224 Asiatische Gesellschaften und Verbaltensstile In Nordostasien spielt das Schamanentum eine wichtige Rolle, vor allem auch im heutigen Korea — ein Tatbestand, der in der «aufgeklärten» Öffent— lichkeit freilich meist mit Schweigen übergangen wird. Meist sind es Frauen, die als Medium zwischen Diesseits und Jenseits auftreten. Sie werden bei? spielsweise ans Krankenlager gerufen, wo sie den betreffenden Krankheity geist feierlich zum Haus hinausbegleiten, sie werden über günstige Ge« schäfts— und Reisetermine befragt, leisten Sterbehilfe, helfen den Fischern bei der Besänftigung des wütenden Meergottes oder setzen sich im_Trance— zustand mit Verstorbenen in Verbindung. Ihr «Kundenschild» ist eine Gei- sterfahne, die vor dem Haus an einer Stange flattert“. (} Ethik und «irdiscbe Ziele» Hier seien nun die drei klassischen, eher «diesseitsbezogenen» Fragen nach dem höchsten Gut, nach dem richtigen Handeln und nach der Willensfrei» heit angeschnitten, bevor dann im nächsten Kapitel auf die Haltung der ver schiedenen Religionen zum jenseits («Wohin geht der Mensch?«) einzuge» hen ist. Auf der unteren und mittleren Stufe der Wertepyramide, nämlich bei den Vitalwerten (Lebenserhaltung, Nahrungs— und Geschlechtstrieb) sowie bei den «Tugenden» (Gerechtigkeit, Weisheit, Selbstbeherrschung, Bescheidem heit usw.), sind sich die asiatischen Religionen noch weitgehend ähnlich, selbst wenn Buddhismus und Hinduismus eine Überbetonung der Vital— Werte für schädlich halten, weil sie nur die Ich—Illusion verstärken helfen. Auf der höchsten Stufe dagegen lassen sich folgende Abweichungen feststel- len: Als Summum bonum gilt ein Leben in Übereinstimmung mit der Natur (Daoismus, Shintoismus), mit der überkommenen Sittenordnung (Konfw zianismus), mit dem Mikrokosmos des Kastensystems (Hinduismus) oder mit dem Willen Gottes (Islam), nicht zu vergessen die Leidensfreiheit (Buddhismus). Klassische «höchste Güter», wie sie sich in der abendliindi— schen Philosophie abgewechselt haben, etwa das Tugendideal des Aristoteles («Seelengrölie»), das Mönchs— und Ritterideal des Mittelalters oder das Hu— manitlitsideal der deutschen Klassik («Entfaltung der Persönlichkeit»), tau— chen in dieser Form in Asien allenfalls selektiv auf, so z.B. das Ritterideal beim japanischen Samurai, das Mönchsideal beim Sangha und das Human} tätsideal beim Konfuzianismus. Liest man etwa einige Grundaussagen Wil— helm von Hutnboldts nach, daß nämlich die Veredelung der ganzen Mensch— heit das Ziel der Geschichte sei und daß der Weg dorthin über die Ver edelung der Iiinzelpersönlichkeit führe, weil nämlich auf die Menschheit am besten wirke, wer auf sich selbst wirkt, so fühlt man sich auf Anhieb an kon- fuzianische Grundpostulate erinnert. Freilich bleibt die konfuzianischc Ethik dann letztlich doch wieder partikulär, weil beim Konflikt zwischen Familien/Danwei— und Allgemeininteressen sich allemal die ersteren durch V, Was Astaten glauben: Relzgzon und I-‘ro'mmigfeel! 225 zuS€tZen pflegten und pflegen: Man denke an das oben zitierte Beispiel des pietätvollen Sohnes, der Pahnenflucbt begeht. Weil er die Trauerrituale für seinen Vater einhalten mochte. Ethik gegenüber dem allgemeinen Men- schen eschlecht wird von einer einzigen altchinesischc . nämli%h der des Mo Di. Angesichts der Zellularit.it der clfiirsibfsliilccliegrifäriiillrlt; schaft ist dieses Postulat der allgemeinen Mensehenliebe ein vielbeachteter, ganz gewiß aber auch skurriler Beitrag zur Moraldiskussion in China geblie- ben: Mo Di, ein Rufer m der Wüste. Während die aus Indien stammenden Religionen sowie der Islam in seinen asiatischen Ausprägungen dazu neigen, das irdische Summum bonum ex ante im Lichte der Religion, d.h. unter jenseitsbe7'tigem, „. betrachten, gibt sich die konfuzianische Sittenlehre überaus s.tkular und nimmt bei den Xiao— ren (den «kleinen Leuten») sogar höchst eudaimonistischen Charakter an, beispielsweise in der bekannten Formel « fu, lu, shou, zi» (Glück Reichtum, langes Leben und Söhne). Vor allem der Wunsch nach einem «langen Leben» wird durch eine Fülle von Symbolen ausgedrückt, die so etwas wie den roten Faden durch die gesamte chinesische Kunst abgeben — man denke an das Zei- chen für «langes Leben» (shou), das auf 'I'eit>piehen, Wandschirmen, Stuhl- lehnen, Vasen und Lesezeichen erscheint, oder aber an typische Motive wie den alle 1000 jahre blühenden Pflaumenhauxn. dessen Frucht Unsterblich— keit verleiht, an den Pilz der Unsterblichkeit. an den mandschurischen Hirsch, der diesen Pilz findet, an den Kranich oder an den so populären und in allen Devotionalienhandlungen feilgebotenen N.tnhai shouxing — den «Stern des langen Lebens vom SÜdmeer». Gegen diese traditionellen Auffas— sungen vom «höchsten Gut» haben sich die marxistischen Zielsetzungen (Hingabe an das kollektive Ziel der Selbstbefreiung des Proletariats etc.) nicht im geringsten durchsetzen können. Was nun macht ferner eine Handlung zu einer moralisch richtigen? Ge— nügt es, daß sie erstens lediglich im Ergebnis einen sittlichen Wert verwirk— licht, oder muß sie zweitens um des sittlichen \X/ertes willen durchgeführt worden sein, oder genügt es drittens, daß sie zur Herbeiführung eines be— stimmten Zustands unternommen worden ist.> Der ersten dieser drei Optionen kommt ganz gewiß die hinduistisehe Mo— ralauffassung am nächsten: Man erfülle, wie es an der klassischen Stelle der Bhagavadgita heißt, sein «dharma», d.h, die jeder Kaste vorgeschriebene Pflicht, «leidenschaftslos». Es handelt sich hier um Ordnungen, die — richtig verstanden — nicht einengen, sondern lreimachen sollen. Der Krieger hat also im Ernstfall zu töten, gleichgültig ob der Feind sein Freund oder Ver— wandter ist. Das Dharma wird von den verschiedenen philosophisch-theo- 10gischen Schulen des Hinduismus jeweils anders begründet, nämlich ent— weder als Manifestation des unpersönlichen Brahman oder (theistisch) als Offenbarung eines persönlichen Gottes oder aber (atheistisch) als imma— nente Gesetzlichkeit der Welt; unabhängig von solchen Verschiedenheiten