4 Asiatische Gesellschaften und Verhaltenssti/e 19 ein anderer gründlich durchgearbeitet und eindritter schlichtweg extempo— riert werden. In alter Zeit hat es der «Drei—Zeichen-Kla551ker» zu besonde— rer Berühmtheit gebracht, der während der MingZeit verfaßt worden und von jedem nur halbwegs Gebildeten auswendig zu beherrschen war. Ein mo— derner Text zum Auswendighersagen waren die vom früheren Verteidi— gungsminister Lin Biao im milliardenfach verteilten Kleinen Roten Buch zu» sammengestellren «Worte des Vorsitzenden Mao Zedong». Angesichts solcher Lerntraditionen sind Konflikte zwischen asiatischen Schülern und ‚ wenn es denn zur Berufung kommen sollte * europäischen Instruktoren geradezu vorprogrammiert. Vor allem deutsche Ausbilder nei— gen ja dazu, den Schüler sofort an die Werkbank zu führen und ihm dort eine solide handwerkliche Ausbildung zu vermitteln, die dem nebenher— laufenden theoretischen Unterricht zumindest gleichwertig sein soll. Der chinesische Azubi erwartet demgegenüber aber zunächst einmal eine gründ— liche theoretische Einstimmung — am besten wiederum durch kräftiges Aus? wendiglernen. In diesem Zusammenhang erweisen sich festgeschnürte Lehr— angebotspakete als ideales Hilfsmittel, so z.B. die bekannten amerikan} schen «Manuals». «Innewerden» hat noch einen weiteren Aspekt: In der westlichen Philosw phie interessiert man sich zwar für Sachfragen, z.B. für die Ideen eines Kant, eines Schopenhauer oder eines Rousseau, kaum jedoch für deren Per? sönlichkeit und Leben. Daß ein jean—_]acques Rousseau, der die Lehre vom Gesellschaftsvertrag entworfen und die «Rückkehr zur Natur» popularisiert hat, seine eigenen Kinder ins Findelhaus einlieferte, ändert nichts an der Qualität seiner Überlegungen. Selbst wenn ein Computer seine Gedanken formuliert hätte, so sprachen sie uns genauso an! Eine solche Trennung zwischen Werk und Person erschiene dem Durch schnittsasiaten absurd; sind doch «Erkenntnisse» in Asien niemals bloßes Bücherwissen, sondern stets Erfahrungen, die durch disziplinierte Lebens führung gewonnen und von einer ganz konkreten Person «vorgelebt» wer— den. Lehren ist im Idealfall ein schweigendes Heranführen, Lernen dagegen ein Nachahmen, wie es als Imitatio ia auch im mittelalterlichen Europa noch durchaus üblich gewesen war. In China spielt auch heute noch das positive oder negative (persönliche) Modell eine alles entscheidende Rolle. Ein Mentor ist zehntausendmal mehr Wert als das beste Lehrbuch. In Indien ist es vor allem der Weise, der die überkommenen Werte nicht nur abstrakt vermittelt, sondern sie vorlebt und den man daher in weiten Bereichen der Bevölkerung spontan als «Le— benderlösten» (livanmukta) verehrt. Es läßt sich anhand von Biographien naChweisen, daß die geistigen Führer des modernen Indien, angefangen von Mahatma Gandhi über Aurobindo und Ramakrishna bis hin zu Vivekananda eine «Übermenschliche» Rolle gespielt haben. Mag dies noch angehen, so Wirkt es für den westlichen Beobachter nachgerade grotesk, wenn etwa IV, Wie Asiaten den/een 195 Rama R_ao, ein Superstar der Telugu—Filmindustrie, der in Dutzenden von Filmen immer weder den Gott Rama dargestellt hat, Inzwischen auch als Gott verehrt und von der Bevölkerung zum Chief Minister des Südindischen Unionsstaates Andhra Pradesh gewählt wird. Wer sich durch vorbildhafte Einhaltung der überkommenen Regeln vervollkommnet oder Wer es, wie Rama Rao, versteht, als Verkörperung eines Gottes aufzutrcten‚ durch Evidenz (vgl. auch S. 105 ff.). Auch bei Erkennungsvorgängen pflegt der Durchschnittsasiate intuitiver/ subjektiver vorzugehen als der Europäer. Seine Art von «Logik» besteht nicht darin, geradewegs auf das Ziel zuzugehen, sondern den Gegenstand einzukreisen. Dieses «Umzingelungsdenken»9 trifft die «Wahrheit» am Ende zwar nie so exakt, wie es bei einer rein rationalen Analyse manchmal der Fall ist, es geht dafür aber selten auch so weit am Ziel vorbei, wie es mancher «logischen» Denkoperation passiert. Das «Gespür» hat hier großes Ge— wicht. Uberhaupt werden Werturteile und Entscheidungen in Asien häufig weniger mit dem Kopf als vielmehr, wie diejapaner sagen, «mit dem Bauch» (ham) gefällt — ein Ausdruck, den westliche Interpreten allzugerne mit «Herz» wiedergeben, da die wörtliche Übersetzung auf den westlichen Le— ser vielleicht abstoßend wirken könnte. jedenfalls ist «Erkenntnis» weniger eine Sache des Kopfes als des ganzen Menschen. Logiker werden gern lächerlich gemacht: In der berühmten Fischparabel Zhuang Zis geraten ein daoistischer Mystiker und ein Logiker darüber in Streit, ob die Elritzen, die sich unter der geschwungenen Brücke im sonnen— beglänzten Wasser tummeln, auch innerlich «heiter» gestimmt seien. Der Logiker beweist mit präzisen Argumenten, daß sein Gesprächspartner doch nicht in die Fische hineinblicken könne, doch dieser lacht nur und verweist auf seine Intuition. Die asiatischen Sympathien liegen hier eindeutig beim Mystiker, wie ja überhaupt der mystische Erkenntnisweg in Asien weitaus verbreiteter ist als im Westen (Näheres dazu unten S. 233ff.). «Innewerden» führt auch zu einer anderen Art von Lernergebnis als im Westen: Sowohl Konfuzianer als auch Daoisten waren davon überzeugt, daß «Vollkommenheit» machbar sei, wenn man nur den richtigen «Weg» (dao) besehreitet. Während der Konfuzianismus das Dao durch völliges «Inne— werden» der gesellschaftlichen und moralischen Überlieferung, also durch «Ritualfrömmigkeit» anstrebte, weil ja das ehrwürdige Ritual Ausdruck höchster Sittlichkeit und seine genaue Befolgung als solche schon moralisch wertvoll sei, empfahl der Daoismus die Identifizierung mit der Natur. Der Konfuzianismus bietet ein wohldefiniertes ethisches System, ein präzises Re— gelwerk für zwischenpersönliche Beziehungen und ein Instrumentarium für die Harmonisierung von Himmels— und Gesellschaftsordnung an, während der Daoismus nicht die Verinnerlichung einer sozialen Tradition, sondern das «Eintauchen» in die Natur empfiehlt — und damit vor allem die Stimmungs— lage pensionierter Literatenbeamten und sensibler Künstler traf. «wirkt»