1;4 Asiattsche Gesellschaften und Verbaltensstile

— «Ordnung»: Es gibt nichts Hassenswerteres als Luan («Unordnunw‘
<<Durcheinander»). Die Kulturrevolution, der Aufstand in Tibet « all dies er
scheint z. B. auf den Untertiteln der Fernsehbilder als «luan». Der chinesi.
sche Ordnungsbegriff unterscheidet sich vom deutschen vor allem dadurch‘
daß er vergangenheitsorientiert ist (Altüberkommenes gilt als eo ipso gut),
stets die Wahrung des sozialen «Gesichts» erwartet und nur wenig von Plu_
ralismus hält: es gibt nur eine richtige Lehre von Staat und Gesellschaft —
früher die konfuzianischc, später die maoistische, heute die reformerische.

— Dualismus zwischen Danwei— und Transdanwei—Bereich (dazu oben
S. 57ff.). Mao Zedong versuchte diesen «Widerspruch» organisatorisch auf»
zulösen, indem er Parteistränge in die Einheiten hineinziehen und Volks—
kommunen aufbauen ließ, die «das» frühere Dorf aufsaugen sollten. Die Ro—
former haben diesen Anlauf unter dem Stichwort «Betriebs— und l)orfauirr
nomie» wieder rückgängig gemacht.

— Wirtschaftstugenden: Leistung, Sparsamkeit und Korporativitlit (dazu
im einzelnen unten S. 160ff.).

— Bürokratiehypothek: Die Traditionen einer vielhundertiährigen BUI'U«
kratie haben sich fast bruchlos in die Moderne herüberretten können, sei es
nun das Ein«Parteien—Konzept, die dogmatische Monopolisierung der «of
fentlichen Meinung», das Mißtrauen des Beamtentums gegenüber auflerbii
rokratischen Kräften, die Intoleranz gegenüber formeller Opposition, dns
Abteilungs(Abschottungs)—Verhalten, das ewige Berichteschreiben url(l
«Kaihui» (Versammlungen abhalten), das Seilschaftsdenken, die notorim lie
Fraktionsbildnerei, das «Schattenschießen» (d.h. das indirekte Angreifer
von Gegnern), die panische Verantwortungsscheu und das Baobian, also die
je nach politischer Wetterlage erfolgende Umwertung von Freund und Feind
im Stil geschichtsschreiberischer Schwarzweißmalerei. Die Bürokratie hat
zwar nichts mit Konfuzius zu tun, aber sie hängt dem Metakonfuzianisinus
an wie eine Klette; vor allem kann sich der Durchschnittsbürger eine (jeself
schaft überhaupt nicht mehr ohne Bürokratie vorstellen: er hat sich glulelr
sam an das Gift gewöhnt“.

— Eigenschaften, die man zu Recht mit Angehörigen metakonfuzianischer
Kulturen in Verbindung bringt, sind Fleiß, Lernwilligkeit und l.ernf'ahig
keit, Vitalität, Anpassungsfähigkeit auch an widrige Umstände, Höflichkeit.
Gastfreundschaft, Respekt vor Älteren und Anteilnahme am Persönlichcn.
das dem Sachlichen stets übergeordnet wird. Aber auch Strebertum, Opp<fl '
tunismus, z.T. ungehemmte Wertschätzung materieller Vorteile, Neigung
Zu phantasieloser Routine, Verachtung «minderer» Bevölkerungsschlehren
und Berufe, Neugierde und moralische Bigotterie gehören in diese Auf/ali-
lung. (Zum Konfuzianismus der Großen Tradition vgl. 5. I44.)

HI.
Wie asiatische Gesellschaften wirtschaften

1. Wertesystem und «Modernisierungsfähigkeit»

Im vorliegenden Kapitel soll nach der Modemisierungsfähigkeit asiatischer
Gesellschaften gefragt werden, wobei weniger das fachliche Rezeptions- als
vielmehr das soziokulturelle Anpassungsvermögen im Vordergrund steht.
Autos zu reparieren ist zumeist ja schnell gelernt; ob einer aber auch bereit
ist, unter das Chassis zu kriechen und sich die Hände schmutzig zu machen,
ja, ob er es überhaupt für nötig hält, das Reparaturhandwerk zu betreiben,
wo doch der eigene Acker genügend für die Familie abwirft und wo doch
eigentlich überhaupt Geld nur unglücklich macht, dies ist schon eine andere
Fragestellung, die nicht mit bloßer Geschicklichkeit oder geistigem Aufnah—
mevermögen, sondern mit dem überlieferten \V‘rtesystcm und der kulturel—
len Anpassungsf'zihigkeit zu tun hat.

Warum konnte Japan sich in nur 100 Jahren von einem «feudalen» Agrar-
staat zur drittstärksten lndustriemacht der Welt entwickeln, während ein an-
derer «Feudalstaat» wie Nepal mit an der Spitze der Armutsliste steht?
Warum ist das rohstoffreiche Indonesien arm, das rohstoffarme Singapur
aber reich? Wieso schließlich haben es die chinesischen Minderheiten in Süd-
ostasien in nur wenigen jahrzehnten zu Wohlhabenheit gebracht, während
die einheimischen Bumiputras trotz staatlicher Protektion kaum aufholen
konnten? Warum konnte das jahrzehntelang kolonisierte Korea zu einem
der dynamischsten Industrienationen Asiens werden, während das ebenfalls
kolonisierte Birma oder aber das überhaupt nicht kolonisierte Thailand noch
immer auf den wirtschaftlichen und technischen Durchbruch warten?
Warum haben die beiden Stadtstaaten Hongkong und Singapur ein unver—
gleichliches Wirtschaftswachstum erlebt, obwohl hier ein Liberalismus oh—
negleichen, dort aber ein autoritäres Regime herrscht? Offensichtlich kann
der Hinweis auf «Feudalismus», Rohstoffarmut, Kolonisierung oder aber
auf bestimmte Regierungsforrnen keine befriedigende Antwort liefern.

Aber auch die stattliche Zahl von Entwicklungstheorien erteilt allenfalls
partielle Antworten. So heißt es beispielsweise, die armen Staaten Asiens
seien unterentwickelt, weil sie einem Circulus vitiosus unterlägen (Theorie
des Teufelskreises), weil die Gegensätze von Tradition und Moderne unver-
Söhnlich aufeinanderprallten (Dualistnusl‘heorie), weil sie den Absprung
nicht geschafft hätten («Durchbruch»»Theorie), weil sich Tradition und Mo—
derne hoffnungslos ineinander verzahnten (Dependencia—Theorie), weil sie
a“Ch heute noch unter den Narben des Kolonialismus litten (Imperialismus—