166 Asiatische Gesellschaften und Verbaltensstile Indien: Business Communities und «positionelles Denken» Die wirtschaftliche Entwicklung der Indischen Union war von Anfang an mit zwei Hypotheken belastet, nämlich dem Mißtrauen des Gründungs_ vater$ Gandhi gegen Industrialisierung nach westlichem Vorbild, vor allem aber mit der nachwirkenden Knebelung wirtschaftlicher Neuansäae durch engmaschige Kastenregelungen. Gandhi hatte die Wirtschaftsphilosophie und den Maschinenkult der «westlichen Zivilisation» als amoralisch, ia sündhaft angeprangert und der Revolution der steigenden Erwartungen das Idealbild einer einfachen Bedarfsdeckungswirtschaft auf Dorfebene entge- gengesetzt. Es genüge für den Menschen, ein Dach über dem Kopf, etwas Reis in der Schüssel und selbstgewebte Kleidung am Leib zu haben — im übrigen möge er sich der inneren Arbeit zuwenden. Durch eigenhändige Be- tätigung des Webstuhls suchte Gandhi nicht nur gegen die britische Kolo— nialpolitik (mit ihrer Textilüberschwemmungsstrategie) Zeichen zu setzen, sondern auch der weitverbreiteten Mißachtung körperlicher Arbeit entge— gmzuwirken und damit letztlich auch die aus seiner Sicht unmenschlichen Kastenschranken in Frage zu stellen. Außerlich haben sich zwar bisher noch alle Gandhianer an das Khadi—Gebot (Kleidung aus handgesponnenem und handgewebtem Stoff) gehalten, im übrigen jedoch wich bereits die Regie— rung Nehru von der Dorfstrategie Gandhis ab und wandte sich einer energi— schen Industrialisierungspolitik zu, bei der Stahl und Eisen sowie Maschi— nenbau im Mittelpunkt standen. Auch in der Bewertung des Gewinnmotivs sowie des Privateigentums ging Nehru andere Wege; er verhinderte bei— spielsweise umfangreichere Nationalisierungsaktionen. Das Tauziehen zwi- schen beiden Positionen geht auch heute noch weiter. Anfang der achtziger Jahre verlagerte sich der Hauptakzent der Entwicklungspolitik zwar vor— übergehend wieder auf das Dorf, doch bereits unter Rajiv Gandhi, einem gelernten Piloten, rückte die Hochtechnologie wieder in den Vordergrund. Langfristig wird Indien allerdings wohl auf beiden Beinen gehen müssen. Noch weitaus schwieriger freilich als die Auseinandersetzung mit dem Erbe Mahatma Gandhis ist der Kampf gegen die Hydra des traditionellen Kastensystems, das einer modernen wirtschaftlichen Entfaltung direkt im Wege steht, vor allem auf den Dörfern, wo die Mehrheit der indischen Be— völkerung lebt. Hürden gibt es bereits bei der Landwirtschaft. Kastenbauem beispielsweise können, wenn sie nicht gegen religiöse Grundgebote versto— ßen wollen, auch im Zeichen der «Grünen Revolution» keine körperliche Arbeit verrichten, sondern sind auf das Organisieren und Beaufsichtigen eingeschränkt. Ãœberdies reduzieren die Reinheitsregeln den Viehbesitz des Kastenbauern auf Rinder, also auf Ochsen für die Zugarbeit und Wasserbüf— _fel für die Milch. Unrein dagegen sind Tiere wie Schweine und Geflügel, die m_ Ghina beispielsweise als Hauptlieferanten von tierischem Eiweiß dienen, dy‘_e "1 I“dien aber nur von den «scheduled easts», also den früheren «Uan' ruhrbaren», gehalten werden. Eine Reihe von Sitten und Gebräuchen ist Y [I]. Wie asiatzsche Gesellschajten Wirtschaften 167 einfaCh unökonomisch: Ein Großteil der bäuerlichen Schulden resultiert noch heute aus Hochzeits— und Mitgiftkosten sowie aus Aufwendungen für die Feiern bei der Geburt eines Sohnes, bei religiösen Festen bei Kastenessen „ . , bei Streitigkeiten und bei Totenfeiern. Hinzu kommen Spielleidenschaft und andere Verschuldensanlässe — gar nicht zu reden von den hohen Zinsen die dem notorischen Geldverleiher zu zahlen sind. Hindu-l«ischer dürfen,ihre Fische nicht einsalzen und müssen ihre Ware daher teilweise verschleudern oder lassen sie gar verderbenâ€. Nicht nur die Jan—Regeln, sondern auch der weitverbreitete «Fatalismus» und das Sadhu-ldeal stehen einem «Unterneh— mertum» im Wegeâ€. Dies gilt nicht nur für die Bauern, 50ndem auch für die meist noch eng mit dem Dorf verbundenen städtischen Arbeiter. Mit dem «Kastendenken» hängen noch zwei weitere flexibilitätsverhin— dernde Gewohnheiten zusammen, nämlich die Aufkapselung der Arbeit in kleine Wirkungsbereiche und das weitverbreitete «positionellc Denken». Durch die Aufka selun entstehen höchst umständlichc A ' 3 " ' der nach Indien Einreisegnde Ausländer bereits am [Jltigliafi'iicituasbplälrläii fiel; kommt: einer der Beamten prüft den Reisepaß, der nächste Stempelt ihn, wieder ein anderer trägt etwas in ein Buch ein, ein vierter überprüft noch einmal alles, ein fünfter gibt neue Formulare aus, die ein sechster wieder ein— sammelt — und dies alles bei Passagieren, deren Nervenkostüm während des langen Flugs dünn geworden ist. Erweist sich die Arbeitsaufteilung schon unter Funktionären im weißen Kragen als kompliziert genug, so wird sie noch feiner, je mehr es um Tätigkeiten geht, die mit Schmutz zu tun haben. Ein Bürodiener mag also zwar bei Akten, Tischen und Stühlen alles in bester Ordnung halten, er kann sich aber schnell in sich verkricchen, wenn es etwa darum geht, die Fenster zu reinigen. Ein deutscher Geschäftsmann, der nicht dadurch Gesicht verlieren wollte, daß er selbst zum Putztuch griff, mußte in seinem Büro noch Mitte der achtziger jahre vor Fensterscheiben sitzen, die mit Luftschutzwarnungen aus der Zeit des indisclrchinesischen Kriegs von i962 verklebt warenâ€. Wer ein Auto fährt, fühlt sich keineswegs zur Wäsche aufgerufen, und wer es wäscht, nimmt deshalb noch lange keine Reparaturen vor, auch wenn er dazu fähig wäre. Von der indisehen «Auf- kapselungswut» wußten vor allem die englischen Kolonialherren ein Lied zu Singen. Selbst solche Beamten, die aus Sparsamkeits oder Bescheidenheits— gründen partout mit einem Minimum an Bediensteten auskommen wollten, taten es am Ende nie unter acht oder zehn (iehilfen. Nun muß schmale Ar— beitssegmentierung, wie der oben beschriebene chinesische Arbeitsablauf gezeigt hat, der Effizienz nicht unbedingt im Wege stehen, wenn sie auf der anderen Seite durch Gewerbefleiß, Zweck/Mittel—Rationalitiit und eine ge— wisse Risikobereitschaft ausgeglichen wird. Doch leider fehlt es in Indien ZUmeist auch hieran. . _— Neben der Ãœbersegmentierung wird besonders das weitverbreitete «po— smonelle Denken» beklagt, das zumindest indirekt durch die überkomme—