52 Asien und «der Westen» tet blieb. Bezeichnenderweise gab es ja auch keinen «Wissenschaftler»; viel, mehr behielt das Amateuricleal bis in die iüngste Zeit hinein Gültigkeit. Dat mit blieb den Asiaten zerebrale Einseitigkeit wie auch der Glaube erspart‘ daß eine Darstellung um so wissenschaftlicher ist, je blutleerer sie zutage tritt. Soweit ein Asiate moderne Wissenschaft betreibt, dürfte er, von seiner hg- listischen Einstellung her, als Gestaltpsychologe, Biologe und Philologe er- folgreicher sein denn als Verhaltenspsychologe, Physiker oder als ein mit Phonemen und Morphemen arbeitender Linguist. (Weitere Einzelheiten zum Lernen und Erkennen sowie zum «ganzheitlichen» Raum— und Zeitver— ständnis vgl. unten S. 189ff.) c) Im Einklang mit dem Übersinnlicben Zumindest in drei Aspekten ist die asiati5che Haltung zur Religion weitaus undifferenzierter als die europäische: Da ist erstens die Großzügigkeit in der Abgrenzung zwischen den einzel— nen Religionen und Sekten. Einen Chinesen oder japaner zu fragen, ob er sich zum Buddhismus, zum Daoismus oder zum Shintoismus bekenne, läuft für ihn etwa auf dasselbe hinaus wie für einen Europäer die Frage, welche Blutgruppe er besitzt. Besonders großherzig ist hier der Hinduismus, der sämtliche Religionen als legitime Anleitungen auf dem Wege zum «All—Ei- nen» anerkennt und insofern unbegrenzte Glaubenstoleranz zeigt. Lediglich der Islam bildet hier eine Ausnahme, insofern er, ähnlich wie das Christen— tum und das Judentum, von Ausschließlichkeit im Dogmatischen und von Intoleranz gegenüber Andersgläubigen geprägt ist, ohne hierbei allerdings überall erfolgreich zu sein — wie das Beispiel java zeigt (5. unten S. 217ff.). Zweitens ist es im religiösen Denken Europas zu zahllosen Aufspaltungen gekommen. Aus einer ursprünglich allumfassenden Theologie, der die «artes liberales» (die freien Künste: Arithmetik, Rhetorik, Musik etc.) als «Mägdc» dienstbar waren, entwickelte sich nach und nach eine Fülle von Natur— und Geisteswissenwhaften: von der Schöpfung zur Evolution, von der Magie Zur Chemie und Physik, von der Astrologie zur Astronomie und letztlich zur Weltraumfahrt. Besonders bedeutsam aber ist eine dritte europäische Besonderheit. die Asien nie nachvollzogen hat, nämlich der Verlust des Numinosen: Wer ia eine daoistische «Baibai» (Prozession) in Taiwan, ein Krishna—cht in Indien. ein Schlachtfest zu Ehren der Schwarzen Kali in den Bergt'a'lern Nepals, eins“ von mai65tätischen Alphornklängen begleitete Mönchsandacht in l.haS-l oder eine Beerdigungszeremonie in Bali miterlebt hat, bekommt eine Ab- nung_für jenes Irrationale, «Ergreifende» und Numinose in der Religion, das Schle1ermacher, vor allem aber Rudolf Otto10 mit Ausdrücken wie «mai? stas», «Kremendum», «mysterium», «fascinans» oder «energia» umschreibß Y ”‘ Der Eigenfll'fhf’ Unterschied: Ganzheillz‘r‘b/eeit 53 um damit einen Gegensatz zu jenem rational abgeglichenen «Gott der Phi- losophen» herzustellen, wie ihn der gläubige Christ des Abendlandes seit dem Ende des Mittelalters zu verehren pflegt. In Asien dagegen ist die reli— giöse Ganzheit mit den großen Göttern, vor allem aber den vielen kleinen Geistern und Dämonen vollkommen präsent — und mit ihnen das ganze Reich des Animismus, das sich in einer Milchstraße von Abwehrmechanis— men, Verehrungsritualen, Wahrsagepraktiken und Tabus niedergeschlagen hat und auf die unten (S. 227ff.) noch näher einzugehen ist. Die panasiatische Vergangenheit war also durch Ganzheitlichkeit geprägt Wird sich demgegenüber in Zukunft der europäische Differenzierungsstil durchsetzen? Vermutlich wird es keine Entweder—oder—Entwicklung, son» dem eine gegenseitige Angleichung geben. Schon heute beispielsweise sieht die westliche Welt Veranlassung, sich verstärkt auf den Holismus zu besin— nen — man denke an die Quantentheorie, an das neue Umweltbewußtsein, an ganzheitliche Ansätze in der Medizin, an die Gestaltpsychologie oder aber an Phänomene, die einstweilen zwar noch zu den Randerscheinungen der Gesellschaft gehören, die aber doch gewisse Sehnsüchte nach Ganzheitlich— keit signalisieren — wie z.B. die zahlreichen neuen Religionen oder aber der psychedelische Erlebnishunger, der sich in so verschiedenen „ und meist höchst merkwürdigen — Formen ausdrückt. Statt eines einseitigen westlichen «Siegs» könnte es also durchaus zu Begegnungs— ja Kreuzungseffekten kom— men.