206 Asmtzrc/ae Gesellschaften und Verhaltensstzle

Raumvorstellungen

Auch der Raum wurde im traditionellen Asien nicht nach Metern, sondern
nach «Dichte» wahrgenommen und erwies sich damit erneut eher als subjek—
tive denn als objektive Größe. 50 wie die Zeit «konzentrierte» sich auch der
Raum um den Königshof (oder um den <<Himmelssohn») als dem Zentrum
der Kultur und der Religion. Mit zunehmender Entfernung von der «Mitte»
nahm dann sowohl das «Barbarische» zu als auch der Raum ab. Eigentlich
gibt es nach dieser Auffassung Raum nur dort, wo sich höhere gesellschaftli—
che Formen entwickelt haben. Dies gilt für eine hinduistische Königsresi»
denz oder für einen javanischen Kraton nicht anders als für China.

Die Vorstellung von einem homogen beherrschbaren staatlichen Raum
(Staat : Gebiet + Volk + Gewalt) war den Asiaten bis zur Begegnung mit
den Europäern unbekannt — von Grenzmarkierungen ganz zu schweigen.
Demgegenüber pflegte ein dialektisches Raumverhältnis vorherrschend zu
sein — man denke an die polaren Vorstellungsmuster «innen/außen, Mitte/Pe—
ripherie, Zhongguo («Reich der Mitte»)/Tianxia («unter dem Himmel»). So—
wohl in China als auch Indien wurde der Raum als Quadrat und die Zeit als
Kreis aufgefaßt. lm Abendland herrschte demgegenüber das Quadrat bzw.
die Linie vor. Räumliche «Harmonie» wird im übrigen dadurch hergestellt,
daß man die Lage von Häusern, Tempeln oder Grabstätten mittels geoman—
tischer Rückfragen (chin. «fengshui», Wind/Wasser) ermittelt, d.h. sie in
analoge Übereinstimmung mit anderen mikro— und makrokosmischen «Da—
ten» bringt (zum Analogismus und Verkettungsketten vgl. S. 39ff.).

d) Kauta/itdtsden/een, «Zufall», Analogismus und «Schicksal»:
Nicht wir/e—‚ sondern zweckwsdchlic/o

Kulturen mit mechanischer Raum—, Zeit— und Kausalitätsauffassung laborie—
ren vornehmlich mit Maßband, Stoppuhr und Detektor, Kulturen mit einem
ganzheitlichen Verständnis dagegen mit Symbolen, Verknüpfungen und
Analogien. Wer im Aristotelischen Weltbild denkt, sucht für jedes Ereignis
nach einer in der Vergangenheit liegenden Wirkursache und wird Ereignisse
ohne zwingenden Kausalnexus als «Zufall» definieren; wer dagegen ein
ganzheitliches Weltverständnis pflegt, wird kein Ereignis, und sei es auch
noch so merkwürdig, als «zufällig» betrachten, gibt es hier doch nirgends
Einzelereignisse, sondern überall nur Verknüpfungen.

In diesem Zusammenhang erweisen sich unter den vier von Aristoteles in
die philosophische Diskussion eingeführten (Form—, Material—, Wirk— und
Zweck—)Ursachen die beiden letzteren als besonders nützlich für die AUf'
Schlüsselung des Hauptunterschieds zwischen asiatischem und europäi-
Schem Kausalitätsdenken. Wer, wie der Durchschnittsasiate, davon ausgeht,
daß jedes Sein von Anfang an seine Bestimmung in sich trägt, also «Entele—
Ch1e» besitzt, betrachtet das künftige Ergebnis als Ursache für gegenwärtiges

IV. Wie Asiaten den/een 207

oder vergangenes Geschehen, dreht den Spieß also um 180 Grad um Dieses
zweckursächliehe Denken nun gehört genauso zu Asien wie .
von der zyklrschen Zeit oder vom drskontmuietlichen Raum (zum Analogis—
mus vgl. oben S.}9ff.) Em Beispiel: Wenn ein Deich bricht, so können
mindestens fünf Gründe dafür maßgeblich sein, nämlich Konstruktions—
mämgel, der Zorn der durch den Deiehbau beleidigten Wasser— oder Erddä—
monen, eine schlechte Regierung, ein karmisches Ereignis oder der unerfor—
schliche Ratschluß Gottes («Es stand geschrieben»). lm einzelnen:

«Konstruktionsmängel» wären eine allzu «europäische», weil Wirkursäch—
liche Erklärung. Sofort ließe sich hier weiterfragen, warum es denn zu sol—
chen Mängeln kommen mußte.

Schon ansprechender ist das «Dämonen»—Argument, das auch heutzutage
durchaus nicht der Vergangenheit angehört. Wenn beispielsweise ein indone—
sischer Taxifahrer auf eine gefährliche Straßenkreuzung zurast und dabei
nicht die Bremse, sondern die Hupe betätigt, so geht er davon aus, daß die
früher dort stattgefundenen Unfälle nicht durch falsche Fahrweise, sondern
durch die Bosheit eines dort lagernden Dämons verursacht wurden, den es
ergo zu verscheuchen gilt.

Eine «schlechte Regierung» kann ebenfalls schuld sein, da ja, wie oben im
Zusammenhang mit dem «analogistischen» Weltbild und dem «Verkettungs—
denken» ausgeführt (vgl. S. 39ff.), Natur— und Politkatastrophen sowie
menschliche Fehlgriffe und Unglücksfälle Folgen einer Nichtübereinstim—
mung zwischen den fünf Regierungsleitgedanken, fünf Elementen, fünf]ah—
reszeiten u. dgl. sind. Anders als im westlichen Denken galten dabei (zumin—
dest in der Tradition) Ursachen als um so zwingender, je immaterieller sie
waren. Um den tausendfachen Verschlingungen von Ursachen und Wirkun—
gen nachzugehen, stand von jeher ein breitgefächertes okkultistisches In—
strumentarium zur Verfügung, mit dessen Hilfe die «Übereinstimmung» ir—
dischen Handelns mit dem Sternengang (Astrologie) sowie mit den Regeln
des «Windes und Wassers» (fengshui) sichergestellt werden konnte. Die Be—
deutung von Horoskopen und magischen Ritualen kann auch heutzutage gar
nicht ernst genug genommen werden.

Für den gläubigen Hindu oder Buddhisten kann das höchst säkulare Er-
eignis eines Deichbruchs aber auch durch karmische Fernwirkungen aus der
vorangegangenen Existenz verursacht sein. Mit der alten Auffassung, daß
nichts verlorengeht und jede Wohl— oder Untat eines Tages ihre Belohnung
oder Vergeltung findet, konnte die indische Philosophie übrigens auch das
Problem der Theodizee, das im abendländischen Denken nie befriedigend
gelöst worden ist, in den Griff bekommen. Warum habe ich mein Kind ver—
lieren müssen? Warum werde ich von Krankheit, Lähmung und anderem
Unglück heimgesucht: warum ausgerechnet ich? «Hadern mit Gott» ist für
den Hindu oder Buddhisten kein Thema. Hänge nicht deinem Kummer
nach, sondern bemüh dich statt dessen, bessere Ausgangsbedingungen für

die Auffassung