96 Asiatische Gesellschaften und Verhaltensstile 1 Überall in der konfuzianischen Welt gehört es zu den Grundprämissen so— zi31philosophisclien Denkens, daß ein «richtiges» Bewußtsem (= korrektes «Innewerden») gleichsam automatisch eine korrekte Somalordnung und eine al1gemessene Politik nach sich zieht. Die «GroßeLehre» (Daxue), das Kern— Stück des klassischen Konfuzmmsmus, lautet: Willst du die Welt verbessern, dann verbessere zuerst den Staat, willst du den Staat verbessern, dann ver— bessere zuerst die Familie, willst du die Familie verbessern, dann verbessere zuerst Dich selbst, willst du dich selbst verbessern, dann verbessere dein Herz, kläre deine Gedanken und «erforsche die Dinge». Hast du die Dinge erforscht, werden deine Gedanken klar, wird dein Herz aufrecht, kommst du mit dir selbst ins reine, kannst du die Familie verbessern, kannst Du den Staat verbessern und kannst du die Welt verbessern. Worauf alles hinaus— läuft, ist also das rechte Innewerden. Damit aber verlagert sich das Haupt— interesse von der «Sache» auf die Person, vom Fachwissen auf die korrekte Haltung und vom Expertentum auf das Amateurideal, so daß es letztlich zu einer Personalisierung auch des gesamten politischen Lebens kommt. Perso— nalisierung freilich zieht einerseits vorbehaltloses Vertrauen zu einer Gruppe und hemmungslose Gegnerschaft zur anderen nach sich. Auch die modernen Kommunisten verlangen übrigens totale Identifizie— rung. Was für Mao Zedong z.B. zählte, war nicht der Abstammungs—, son— dern der Gesinnungsproletarier. Es ist nicht die objektive soziale Herkunft, sondern die bewußtseinsverändernde gesellschaftliche Praxis, die als Prüf- stein gilt: Ich bin «Proletarier», indem ich mich durch mein soziales Verhal» ten dazu «entwerfe». Selbst der Klassenbegriff wurde hier also Subjektivicrt. Anhängerschaft äußert sich in Ergebenheit, Nachahmung und «Nachbeten» von «Worten» und Parolen. Der Anhänger/«Schüler» wird mein zweites Ich. indem er sich mit mir völlig identifiziert. Stüth andererseits das Vorbild, verschwinden mit ihm auch seine «Worte», selbst wenn sie noch so zutref» fend gewesen sein mögen. So im Fall Lin Biaos, der zunächst zum Kronprin— zen Mao Zedongs erkoren worden, dann aber ins politische Abseits geraten war. 19) «Ontalogie»: Nicht Sein, sondern Schein und «Leere» Während es für die westliche Philosophie als ausgemacht gilt, daß Gott, die Welt und der Mensch real sind (Gott als Schöpfer, die Welt als Schöpfung und der Mensch als Inhaber einer göttlichen Seele), neigt die Mehrzahl der Großen Traditionen Asiens dazu, all diese Subjekte eher als irreal, imagin'cir oder als Blendwerk (maya) zu betrachten. Am nachdrücklichsten ist dies beim Theravadabuddhismus der Fall. Die V_°"5tellung‚ daß man den Dingen, sei es nun der Welt, den Menschen oder el_nem wie immer vorgestellten «göttlichen Wesen» Wirklichkeit zuschreibt. gllt nach buddhistischer Lehre als eine der drei Hauptursachen allen Leides. IV. Wie Aszaten den/een 197 Der einzelne Mensch hat keinen Substanzcharakter, 5 einer. flüchtigen Zusammenfügung von fünfbkandhas (Daseinsfaktoren)‚ namlich Körperlichkeit (bestehend aus Vier Elementen), Em findun ' Hilfe der sechs Organe wie Auge, Ohr etc.), Wahrnehmung (Kusseheä; (gut räusch, Geruch etc.), Reaktionen auf diese Wahrnehmungen Und «Beviußi- sein», das die äußeren Eindrücke zu einem Sch—, Hör- oder Riech—Erlebnis verarbeitet. Alle fünf Daseinsfaktoren unterliegen einem permanenten Ver— Wirbelungsprozeß. Sie sind leidvoll, weil sie ständig vergehen, und sie sind unsubstantiell, weil sie sich von Augenblick zu Augenblick ändern. Meine Erlösung, d. h. das Austreten aus dem Kreis der leidvollen Wiedergeburten, vollzieht sich dadurch, daß ich die «obiektive» Welt als wesenlos begreife, indem ich selbst zur Wesenlosigkeit werde (zum Innewerden vgl. oben 5. i89ff.). Die «Leere» (sunyata) des Mahayanabuddhismus, mit der mich zu identifizieren Erlösung bedeutet, besitzt ebenfalls keinen Substanzcha- rakter, sondern wird geradezu als Nicht«Substanz, als das Ganz—anders—Sei— ende definiert. Welche Verständnishürden sich hieraus für einen Europäer ergeben kön— nen, zeigte sich deutlich an den Frustrationen eines deutschen Lektors, der auf die Idee verfallen war, seinen Studenten an der University of (levlon das Goethe-Gedicht «Auf dem See» zu vermitteln. In der Tradition der deut» schen Klassik ist die Natur ein Quell des Guten und Schönen: «Und frische Nahrung, neues Blut saug' ich aus freier Welt; wie ist Natur so hold und gut, die mich am Busen hält» — diese in Versen eingefangene Naturverherrlichung muß einem Theravadabuddhisten, in dessen Tradition die Natur nichts als Blendwerk ist, die es zu durchschauen gilt, als Einladung zum Verweilen — und damit zur Verlängerung des Leidens erscheinen'°. Im Hinduismus gilt das allumfassende Brahman als Ens realissimum. Wer glaubt, sein eigenes Ich und die ihn umgebende Welt sei von dieser Welt— «Seele» verschieden, unterliegt einem für sein Erlösungsschicksal fatalen Denkfehler. Erlösung tritt jedoch in dem Augenblick ein, da das «Ich» sich als «Atman», d.h. als unablösbaren Teil des Brahman begreift, und zwar wiederum nicht nur verstandesmäßig, sondern durch ein mystisch zu voll— ziehendes Einheitserlebnis von Einzelseele und Weltseele ‚ zumindest nach der Interpretation der Vedanta und des Shankara“. Auch Götter haben keine Substanz, sondern sind ebenfalls nur Funken aus der großen Glut der «Weltseele». ln den theistischen Ablegern der Hindu—Religion allerdings, vor allem im Vishnuismus und Shivaismus, wird der Gestalt des Großgottes ausnahmsweise Realität zugesprochen. Zur Philosophie der Substanzlosigkeit hat auch der chinesische Daoismus seinen Beitrag geleistet — und hier wiederum sein wohl geistvollster, origi— nellster und lesbarster Vertreter, Zhuang Zi. Sein Hauptthema ist das [nein— anderfließen von Traum und Realität, das in dem wohl berühmtesten Gleichnis der chinesischen Literatur Gestalt angenommen hat: «Ich träumte, ondern ist das Ergebnis