186 Asiatische Gesellschaften und Verbaltensszile pf1ichteter Lokalpolitiker. Leider lehrt die indische Erfahrung, daß solche Erwartungen illusorisch sind. Die Stärke der Congress Party beruht darauf, daß sie es verstanden hat, sich den lokalen Machtstrukturen anzupassen, also vor allem die Anhängerschaft der «dominanten» Kasten zu gewinnen. Die Partei spiegelt in ihrer National—, Einzelstaats— und Distriktsstruktur ziem— lich genau die Machtverhältnisse auf den Dörfern wider. Die Congress Party hat der in ihr mehrheitlich vertretenen Abneigung gegen Landreformen auch künftig Rechnung zu tragen, will sie sich nicht selbst den Teppich unter den Füßen wegziehen“. Unter diesen Umständen ist das Dorfentwicklungspro_ gramm auf Sand gebaut. Man fragt sich, wie hier je eine «Entwicklung» in Gang kommen soll, wo es doch weder Eigeninitiative noch wirksame Hand— reichungen von seiten des Staates gibt. Der prominenteste Nachfolger Gandhis, ]ayaprakash Narayan, forderte einst «eine umfassende Revolution auf politischem, wirtschaftlichem, sozialem, erzieherischem, moralischem und kulturellem Gebiet», wenn die sozialen und wirtschaftlichen Probleme Indiens Wirklich an der Wurzel gepackt werden sollen". Wie aber soll sich diese «Revolution» vollziehen? Der marxistische Weg ist von vornherein verbaut, da es in der hinduistischen Gesellschaft keine Ansatzpunkte für Klassenbildungen gibt (vgl. oben S. 76ff., 88ff.) und da überdies auch der Fatalismus weitverbreitet ist (Näheres S. 209). Aus dem gleichen Grund scheitert übrigens auch eine Evolution. Möglicherweise heizt sich der Kessel also weiter auf, ohne daß es auf ab? sehbare Zeit zur Explosion kommt: vielleicht die zutreffende Beschreibung der gegenwärtigen indischen Gesellschaft. Sollte es, als Ultima ratio zu einer diffusen chiliastischen Bewegung ohne präzise Ziel— und Mittelvorgaben kommen, so wäre dies am Ende des zo.jahrhunderts eine wahrhaft paradoxe Situation. Man fühlt sich erinnert an ähnliche indische Revolten, zum Bei spiel die Rebellion der Santal—Stämme (1855), die Mutiny—Revolte (i8;7) und eine Reihe weiterer Bauernaufstände zwischen i873 und i9oo, die alle— samt zu elementaren Ausbrüchen ohne Kanalisierung in eine bestimmte Richtung führten”. Y _F— IV. Wie Asiaten denken I. Andere Fragestellungen, andere Antworten Beim Verdeich von «westlichem» und «" " > . - Laufe deräZeit einige Stereotypen herausgebliiliflinäi Denken haben Sieh Im 4 . 4 4 , ie sich auf folgende For— meln bringen lassen:hte analytisch, logisch und materialistisch, dort Synthe- tisch, intu1tiV und sp1r1tuell, hie Ob]€l(th, aktiv und dynamisch, dort subjek— tiv, passw und statisch, hie mtellektuell, dort emotional, hie «Zugewandt- heit zu den Dingen? dort «Eskapismus», hie Betonung des Raums, dort Bevorzugung der zeitlichen DimenSion und dergleichen mehr. Abgesehen davon, daß es SlCl'l hier um unzuläs51ge «Pamsiatisierungen» handelt, ma- chen solche Schlagworte auch nicht genügend deutlich, daß das (traditio- nelle) asiatische Denken in einem anderen Kontext steht und daß es deshalb so verschieden vom europäischen ist, weil es erstens andere Fragen stellt, zweitens andere Antworten gibt und drittens seine Erkenntnisse anders überträgt und vermittelt. Die abendländische Philosophia perennis fragt in der klassischen Formu- lierung Kants: Was kann ich wissen? Was soll ich tun.> Was darf ich hoffen? Typischerweise kreisen all diese Fragen (und auch noch weitere wie: Woher komme ich.> Wohin gehe ich? Warum bin ich?) um ein Subjekt, dessen Sub- stantialität als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Demgegenüber fragt Indien: Ich? Gibt es mich denn? Ist die Frage nach dem Woher, dem Wohin und dem Warum überhaupt sinnvoll? Wiederum anders die chinesische Tradition, die weniger vom Erlösungs— als vom Erziehungsdenken bestimmt ist. Vor allem die Schulen des Konfu— zianismus und des Legalismus fragen: Wie wird aus dem Ich ein W'ir? All jene vielfältigen Problemstellungen, die in Europa höchst verstandes— bezogen und mit spielerischer Neugier iahrhundertelang «durchkonjugiert» worden sind, wie «Sein und Werden», «Subiekt und Objekt», «Form und Materie», «Transzendenz und Immanenz», sind für die chinesische Philoso— phie, sieht man einmal vom Daoismus ab, kein Thema, und zwar nicht etwa deshalb, weil es dafür an der nötigen geistigen Potenz fehlte. sondern Weil dafür einfach kein «faustischer» Wissensdrang bestand Selbst eine der weni— gen auch in China angestellten «Wesens»—Erkundigungen, nämlich die Frage nach der Natur des Menschen, wird unter höchst zweckbezogenen Ge— Slchtspunkten gestellt. Bekanntlich gibt es darauf drei klassische Antworten, die freilich nicht um der bloßen Erkenntnis, sondern vielmehr um prakti— scher Konsequenzen willen erteilt werden: