188 Asiatische Gesellschaften und Verbaltensstile Konfuzius, Menzius: Der Mensch ist gut; sonst hätte er nicht aus einem Hordentier zu einem Wesen mit Gesittung (li) und Tugend (de) werden kön— nen. Durch Erkenntnis seiner wahren Natur, durch Ordnung seines Inne— ren, durch Ordnung der Familie, der nächsten Umgebung und schließlich des Reiches erfolgt die stufenweise Vervollkommnung, wie sie in einem der jahrhundertelang auswendig zu lernenden Grundtexte des Konfuzianismus. der «Großen Lehre» (daxue), niedergelegt ist (Näheres dazu S. 191, 196). Xun Zi (298-235 V. Chr.): Die Menschennatur ist unersättlich1 und bedarf daher strenger Disziplinierung. Durch präzise Befolgung der Rituale, durch den Nachvollzug genau umschriebener sozialer Rollen (mingfen) und durch Koinzidenz von Bezeichnungen und Verhaltensweisen (zhengming) (Nähe— res oben 5.147ff.) wird der einzelne zum Mitglied einer zivilisierten Ge— meinschaft. Han Fei und die Legalisten (4. und 3.]ahrhundert v. Chr.): Der Mensch ist schlecht. Er muß deshalb durch Gesetze und äußeren Zwang gefügig ge— macht werden. Ob Tugend, Gesittung, Institutionen oder Gesetze, wie sie in diesem Zusammenhang vorgeschlagen werden, göttlicher oder mensch— licher Herkunft, ob sie ursprünglich (Naturrecht) oder gesetzt sind — all dies steht bei den chinesischen Praktikern nicht zur Debatte! Nur im Daoismus breitet das sonst so nüchterne China die Flügel aus und beginnt frei zu schweben. In fast «indischer» Weise wird hier das Ich hinter— fragt, wird die ständig fließende «Veränderung» von Person und Umgebung und das Schweben zwischen Tag und Traum thematisiert. Ähnlich fragt der (Theravada—)Buddhismus: Gibt es mich? Vor allem aber: Wie kann ich die Ich—Verstricktheit und Ich-Täuschung überwinden und frei von Leid wer— den? Der Islam schließlich fragt: Was ist Gottes Wille? All diese Ansätze zeigen, daß im traditionellen Asien kein Bedürfnis nach Wissen um des Wissens und nach Erkenntnis um der Erkenntnis willen bei stand: Erkennen wollen kann ich ja nur, was ich auch werden kann (dazu Näheres unten 5. i98ff.). Die europäische Philosophie— und Wissenschafts— geschichte legt demgegenüber einen einzigartigen Erkenntniswillen an den Tag, der schon früh auf ganzheitliche Betrachtungsweisen verzichtete, sich Einzelphänomenen zuwandte und damit die Voraussetzungen für eine Ver— selbständigung der Natur— und Geisteswissenschaften schuf, die am Itnde auch zur Naturbeherrschung führten. Die stets ganzheitlich gebliebene asiav tische Denkweise fragt nach «Verkettungen», d. h. nach dem «Wozu?», wo- bei stets religiöse oder soziale Belange mit im Spiel sind, während das west lich—analytische Denken sich hauptsächlich für das «Wie?» interessiert. Die Frage «Wie geht dies vor sich?» oder «Wie funktioniert dies?» verlangt eine Anélyse, nicht aber das Erkennen (eines Zwecks oder Ziels). (Zum Unter- schied zwischen Wirk— und Zweckursachen vgl. unten S. 206ff.). Dle'Folgen dieses Unterschieds treten auf fast jedem Gebiet zutage: Wäh— l”md in Asien religiöse oder soziale Spekulationen vorrangig bliebe“ Y IV. er Aszaten den/een 189 (>z, der nach typisch «abendlä'ndischen» Gesichtspunkten geglie— dert ist («Logik und Erkenntnistheorie», «Metaphysik», «Naturphiloso— phie», «Psychologie», «Ethik», «Staats— und Rechtsphilosophie») und dem ganzheitlichen chinesischen Denken keinerlei Rechnung trägt. Wer so vor- geht, zwängt das chinesische Denken in ein Prokrustesbett ein. So kommt es denn auch, daß die einzelnen Kapitel, obwohl sie mit bewundernswerter Akribie und Sachkenntnis gearbeitet sind, an Sprödigkeit und Unergiebig- keit kaum noch zu übertreffen sind. Lediglich beim Kapitel «Staats— und Rechtsphilosophie» gewinnt der Stoff an Leben. Wen wundert es! 2. Wo Asien anders denkt als Europa a) Erkenntnis— und lerntbeoretiscbe Unterschiede: Nicht «erkennen», sondern «innetecrden» Traditionelle Arten des «Innewerdens» Einer der Hauptunterschiede zwischen europäischem und asiatischem Den— ken besteht darin, daß dieses zu Objektivierung, jenes dagegen zu Subjekti— vierung einlädt — zumindest in der Großen Tradition. Nach westlicher Auffassung stehen sich beim Iirkenntnisvorgang Subjekt und Objekt als lirkennendes und Erkanntes — in dualistischer Weise — gegen- über. Ziel aller Erkenntnis ist es seit Aristoteles, die Gegebenheiten zu ob— jektivieren und sie in Begriffe zu fassen, wobei «etwas als etwas erkannt wird», zum Beispiel A als «Lügner» oder ein geometrisches Gebilde als «Viereck». «Erkannt» ist demnach, was in objektive Begriffe eingegangen und von subjektivem Beiwerk befreit ist. In der asiatischen Tradition ver— läuft dieser Prozeß gerade umgekehrt. Hier besteht der Drang, alles Objek— tive zu subjektivieren. Was hiermit gemeint ist, wird anhand einiger beson— _?