104 Asiatische Gesellschaften und Verhaltensstile In der chinesischen Gesehichtsschreibung gelten die großen Einheitsrei_ che der Han, Tang, Song und Ming als Leitbilder, während die Epochen der Dezentralisierung und der Spaltung allemal als «anomal» eingestuft Winden Mochte es durch äußere Einwirkungen oder durch innere Spannungen auch immer wieder zur Aufteilung in drei, fünf, ja sogar sieben Teile kommen: am Ende stand doch jedesmal wieder die Reichseinheit, deren Bannerträger be_ zeidmenderweise das Mandarinat war. Durch die chinesische Geschichte zieht sich denn auch wie ein roter Faden die Erfahrung, daß der Zentralis— mus immer dann besonders vital war, wenn das Mandarinat in Blüte stand und immer dann zu leiden begann, wenn das — zumeist in den Außenregigi nen starke — Militär an Einfluß gewann. Unter dem Einfluß der europäischen Geschichtsschreibung neigten auch indische Historiker eine Zeitlang dazu, ihre wenigen Einheitsreiche als volL kommen, den mittelalterlichen Polyzentrismus aber als Degenerationser— scheinung zu deuten. Diese Auffassung hat aber, wie Kulke” überzeugend darlegt, inzwischen einer gegenläufigen Interpretation Platz gemacht. Heute besteht eine Tendenz, gerade das hinduistische Mittelalter als einen Höhe— punkt gesamtindischer Geschichte zu betrachten, da damals, im Gegensatz zu den Großreichen des Altertums, die ausschließlich im Norden des Lan— des angesiedelt waren, zum erstenmal auch Zentral— und Südindien gleichbe— rechtigt mit ins Spiel kamen und da diese Vielheit von konkurrierenden Kräften überdies zur Herausbildung jener farbigen Regionalkulturen führte, die bis heute das faszinierende Prisma der indischen Kultur ausmachen. Großindien (Bharat) reicht, weitherzig interpretiert, von Westpakistan bis zu den Grenzen Birmas und von den Himalaya—Fürstentümern bis hinunter zu den Malediven. Auch wenn bisweilen großindische Träume aufkommen mögen: weitaus besser paßt die Selbständigkeit der sieben Staaten Südasiens ins historisch gewachsene Regionalismusbild, zumal das Territorialdenken selbst innerhalb der Indischen Union kraftvoll weiterlebt, nicht zuletzt bei den regionalen Parteien, die ihre Wählerschaft immer nur in bestimmten Schwerpunktgebieten haben, so daß ihre Wiederwahl nur dann gesichert ist, Wenn sie mit dem regionalen Pfund wuchern. Sogar einige auf den ersten Blick höchst gesamtnationale Parteien, wie die CPM (Communist Party/Marxists), die Muslim League und die Swatantra Party sind weitgehend regional veran» kert, so z.B. die CPM in Kerala und Westbengalen, die Muslim League in Kerala und die Swatantra Party in Orissa. Die CPI (Communist Party Of India) schließlich forderte Anfang der fünfzigerjahre gar einen selbständigen «State of Andhra». Die einzige Partei, die wirklich als Bannerträg“ des Unionsgedankens gelten darf und die sich schon deshalb in einem Dauer— ClinCh mit den Regionalparteien befindet, ist die Congress Party. Sie allL’In aI’Pelliffn bis heute an sämtliche Regionen, vermag ihren Unionskurs freilich nur deshalb durchzuhalten, weil sie fast überall regionale Eliten für sich ge— wmnen konnte. Da ein Großteil dieser Gefolgsleute sich freilich aus Indu‘ 11. Wie in Asien regiert wzra' 105 striellen und Grundbesitzern rekrutiert, deren Interessen mit denen der ar- men Bevölkerungsschichten alles andere als identisch sind, hat man am Ende die Bezwingung der regionalen Hydra mit unsozialer Politik zu bezahlen”. Zusätzlich ist die indische Verfassung mit zentralistischen Erzwingungsin- Strumenten ausgestattet worden, die nicht immer Beifall finden. Kenner der indischen Verfassung” haben nicht weniger als 16 einheitsstaatliche Hebel a„gemacht, wobei die Gesetzgebungszust'a'ndigkeit, die zentrale Rekrutie— rung der Beamtenschaft sowie der Armee, vor allem aber die «President’s Rule» besonders wirkungsvoll sind: Mit Hilfe der Präsidentenerlasse kann die Zentralregierung Notstandsmaßnahmen in den einzelnen Staaten ver— hängen und unter dem «dünnen Mäntelchen der Legalität . .. die politische Gleichschaltung betreiben» — dies ist bisher schon weit über zwei Dutzend Male geschehen“. Gleichwohl bleiben die Zentrifugalkr'a'fte gefährlich! Dem indischen Muster folgen die meisten Staaten Süd— und Südostasiens. 4. Zwischen «Machen» und «Wirken»: Macht in Asien a) Das über/eommene Verständnis von «Macht» Kein traditioneller Asiate wäre je auf die Idee gekommen, daß Macht auf persönlicher, physischer oder psychischer Überlegenheit einer Einzelperson beruhen und daß sie sich wesentlich durch direkten Zwang mitteilen könnte. Vielmehr galt sie als Metapher numinoser Kraftansammlung, die indirekt zur Geltung kommt. Wer sich ein animistisches Empfinden bewahrt hat, er- lebt seine Umwelt als «elektrisch geladenes» Feld, von dem Spannungen und respektgebietende «Machtäußerungen» ausgehen, sei es nun von «heiligen» Steinen, Bäumen, Tieren oder elementaren Naturerscheinungen wie Gewit- ter und Donner, nicht zuletzt aber auch von Menschen, die Herrscherfunk— tionen übernommen haben. Diese animistische, ja z. T. präanimistische Tra— dition wurde durch die spätere Einführung der Hochreligionen keineswegs ausgelöscht, sondern erfuhr nun sogar eine zusätzliche Bestätigung: Für den gläubigen Buddhisten beispielsweise hängt die Macht einer Persönlichkeit mit ihren karmischen Verdiensten aus früheren Existenzen zusammen. Im Islam gilt sie als von Gott verliehen und im Konfuzianismus als automati— sche Folge eines «himmelsgemäßen», weil rituell korrekten Verhaltens des Herrschenden (dazu oben S. 33ff.). Bei den Legalisten ist sie Ergebnis «rich— tiger» Gesetze und beim Spätkonfuzianer Xun Zi das Resultat konsequenter Erziehung und korrekter «Bezeichnungen» (zum Zhengming vgl. S. I47ff.). N.?!Ch hinduistischer Auffassung schließlich gilt Macht als «zugeflossen». Diese Sichtweise hat sich vor allem im einst hinduistischen java erhalten und 561 deshalb hier im javanischen Kontext erläutert. In dreifacher Hinsicht un- terscheidet sich der javanische vom westlichen Machtbegriff: