92 Asiatische Gesellschafien und Ver/mhensstzle 1 deshalb, daß der wahre Konfuzianer den Dingen auf den Grund gehen müsse, wobei vorausgesetzt wird, daß diese «Dinge» (wu) sowie das in ihnen wirkende «Dan» außerhalb des Menschen lägen. Zhu Xi geht hier m.:LW- von einem Subjekt—Objekt—Dualismus aus. Ganz anders Wang Yangming, für den die «Dinge» (und das Dao) mi Inneren jedes Menschen schlummern, weshalb es beim «ge» lediglich darum gehen könne, alle von außen kommenden Täuschungen, Anfechtungen und Verwirrungen «abzu» wehren», um die (dao—gemäiße) gute Natur des Menschen zu ihrer wahren Emfaltung kommen zu lassen. Aus diesen grundverschiedenen Prämissen folgten unterschiedliche Theorien des Erkennens und Handelns, die den wichtigsten Beitrag zur «spätmittelalterlichen» Philosophie Chinas bilden. Zhu Xi empfiehlt, vor allem Wissen zu erwerben, um die Welt zu objektivie— ren, während Wang Yangming davon ausgeht, daß Erkennen und Handeln nicht voneinander getrennt werden können; sein Wahlspruch — einer der be— rühmtesten der chinesischen Philosophie überhaupt - lautet dementspre— chend: «Zhi Xing wei vi» («Wissen und Handeln sind eins»). Will ich ein rechter Staatsmann werden und auf dem Weg der Selbstvervollkommnung voranschreiten, so habe ich mein ganzes Sein zu ändern — und keineswegs nur Erkenntnisse von außen zu erwerben. Anstelle des Nacheinander von Wissen und Handeln wird Gleichzeitigkeit gefordert: Indem ich erkenne, daß eine Blume schön ist, bejahe ich auch bereits ihre Schönheit. Wissen läßt sich nie vom Handeln trennen. Ich folge dem Dao, also dem «richtigen» Weg nur, wenn ich ihn auch praktisch nachvollziehe, mit ihm identisch werde ‚ ganz im Gegensatz zur kontemplativen Grundeinstellung des Daoismus, der das «wuwei», also das Gewährenlassen (wörtl.z «Nichtharr deln») predigt. \Wird mein Wissen, so Wang Yangming, nicht augenblicklich zur Tat, so kann ich auch nicht behaupten, etwas zu wissen. Wissen wird hier also nicht im Sinne eines «\X’issens von etwas» objektiviert, vielmehr werden alle Objekte und die Welt subjektiviert: Ich verändere mein ganzes Sein, indem ich ohne Wenn und Aber dem Weg der Altvorderen folge, ihre Rituale nachvollziehe, ihre heiligen Texte «erlebe» und mich in ihrer Musik und Poesie vollende, indem ich mich also vollkommen «bekehre»; denn wahrhaft «begriffen» habe ich nur, was ich bis in die letzte Faser meines Herzens geworden bin! I‘ührungsqu;llitiiten sind nicht eine Frage von Instif tutionen oder «richtigen» Ideologien, sondern eine automatische Folge voll— ständiger «Einverleibung» des Dao, dessen führungsrelevante Einzelheiten in der geschichtlich—literarischen Überlieferung beschrieben sind. In ähnliche Richtung weist auch der Zen—Buddhismus: Wie hier die Ein» heit von Wissen und Handeln zu erlangen ist, ergibt sich aus einer bekannten Parabel“, in der ein 7.etrMeister, nach seinem Weg der Vervollkommnung gefragt, fOlgende Antwort gibt: «\X/enn ich hungrig bin, esse ich, wenn ich mude bin, schlafe ich.» Dies tue doch jeder, war der Gegeneinwand, den der Melsmr ledoch sogleich in den Wind schlug, indem er behauptete, daß die V [V. Wie Asiaten den/een 193 anderen, wenn sie aßen,lnicht .aßen,usondern vielerlei anderes dächten und dadurch zuheßen, daß Sie gestort wurden. Wenn sie schliefen, so schliefen Sie nicht, sondern traumten von tausend Dingen. Es ist gewiß kein Zufall daß vor allem Männer der Tat solche Lehren gerne übernahmen zum Bei—, spiel die japanischen Samurai. ’ Die Identität von erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt wird be— sonders plastisch in einer bekannten Erzählung Mishimas7 herausg83rbeitet_ Der Ich—Erzähler ist hier ein buddhistischer Mönch, dem der Vater seit jah- ren von der Schönheit des berühmten Kyotoer Goldenen Tempels (Kinka_ kuji) vorgeschwärmt hatte. Als der Erzähler das Bauwerk nun nach vielen Jahren zum erstenmal mit eigenen Augen sieht, kann er eine leichte Enttäu— schung nicht unterdrücken, doch beschließt er auf der Stelle, ihn schön fin— den zu müssen: «Ich setzte demnach alles nicht so sehr auf die objektive Schönheit selbst als auf meine eigene Fähigkeit, mir diese Schönheit gegen— wärtig zu machen.» Dieser innere Zwang, mit dem Tempel «eins zu wer— den», bringt ihn so sehr unter Druck, daß er das Bauwerk am Ende in Brand steckt. Die Geschichte beruht übrigens auf Wahrheit: Es handelt sich um die Biographie des Mönchs, der den Kinkakuji 1955 anzündete und sich damit des berühmtesten Kulturvandalismus in der neueren Geschichte Japans schuldig machte. Was andererseits den Islam anbelangt, so ist er in seiner Erkenntnistheorie durchaus «westlich», d.h. dualistisch ausgerichtet; nicht umsonst gehörten Araber ja mit zu den bedeutendsten Aristotelikern und Wissenschaftlern des Mittelalters; im malaiischen Islam freilich, vor allem in der Überlieferung Ja— vas, schlägt sofort wieder das Erbe des Hinduismus mit seinem Verlangen durch, die gesamte Erscheinungswelt im allumfassenden Brahman aufzulö— sen. Demzufolge besteht «rechte Einsicht» nicht «in diskursivem Wissen», sondern in einem instinktiven «Erfühlen», «rasa»”: also wiederum in einem Identifikationsakt. «Modernes» Lernen «Innewerden» ist auch für den modernen Alltag durchaus noch von Bedeu— tung. Allen westlichen Einflüssen zum Trotz verläuft z. B. der Lernprozeß immer noch relativ ganzheitlich; hierbei genügt es nicht, daß ich nur den Kopf in die Materie stecke, vielmehr muß ich mit Haut und Haar «eintau- chen». Der Königsweg dazu ist nach wie vor das Auswendiglernen, das an— fangs zwar höchst mechanisch erfolgt, in dessen Verlauf das Erlernte aber in immer tiefere Schichten einsickert, bis es schließlich Teil meines Ichs gewor— den ist, aus mir lebt ‚ und damit erst als «erkannt» und «begriffen» gelten darf. In Taiwan sind die meisten Sprach— und Ethiklehrbücher der Mittelschu— len nach drei Kriterien gegliedert und am Anfang jedes Abschnitts mit einem entsprechenden Symbol versehen: Ein Teil der Stücke muß lediglich gelesen, _