0 Asiatische Gesellschaften und Ver/)alterzsstile 19 ders typischer Beispiele aus der Welt des Hinduismus, des Buddhismus und des Konfuzianismus Wang—Yangmmgscher Pragung deutlich: ‘ Nach hinduistischer Auffassung, wie sie besonders für das klassmche Veda und das Denken Shankaras bezeichnend ist, gibt es nur eine Substanz, die «Weltseele» (brahman), aus der alles und jedes hervorgeht und in die alles und jedes rhythmisch wieder zurückkehrt. jeder einzelne Mensch muß er— kennen, daß er nicht ein losgelöstes Individuum, sondern ein Funke ist, der sofort wieder in die Lohe zurückfällt, oder ein Wassertropfen, der im Ozean verfließt. «Tat twam asi» («Das bist du») — dieses «große Wort» ist gewiß eine der radikalsten und großartigsten Identitätsaussagen, die in der Ge— schichte der Menschheitsphilosophie gemacht worden sind. Indem der ein— zelne mit Hilfe mystischer Übungen in ein «Selbst» (atman) eintaucht, kann er jene All—Einheit «erfahren», von der er nur ein Teil ist. «Erkannt» hat er am Ende nicht das, was er mit dem Verstand erfaßt und objektiviert hat, son— dern nur, was er selbst geworden ist}. Gott (oder das umfassende Brahman) kann also weder begrifflich festgelegt noch, wie es bei Immanuel Kant ge— schieht, postuliert werden; vielmehr kommt es für «mich» darauf an, die in sich trügerische Subjekn0bjekt—Dualität zu durchstoßen und damit in das Meer der Weltseele zurückzutauchen: Im Deutschen gibt es für dieses mysti— sche Einswerden den schönen Ausdruck «innewerden», der weitaus besser paßt als «erkennen». Schon hier wird deutlich, daß «Wissen» und «Erkennt— nis» nur so viel wert sind, wie sie praktisch auf dem Erlösungs— oder Selbse vervollkommnungs—«Weg» weiterhelfen. Wo es so sehr darauf ankommt, daß ich etwas nicht nur (begrifflich) erfasse, sondern daß ich es vor allem werde, verengt sich Philosophie auf wenige Interessengebiete. Kann ich doch nur erkennen wollen, was ich werden kann! Alles andere zwischen Himmel und Erde möge dem Agnostizisrnus anheimfallen. Kreative Neu— gier wie im Westen ist hier nicht gefragt; Wissen um des \X/issens willen gilt als wertlos — ein Gedanke, der vor allem in Zen—Klöstern gängig ist, wo theoretisches Wissen für überflüssig erklärt, Bücherliteratur bisweilen sogar auf den Abort gelegt und ausschließlich praktisch auf das mystische Erlebnis hingearbeitet wird. Zu einer ähnlichen Subjektivierung führt die in Indien kreierte, aber vor allem in Ostasien, und hier wiederum in japan, verbreitete Philosophie des buddhistischen Mönches Nagarjuna (ungefähr 200 n. Chr.) von der «Leere» (Sunyata). Auf der Suche nach der wahren «Buddhanatur» stellte er drei Kri— terien fiir das «Wesenhafte» (svabhavata) auf. «Es» dürfe nicht entstanden, durch keine andere Erscheinung bedingt und nicht vergänglich sein. Nichts auf der Welt könne vor diesem dreifachen Maßstab bestehen, weder der Mensch, der im Laufe seines Lebens ständigen Veränderungen unterliege. noch Spgar ein Stein, der ja ebenfalls abgeschliffen und ausgewaschen werde. LetZtllch gebe es überhaupt nur eine einzige Eigenschaft, die allen Phänome- rien gemeinsam sei, nämlich ihre «Niehtwesenhaftigkeit» (asvabhavata), die Y —CS_ IV. Wie Asiaten den/een 191 von Nagarjuna auch «Leere» genannt wird. Dieses «Sunyata» sei aber kei- neswegs identisch mit dem «Nichts»; Vielmehr müsse es als das einzi e Be— ständige, Wesenhafte und Absolute begriffen werden. Ziehe sich abegr nun einmal die «Leere» als roter Faden durch alle Dinge, Erscheinungen und Be- griffe, so gebe es am Ende nirgends mehr Unterschiede, sondern nur noch eine einzige umfassende Einheit — eben die wahre «Buddhanatum, Selbst Samsara, der Kreislauf der Wiedergeburten, und Nirvana, das Erlöstwerden aus dem Kreislauf, sind dann nicht mehr verschieden, sondern identisch. ]e_ des Lebewesen ist, da es an der großen «Leere», Buddhanatur, teilhat, po— tentiell bereits erlöst. Die aktuelle Erlösung freilich geschieht erst durch das Wissen um die «Leere». Wer unwissend dahinlebt, erfährt Täuschungen und Leid, wer dagegen wissend wird, ist erlöst. Da dieses Wissen aber jenseits der Begriffe liegt, ist es nur durch mystisches Eintauchen in die «Leere» — eben durch Innewerden —— zu erreichen. Nagarjunas Sunyata—Konzept hat im tibetischen, chinesischen und japanischen Meditations(chan/zen)—Buddhis— mus jahrhundertelange Nachwirkungen gehabt. Um Satori (« Erlösung») zu erreichen, strebt der Zen—Buddhist nach Einswerden mit der «Leere durch unmittelbare Schau». «Leere» darzustellen ist vor allem das Anliegen der in ihren schönsten Exemplaren unsterblichen Zen—Malerei, die auf unver- gleichliche Weise mit Andeutungen arbeitet und zum mystischen Miterleb- nis einlädt“. Der klassische Konfuzianismus, angefangen vom Meister selbst bis zu Zhu Xi (1130—1200), dem «Thomas von Aquin» der Schule, hat die Frage nach der Natur der Dinge und ihrer Wahrnehmung in typisch chinesischer Weise als solche zwar nicht zur Kenntnis genommen, doch haben auch sie in ihrer Lehrpraxis nie einen Zweifel daran gelassen, daß «Erkennen» letztlich im «Nachahmen» eines persönlichen Vorbilds besteht. Erst Wang Yangming, ein Philosoph der Ming—Zeit, brachte die Subjektivierungsfrage auch theore— tisch auf den Punkt, wobei seine Überlegungen beim konfuzianischen Kern— begriff «gewu» (Wörtl.z «Erforschung der Dinge») ansetzen, der das Funda— ment der «Großen Lehre» (daxue) des Konfuzius bildet und von dem aus die gesamte Erziehungslehre des Meisters entwickelt wird: Wer die Dinge rich— tig erforscht, kommt mit sich selbst ins reine, führt ein korrektes Familienle— ben und ist am Ende auch in der Lage, die Welt zu regieren. Der Gewu— Begriff ist nie richtig erläutert werden und hat deshalb Anlaß zu den ver— schiedensten Interpretationen gegeben. Vor allem der Terminus «ge», der heutzutage die Bedeutung von «erforschen» hat, besaß früher eine höchst vielschichtige und z. T. gegenläufige Bedeutung: Er wurde zum Beispiel ent- Weder im Sinne von «in Kontakt treten» oder im Sinne von «etwas abweh— ren» verwandt? Zhu Xi, nach dessen Kompilationen Generationen von Studenten bis ins zo.]ahrhundert hinein konfuzianische Orthodoxie «gepaukt» haben, bevor— Zugte die Übersetzung «in Kontakt kommen mit den Dingen» und forderte