* 110 Asiatische Gesellschaften und Verbaltenssrile ihrer heutigen Ost-West-Achse immer noch die Doppel—S—Form erkennen läßt Zusätzlich spiegelt sich die Kastenhierarchie in der Stadtarchirektur, in— sofern die Angehörigen der Oberkasten in mehrstöckigen Häusern lebten \ eine im übrigen Asien nicht gerade häufig anzutreffende Bauweise. Verständlich, daß angesichts des Vorherrschens «kosmischer» Bauregeln nirgends in Asien eine europäische Baugesinnung aufkommen konnte: Re_ präsentative Marktplätze, Patrizierhäuser, Hallenkirchen und Rath'a'user, wie sie als Symbole selbstbewußten Bürgertums in den mittelalterlichen eu— ropäischen Städten so selbstverständlich waren (und sind), wird man in Asien vergeblich suchen. Wenn schon die Person des Herrschers und sein Palast von so überragen_ der Bedeutung waren, so erst recht das Ritual, mit dem die Verbindung zwi- schen Erde und Himmel hergestellt werden mußte. Auch heute noch er_ staunt den westlichen Beobachter der außerordentliche Stellenwert, den das politische Ritual überall in Asien einnimmt, ob es sich nun um die offiziellen «Bankettabende» in der Großen Halle des Volkes in Peking handelt, von de- ren schieren quantitativen Ausmaßen der Besucher bereits erschlagen wird, oder um Ackerzeremonien, wie sie mit Pomp heute noch in Thailand abge— halten werden, oder um die Aura von großräumiger Architektur, weiten Ge— sprächsabständen und feierlichen Einführungszeremonien, mit der sich asia— tische Politiker respektvoll Distanz verschaffen. Historisch haben Rituale noch Viel mit dem alten Magie-Glauben zu tun, daß eine korrekt vollzogene Handlung die erwünschten Wirkungen herbeizwinge, zumal ja viele tradi— tionelle Herrscher Asiens zugleich auch Hohepriester waren. Als pars pro tote nachfolgend zwei Beispiele: Nach der Zeremonialordnung der chinesischen Ming-Dynastie gab es am Kaiserhof eine tägliche Hofaudienz, die vor Tagesanbruch bereits wieder be— endet sein mußte und die von allen Teilnehmern, nicht zuletzt vom Kaiser selbst, ein hohes Maß an innerweltlicher Askese verlangte. In der ungeheiz— ten Hauptaudienzhalle nahmen nach Westen Zivilbeamte und nach Osten hin Militäroffiziere feierlich Aufstellung und vollzogen, zum Gesang der Zeremonienmeister, dreimal den Kotau vor dem Kaiser. Sodann traten die Beamten ab Rang 4a vor den Thron und erstatteten «in den 185 Arten amtli- cher Angelegenheiten» Bericht. Niemals wurde die Audienz verschoben. ob es nun regnete, schneite oder beißende Kälte herrschte. Nur ausnahmsweise wurden ältere Staatsmänner von über siebzig Jahren vom Erscheinen ent» schuldigt. Wichtig bei den Audienzen war eine maiestätische Haltung d€5 Kaisers. In dieser Hinsicht genügte vor allem Kaiser Wan Li (1573—1620) den Strengen Erwartungen seiner Hofbeamten: seine Stimme war tief, seine Sl—’rechweise klar und deutlich, und seine Reden endeten mit kraftvollen Lauten, die «aus dem Zwerchfell kamen». Wan Li hatte, ebenso wie seine V0r.fahren und Nachfolger, «gelernt, daß die Hauptaufgaben des Kaisers dann bestanden, den Himmel zu verehren und den von seinen Ahnen ge- ”, Wie in Aszen regiert wm! [ 1 I setzten Vorbildern und Ritualen zu folgen». Weniger 315 vier Monate nach seiner Thronbes‘teigung erschien eine Supernova von der Größe einer Unter- tasS€ am Himmel und hinterließ dort, von rg7z bis 1373, eine tief orangerote Färbung, die von den Hofastronomen als wohlgef'silliges Himmelssignal ge— deutet wurde“. Ein üppiges Filigran von Ritualen gab es auch für die hinduistisehen und theravadabuddhistisehen Höfe. Bezeichnenderweise werden die hinduisti— schen Götter noch heute mit den gleichen Zeremonien (Einladung, Bekösth gung, Beweihräucherung, Belustigung) geehrt und unterhalten wie einst die hinduistischen Könige. Im malaiischen Bereich lieferte die Hofpraxis des Sultans von Malakka das für alle nachfolgenden Höfe verbindliche Ritual. Obwohl das Malakka— Reich nur die kurze Zeit von (etwa) i4oo bis zur portugiesischen Eroberung von 1511 bestand, wurde es im Rückblick zum Kristallisationspunkt roman— tischer Hofgeschichtcn, folkloristischer Erzählungen und einer Fülle von Legenden. Die verklärte MalakkmNostalgie schuf in der politisch so vielfach zerrissenen und vom Konkurrenzkampf der Fürsten allzeit bedrohten ma— laiischen Welt ein ähnliches Modell wie der Hof des franzosischen Sonnen— königs für die europäischen Kleinstaaten. Dies galt sowohl liir religiöse als auch für säkulare Belange, vor allem für das Zeremonialwesen. Der Über— tritt des Herrschers von Malakka zum Islam (1413) wurde zum Ausgangs— punkt für die lslamisierung nahezu sämtlicher Kleinreiche an den Küsten und Flußläufen, von denen sich neun als Sultanate bis heute haben erhalten können. Mit ihren Hofzeremonien, ihrem Gerichts— und liethtsberaterwe— sen und ihrer Hofkultur (Tanz und Gamelan—Musik) vernutteln die malaii— schen Höfe einen höchst altertümlichen, gerade aber deshalb ehr-lurchtge— bietenden Eindruck. Die malaiische Welt war zwar nie eine polnische, wohl aber eine zivilisatorische Einheit mit einer die einzelnen Sultanate und Für— stentümer übergreifenden Kultur, die sich in einem bestimmten Stil der Ge— schichtsschreibung (HikayavChroniken), der (iamelan—hilusik, des Schat— tenspiels, der Sprache und Literatur, der Kleidung und Etikette sowie der Adat-Tradition äußerte”. llauptzweck der erwähnten «Chroniken» war es, Bewertungsmaßstäbe dafür zu liefern, was als « richtig» (patut) zu gelten hatte. Die Kultur des leisen Sprechens, das Gespür für Etikette und vor al— lem der Sinn für korrekt zu vollziehende Rituale warden malaiischen Höfen Zur zweiten Natur geworden, wobei das hinduist1sche Erbe dominant blieb, das nur von einem dünnen islamischen l"irnis überzogen wurde. Ein Ritual mit Erde—Himmekßezug, das früher ‚in fast allen asiatischen Herrscherhöfen heimisch war, wird heute noch in Thailand ausgeübt, näm— lich die heilige Pflugzeremonie, die zu Beginn jeder Landwirtschaftssaison stattfindet. Seit unvordenklichen Zeiten haben sich die Hofbrahmanen die— ses Rituals bcmlichtigt, das auf dem « Pi‘arnanevlield» in Bangkok stattfindet. Am Tag der Zeremonie bewegt sich die Prozession vom Landwirtschaftsmi—