2oo Asiattscbe Gesellschaften und Verhaltensstile Drei Unterschiede sind vor allem in der Zeitauffassung hervorzuheben: — Nach ihrer Form verläuft die Zeit, asiatischem Verständnis zufolge, nicht geradlinig, sondern zyklisch. — Nach ihren Modalitäten erscheint sie nicht als ein metronomisch darstell— bares Geschehen, sondern als Diskontinuum aus günstigen und ungünsti— gen Momenten, die es zu ergreifen oder aber zu vermeiden gilt. — Nach ihrem Inhalt schließlich ist sie nicht eine abstrakte Rechengröße, sondern ein in jahresfesten und Saisonarbeiten konkret erlebbarer Prozeß. Im einzelnen: — In der Geschichtsdeutung haben sich zwei Grundmodelle herausent— wickelt: Da ist einmal die Geschichte als Kreislauf. Am Anfang steht das Goldene Zeitalter, dem, in einem zunehmenden Verfallsprozeß, das Sil— berne, das Bronzene und das Eiserne Zeitalter folgt, bis dann auf dem äußer— sten Tiefpunkt ein Umschlag stattfindet und erneut eine Goldene Zeit einge— läutet wird. Das zweite Modell sieht die Geschichte dagegen als eine aufstei— gende Linie, als ein Fortschreiten zum Besseren und Höheren; die Ge— schichte ist nicht Wiederkehr des ewig Gleichen, sondern Heraufkunft eines Neuen; der Prozeß bekommt also eine Zukunftsdimension. In ihrer säkula— risierten Gestalt nimmt diese Sicht die Form des modernen Fort5chrittsglau— bens oder der marxistischen Utopie von einem künftigen Reich der Freiheit in einer klassenlosen und herrschaftsfreien Gesellschaft an. In der Religion dagegen beruht sie auf der Prämisse, daß die Welt aus dem Nichts geschaffen wurde und am Tage des Zornes untergeht, so daß es einen Anfang und ein Ende sowie eine dazwischenliegende Prüfungszeit gibt. Das Linearmodell ist typisch westlich und gehört zum jüdisch—christlieh—mohammedanischen Verständnis vom individuellen Lebenslauf als einmaliger, unverwechselbarer und unwiederholbarer Lebensgeschichte, die in einem zweiten oder dritten Anlauf nicht mehr korrigiert werden kann. Das Kreislaufmodell andererseits ist asiatisches Allgemeingut und hat sich sowohl in der hinduistischen und buddhistischen Wiedergeburtslehre als auch in der chinesischen Geschichts— schreibung niedergeschlagen. Die Zeit flieht hier nicht, sondern kommt im- mer wieder und wird als Kontinuum erlebt, sei es nun in säkularer Ge— schichtlichkeit («Konfuzius» konnte z. B. 1974 wieder zum Gegenstand ei' ner politischen Kampagne werden), sei es in re]igiös—transzendentaler Form; man denke an die Seelenwanderungslehre des Hinduismus — oder an die «leidvolle Wiedergeburt» des Buddhismus. Die zyklische Zeiterfahrung ist gewiß die ursprünglichere, weil sie sich nach den biologischen und kosmischen Rhythmen der weiblichen Regel, der Jahreszeiten und des Gestirnverlaufs richtet und deshalb vor allem das Bau» etnleben bestimmt. Tag und Nacht, Aussaat und Ernte, Geburt und Tod voll— Zlehen sich in ewig gleichen Vorgängen. Das Hindi—Wort «kal» heißt denn be_ze1chnenderweise auch sowohl «heute» als auch «morgen». In der hinduk Stischen Mythologie Wird Zeit vollends zu einer vernachlässigbaren Größe. IV. er Asiaten denken 201 Wie das Zeitbewußtsein der Natur nicht in jahrhunderte altem als den kürzesten Spannen für Entstehen und Versc gischen Arten denkt, so arbeitet, wie Heinrich Zimmer” bemerkt «Indien — gleichsam das Leben, das über sich selbst grübelt — in Perioden idie denen unserer Astronomie, Geologie und Paläontologie vergleichbar sind» Vier einander folgende Yugas (Zeitalter) bilden ein Mahayuga (Großzcitgilter) das 4,3 Millionen Menschenalter umfaßt. iooo Mahayugas ergeben eiri Kalpa (d. i. ein Tag Brahmas), und 100 Brahma—jahre wiederum summieren sich zu einem Para (Weltzeitalter), das 311 Trillionen Menscheniahre um_ faßt. Die moderne Naturwissenschaft laboriert übrigens mit ähnlichen Di— mensionen. Danach ist die Erde ein Planet der Sonne, die Sonne Wiederum ist nur eine von Milliarden Sonnen unserer Milchstraße, die zu durchqueren ein Lichtstrahl rund tooooo jahre braucht; die Milchstraße ihrerseits ist le— diglich ein Tropfen im Meer von Millionen, ja vielleicht Milliarden weiterer Milchstraßen, die voneinander abermals Millionen von Lichtiahren entfernt sind. Unter fünf Milliarden Menschen des winzigen Tröpfchens Erde lebe auch ich — «Ich»: muß dieses Ich oder «Selbst» nicht geradezu zwingend Teil des Ganzen sein — also das «Atman» im «Brahman».> Zeit, Raum und Trans— zendenz verfließen, wie man zugeben muß, bei solchen (irößenordnungen in der Tat zu einem Punkt. In der traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung wird die Zeit eher säkularen Zwecken dienstbar gemacht: Ein Idealherrscher, wie der mythische Kaiser Shun, lebte z.B. genau toojahre, wie es sich für einen vollkommenen Herrscher gehört, dessen Einfluß sich gleichzeitig auch auf IOO Generationen seiner Nachkommen erstrecken soll; mit 30 wurde Shun Minister, mit so Kai— ser, mit 70 verließ er den Thron und die restlichen 3ojahre lebte er in Zurück— gezogenheit. Ein Nachfolgekaiser nehme sich dieses Vorbild zu Herzen und gliedere sein Lebenswerk ebenfalls nach dem Schema 3 12 : z : }. Der Religionsphilosoph Allan Watts hält die westliche Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fiir einen der Haupt— gründe, warum der westliche Mensch nicht an die «Wirklichkeit» heran- kommt, die sich nicht begrifflich, sondern nur durch ein völliges Aufgehen im Hier und jetzt «erleben» läßt * sei es nun im Wege der Meditation oder eines so einfachen Vorgangs wie der Teezeremonie, wo einfach Tee getrun— ken wird, und zwar mit einer solchen Aufmerksamkeit, als ob es nichts an- deres auf der ganzen Welt gäbe. Erst in solchen Augenblicken, die prallvoll sind von Gegenwart, erlebe man das ewige jetzt. Wer an die Sorgen des Ge' stern oder des Morgen denkt, habe bereits das Eigentliche versäumt”. — Der zweite Unterschied zum europäischen Zeitempfinden wird deut— lich, wenn man auf die altgriechische Unterscheidung zwischen der quanti— tativen Zeit, Chronos, und der eher psychologisch bemessenen qualitativen Zeit, Kairos, der «günstigen Gelegenheit», zurückgreift. Nach asiatischer Auffassung ist «Zeit» eine höchst unregelmäßige Abfolge von günstigen und n, sondern in Welt- hwmden der biolo—