148 Asiatische Gesellschaften und Verhalzensstik

Dies sollte ein westlicher Betrachter wissen, wenn er etwa im Fernsehen
Bilder von Streiks in japan oder von Studentendemonstrationen in Seoul
sieht. Bei dem großen Streik der südkoreanischen Arbeiter im juli/Aug“,-t
1987 beispielsweise konnte man Hunderte von Arbeitern beobachten, die,
gleichmäßig verteilt wie auf den Feldern eines Schachbretts, am Boden saßen
und die Parolen des vor ihnen agierenden Einpaukers mit gleicher Lautstärke
und mit gleichem Iiäustestoßen wiederholten. Bei den überbetrieblichen (ie.
werkschaften japans kommt es jedes jahr fast nach Stoppuhr zum sog_
«shunto» (wörtl.z «<Frühlingskampf»), der auch als «Kampf nach Zeitplan»,
(sukeiuru toso) bezeichnet wird und in dessen Verlauf festcmgeplante Ver.
handlungsrunden mit präzise datierten Streik—lntermezzr wechseln. Ahnhch
ritualisiert geht es bei den koreanischen Studentendemonstrationen zu: sie
spielen sich fast immer in einem ganz bestimmten Straßenabschmtt vor der
jeweiligen Universität ab, finden zu einer bestimmten Uhrzeit statt und veru
laufen mit fast eintöniger Präzision nach demselben Gewalt— und (legen«
gewaltmuster. Kameraleute, die diesen Vorgang einmal gefilmt haben
bräuchten ihn eigentlich kein zweites Mal aufzunehmen, sondern konnten
mit Archivmaterial arbeiten, ohne das äußere Geschehen zu \'Crflilsclren.
Was sich ändert, ist nur der iahreszeitliche Belaubungszustand der Strahlen—
bäume. Dicht neben dem Kampfplatz bereits geht das Leben ganz normal
weiter. Der zufällig vorbeigehende Passant trägt eine Aktentasche oder einen
Tennisschläger unterm Arm, duckt sich vor Steinwürfen oder nimmt sich
vor dem Träncngas der Polizei in acht.

Auch in China verlaufen die notorischen «Demonstrationen» so, wie De—
monstrationen eben zu verlaufen haben. Vor allem während der Kulturamt—
lution waren grimmige Gesichter angebracht, rote Fahnen wehten, und
Mao—Parolen wurden gerufen. Beim Tod des Vorsitzenden im September
1976 brach das halbe Land in Tränen aus, obwohl eine solche Zurschanstcl-
lung7 von Trauer im normalen Leben mißbilligt Würde, aber «man» zeigte
eben «Trauer». Die alte konfuzianische Lehre vom Zhengming (Deckung-
gleichheit von Worten und Rollen oder Handlungen) gilt also nach wie mit
Sie Wirkt auch in der Literatur und im Theater nach: der Gute ist schon, der
Böse häßlich, sei es nun in der Pekingoper oder im javanischen Schattentlie.t—
ter, wo die edlen Helden Rama und Arjuna schon durch ihr edles Aulferes
(die lange feine Nase, die großen mandelförmigen Augen, die feinen Glied-
maßen und den edlen Kopfschmuck) sowie durch vornehme Haltung html
höfische Sprache auffallen, während sich ihre Widersacher durch knolhgü
Nasen, plumpe Körperformen, ungehobeltes Benehmen und lautes Daher”
reden als Verkörperungen des Bösen und Niedrigen verraten. Diese
Schwarzweißmalerei ist auch in den modernen Film eingegangen. lm mo<
dernen indischen Durchschnittsstreifen sind die guten Menschen sehr gUI
und schön, die schlechten sehr schlecht und häßlich und die Liebenden SL‘llf
verliebt_ Einen Mischcharakter besitzen merkwürdigerweise nur komische

11. Wie in Asien regiert wird 149

Figuren, z.B. der Clown in der Pekingoper, der «Springer» im indischen
Film und der so überaus populäre Semar im iavanischen 5Chattentheater.
Dem asiatischen Spaßmacher wird also, ähnlich wie dem europäischen Hof—
nart‘en, eine Ausnahmerolle zugebilligt, die allerdings das übliche
Weißschema nicht etwa relativiert, sondern es eher noch bestätigt.

Mit dem Zhengming hängt auch die Forderung des Konfuzius zusammen,
daß innere Haltung und äußeres Benehmen einander streng entsprechen
müssen: übertreffe nämlich die Politur den Inhalt, so laufe dies auf Falsch—
heit, im umgekehrten Fall aber auf Grobheit hinaus. Gerne sähe man auch
die Deckungsgleichheit von äußerer Haltung und Gesinnung. Gedanken
sollen keineswegs frei und innere Emigration nicht zulässig sein. Doch ha—
ben es die Asiaten gerade wegen solcher institutionell angelegter Erwartum
gen zu einer Kunst des Eskapismus ohnegleichen gebracht.

Schwarz—

b) Pragmatismus, passiver Optimismus und Skepsis

Trotz des ritualistischen Zhengming und trotz der oft höchst soteriologi—
schen Zielsetzung indisch beeinflußter Gesellschaften haben sich asiatische
Regierungen in ihrer täglichen Politik immer höchst pragmatisch, ia machia—
vellistisch verhalten (dazu oben S. 145). Dies trifft vor allem für die konfw
zianischen Staaten zu, in denen die «Logik der Tatsachen», der «unsenti—
mentale Umgang mit Widersprüchen», die «schnelle Anpassung an verän—
derte Umstände» und der «Umgang mit Geistern auf Zinsfuß» höchst selbst—
verständlich waren.

Eine geradezu einzigartige Manifestation des Pragmatismus zeigte japan
bei der Rezeption westlicher Techniken im Zuge der Meiji—Reform
(1868 ff.). Es bediente sich hierbei einer Doppelmethode, nämlich einerseits
des fast schrankenlosen Aufsaugens und andererseits der ldentitätserhal—
tung, die unter dem Motto «wakon yosai» («japanische Seele, westliche
Technik») stand, so wie es 1300 jahre früher «wakon kansai» geheißen hatte
(«japanische Seele, chinesische Technik»). Analog versuchte sich auch das
kaiserliche China zu verhalten, das Ende des it).jahrhunderts seine Reform—
bemühungen unter dem Leitwort «Östliches (als) Substanz, Westliches
(Zum) Gebrauch» (dong ti xi yong) anging, dabei allerdings nicht dieselbe
Flenibilität an den Tag legte wie japan; immerhin hatte sich das kulturstolze
China Während seiner mehrtausendjährigen Geschichte ja noch nie in einer
«Lehrlings»—Rolle befunden. Gleichwohl gehört der «Ti—vong»—Utilitaris—
mu? (<<Substanzbehalten, Gebrauchmachen») zum Grundhaushalt der chi—
ne$lschen Politkultur, der allerdings durch einige andere Werthaltungen ein—
893Chränkt wird: Da ist zunächst die Gewohnheit, alles Handeln mit morali—
_5Chen Argumenten zu begründen. Was nicht «moralisch besser» ist, findet
"_“ Ernstfall keine Legitimität. So genügt es beispielsweise auch im reforme—
“Schen China nicht einfach, nur fachlich überlegen zu sein; es muß sich