76 Asiatische Gesellschaften und Verhaltensstile schaftsklientel. Da sie zueinander in Konkurrenz treten, üben sie bei der Einwerbung von Regierungshilfe einen bisweilen unherlvollen Einfluß auge c) Organisatorische Antipoa'en: Oyab1m/Kohun-Beziehungen und Kastenordnang. Sechs Unterschiede Die Eigenarten der hinduistischen Kastenordnung lassen sich am schärfsten im Vergleich mit dem oben zum Teil bereits beschriebenen japanischen Gesell- schaftsmuster herausarbeiten. Sechs Unterschiede seien hervorgehoben: Beitritts— contra Gehartsprinzip Ein Oyabun/Kobun—Verhältnis entsteht durch freiwilligen Beitritt, ia es laßt sich eine für den europäischen Beobachter oft befremdlich erscheinende «Sehnsucht nach Abhängigkeit» nach «Flucht vor der Freiheit» sowie nach Selbstverleugnung in der Gruppe statt Selbstbehauptung beobachten. «Amae» (Anlehnungsbedürfnis) ist ein Grundbegriff, den der japanische Psychologe Dei Takeo"1 in die Diskussion eingeführt hat Prototyp des Amae ist, Doi zufolge, die Sehnsucht des Kindes nach Nähe zu seiner Mut— ter sowie, im späteren Leben, der «Versuch, psychologisch die Augen v0r der Tatsache zu verschließen, daß man von der Mutter getrennt worden ist»”. Sobald das Kind den mütterlichen Schutz verläßt, werde es — ange— sichts der «allgemeinen Furcht vor anderen Personen»33 — von einer anderen «miitterlichen Struktur» übernommen, nämlich der Schule, später der Un} versität, dann vom «Club» und schließlich von der Betriebsgemeinschaft — eine geradezu «pathologische» Flucht in immer neue Strukturen, die Gebor— genheit vermitteln sollen. Ganz anders im Hinduismus. Hier wird man in eine (Sub—)Kaste hinein- geboren und gehört damit von Anfang an fest in ein Beziehungsgefiige mit genau umschriebenen und von der Tradition geheiligten Regeln. Das Ka— stenschicksal gilt als unabweisbar, weil es durch gute oder böse Taten in den vorangegangenen Erdenexistenzen «verdient» worden sei. Man habe, wie es in allen hinduistischen Regelwerken seit ]ahrtausenden heißt, seine Pflicht - das sogenannte «Dharma» — widerspruchslos hinzunehmen, widrigenfalls in der nächsten Existenz eine abermalige Verschlechterung eintritt: jeder ist hier im wahrsten Sinne sein eigenes Schicksal und seines Glückes oder Un» glücks Schmied. So tief verwurzelt ist dieses Denken, daß kastenähnliche Bindungen auch außerhalb der hinduistischen Gesellschaft des Subkontinents eintreten, Zum Beispiel in der buddhistischen Gesellschaft Sri Lankas, in den christlichen Gemeinden Keralas oder sogar im muslimischen Pakistan“! Die mit einem Inder verheiratete chinesische Schriftstellerin Han Suyin z.B. beklagt d3ß dle «Unberührbaren in den katholischen Kirchen Südindiens keinen Plätl auf Bänken und Stühlen erhalten»? ]. Wie asiatische Gesellschaften aufgebaut sind 77 Regelfindung contra Regelcorgahe Um Reibungen zu vermeiden, betreiben japaner und Chinesen eine fast per— maneme gegenseitige Abstimmung, woraus sich u.a. auch die japanische Gewohnheit des «Ringisei» (wörtl.z «Umlaufabzeichung») und in China das e„nanente «Kaihui» («Versammlung abhalten») entwickelt hat. Während ein deutscherjurist zuerst im Gesetz blättert und dann entscheidet, holt sein chim:sischer (oder japanischer) Kollege lieber eine «Entscheidung von oben» ein oder aber lädt zu einer «Versammlung» ein, bei der alles «abgestimmt» wird- Ins Gesetz pflegt er, wie die chinesische Parteipresse beklagt“, immer erst dann zu schauen, wenn etwas schiefgelaufen ist. Diese Kaihui—Mentalit'zit muß einem Kastenangehörigen exotisch erschei— nen; braucht er sich doch nur nach den wohlvertrauten (Sub-)Kastenregeln zu richten, um sogleich einen seit unvordenklichen Zeiten bewährten Ver— haltensleitfaden an der Hand zu haben, der selten Konflikte oder Dilemmata aufkommen läßt. Solche Regeln gelten nicht nur für alltägliche Verhaltens- weisen, sondern auch für die Kleidung, für die Sprechweise gegenüber Älte— ren oder gegenüber Angehörigen anderer Gruppen, für die Taburegeln bei Essen und Trinken, für die Art von Gefäßen, die man zu verwenden hat, und dergleichen mehr. Selbst Wanderasketen, die geradezu einen Paradefall des «Individualismus» zu verkörpern scheinen, sind einem engmaschigen Regelwerk unterworfen. Die jeweiligen (Sub—)Kastenregeln sind der einzige verbindliche Maßstab — und sonst nichts: sie regeln das Wer, Was, Wo, Wo— durch, Warum, Wie und Wann in minutiösester Weise. jeder weiß, woran er ist: Dies tut man und dies tut man nicht. Nur daran hat man sich zu halten; nur darin auch besteht das Dharma. Vertreter des Staates und seine Gesetze werden mit Mißtrauen betrachtet. Wo staatliche Vorschriften und Kasten- regeln aufeinanderprallen, kommt es meist zu schweren Konflikten wie bei der Gleichstellung der «Unberührbaren» mit den Oberkasten im modernen Indien. Nichteinhaltung des traditionellen Regelwerks bedeutet nach über— kommener Lehre eine Verletzung des Dharma, die ratsamerweise augen— blicklich rituell zu sühnen ist, andernfalls sie in der nächsten Existenz fatale I'70|gen nach sich ziehen kann, zum Beispiel in Form der Wiedergeburt als «Unberührbarer». Alle Regelwerke sind partikularistisch: Fragt man, ob der Hinduismus *pazifistisch» ist, so besteht die Antwort in einem ZwanAber: Die meisten Hindus sind es, nicht dagegen die Angehörigen der Kriegerkaste. Dies gilt für das Alltagsleben. Wenn die große Autostraße von Delhi nach Kalkutta mit Autoleichen wie nach einer Schlacht übersät ist, so hängt dies in erster Linie nicht mit unzureichendem Material oder mit dem Durcheinander von Ochsenkarren und Lkws zusammen, sondern mit kastenbedingten Verhal- tensWeisen. Der Lastwagenfahrer (meist ein Angehöriger der Kriegerkaste oder ein Sikh) fährt «gefährlich, weil gefährliches Fahren von ihm erwartet wlrd— Er prahlt und provoziert mit seiner Kleidung, mit seiner Rede, mit