwanderungs—, beim Hmdu15mus‘ vor allem mit dem Alleinheitsglauben zusammen: «Alles ist Gott» — auch das Tier; mit ihm lebt man im ländlichen Indien wie mit Hausgenossen — mit Kühen so— wieso, aber auch mit Hühnern, Zikaden und Kakerlaken Vor allem nachts verwandelt sich das Haus in eine raschelnde, zirpende und bellende Ge— räuschkulisse. Diese Koexistenz hat nichts mit sentimentaler Tierliebe zu tun; dies weiß jeder, der einmal einen indischen Zoo besucht hat oder Zeuge war, wie unsanft Bauern bisweilen mit ihren Zugtieren umgehen. Tiere gehören auch überall zur religiösen Aura, sei es nun als Reittiere der hinduistischen Götter, als fauchende Schlangen und Drachen an Tempeleingängen oder aber als lebendige Schildkröten, die in zahlreichen daoistischen Tempeln als Sym» bole der Langlebigkeit gehalten werden. Einem noch tief in der aniniistisehen Tradition verhafteten Politiker wie Sukarno gingen bei der Bandung—Konfe— renz von 1955 folgende Vergleiche leicht von den Lippen: «Wenn der Drache Chinas mit der Heiligen Kuh Indiens zusammenarbeitet, die Sphinx Ägyp tens mit dern Pfau Birmas, der Weiße Elefant Siams mit dem Phönix Vietnarm, der Tiger der Philippinen mit dem Banteng—Büffel Indonesiens — dann wird der internationale Imperialismus und Kolonialismus ganz sicher vernichtet werden.» In Ostasien allerdings hat man dem Tier gegenüber eine meist utili— taristischere Einstellung und fragt nach der Eßbarkeit. Aber auch hier Wäre niemand auf die cartesianische Idee von der «Maschinenhaftigkeit» und «See— lenlosigkeit» eines Tiers verfallen. In manchen asiatischen Kulturen findet eine bemerkenswerte Vergewaltk gung der Natur statt — aber nicht, um sie zu denaturieren, sondern um sie «noch natürlicher» zu gestalten: Dies gilt für China, vor allem aber fürjapan mit seiner Bonsai— und Ikebana—Tradition. Im ganzen konfuzianischen Kul— turkreis wandert man nicht durch natürliche, sondern schlendert durch «künstliche Natur» wie Parkanlagen und Miniaturgärten, deren Reiz darin liegt, daß mit einem Maximum an Künstlichkeit ein Optimum an «Natur» lichkeit» geschaffen wurde. Die Umgebung taucht in Form der sogenannten geliehenen Landschaft auf, die den bewußt perspektivisch gewählten Hinf tergrund vieler Gärten in Kyoto oder in Suzhou bildet. Und das Verhältnis Asiens zur Wissenschaft? Wissenschaft war dort, anders als in Europa, nie der Versuch, die Natur zu beherrschen, sondern mit ihr in Harmonie zu treten und die Bestätigung der Einheit zwischen Mikro— und Makrokosmos zu erhalten. Das Interesse galt in der Regel nicht den physischen, biologischen oder soziologischen Details, sondern den Beziehungen zwischen diesen einzelnen Erscheinungen. Nach chinesischer Auffassung mußten ja die fünf Elemente in genauer EntspR” Y [I. Der eigentliche Unterschied: Ganzheitlicb/eeit }! chung zu den fünf ]ahreszeiten, den fünf Stimmungen, fünf Richtungen usW- gebracht werden. Diese ganzheitliche Einstellung verbot jegliche Ent- tabuisierung der Natur, wie sie beispielsweise durch die christliche Ethik ge— fördert worden ist. «Wissenschaft» darf sich nie von ihrer Umgebung — vor allem auch nicht der Religion — abschotten. Im Hinduismus und im Islam kann sie am Ende nur Ergebnisse hervorbringen, die in den heiligen Offen— barungen ohnehin längst angelegt waren. Selbst Kernspaltung und I..aser_ technologie wären nach dieser Lehre nichts anderes als eine Art Wiederent— deckung. Ein Europäer fragt sich immer wieder erstaunt, wieso China und Indien ihre zahllosen Basiserfindungen nicht weiter ausgebaut und nutzbrin— gend umgesetzt haben. Die Chinesen haben ja bekanntlich lange vor den Eu— ropäern das Papier, den Kompaß, das Schießpulver, die Porzellan— und Sei— denherstellung, den Buchdruck und die Akupunktur entdeckt. In Indien gab es eine fortschrittliche Kalenderforschung und schon früh beeindruk— kende astronomische Erkenntnisse etwa über die Kugelgestalt der Erde, vor allem aber außerordentliche Leistungen auf dem Gebiet der Mathematik (Erfindung der Null, des Wurzelziehens und der Gleichungen z.(3rades‚ Ansätze zur Differentialrechnung und Trigonometrie. Nicht zuletzt stam— men auch die «arabischen» Zahlen aus Indien). Bedeutsam ferner medizini— sche und technische Entdeckungen, nicht zu vergessen auch die Sprachwis— senschaften und hier vor allem wiederum die Grammatik. Doch all diese Erfindungen wurden nur partikulär und zu gesamthaften Zwecken, jedoch nie um ihrer selbst willen entwickelt, so zum Beispiel Ma— thematik und Meßwesen für den Tempelbau‚ Astronomie (und Astrologie) für die Anpassung der menschlichen und politischen an die himmlischen Ge— setzmäßigkeiten und Geschichtsschreibung für die politische Legitimation. Es gab kein Bedürfnis nach Wissen um des Wissens und nach Erkennen um des Erkennens willen. Aber auch sonst bestand wenig Interesse an Innovationen, die ja erstens nur den Status der politischen Eliten gefährden und zweitens religiöse Tabus verletzen konnten — man denke an den Zorn, der durch neue hydraulische Erfindungen gereizten Boden— und Wassergeister; drittens aber bestand die Gefahr, daß das durch die Tradition einigermaßen unter Kontrolle gebrachte «Gleichgewicht» zwischen den Kräften schnell wieder in Unordnung gera— ten könnte. Außerdem war der «Fortschritt» im asiatischen Wertesystem nicht positiv besetzt: Der Hinduismus gebietet die demütige Hinnahme des e"genen Schicksals im Kastenrahmen, der Islam befiehlt die «Ergebung», der Konfuzianismus die permanente Selbstvervollkommnung im Rahmen der überkommenen Sittenordnung, und der Daoismus lehrt die Übereinstim— mung mit dem Natur—Dao, die man am ehesten durch Nichthandeln, d.h. durch Passivität, erreichen könne. Kein Wunder, wenn unter diesen Umständen Wissenschaft keine Eigenbe— deutung annahm, sondern stets in einem übergeordneten Rahmen eingebet—