226 Asiatische Gesellschaften und Verhaltensstile sind aber dann doch alle Schulen wieder darin einig, daß nur die Befolgung des Dharma die Harmonie zwischen Mikro— und Makrokosmos sowie zwi— schen Natur und Gesellschaft sicherstellt und daß sie insofern die Conditio sine qua non für letztendliche Erlösung ist. Wer das Dharma befolgt, rückt von Wiedergeburt zu Wiedergeburt der Erlösung näher, wer es mißachtet, programmiert damit (Vergeltungskausalität des Karma) seinen «Abstieg», insofern er in einer niedrigeren Kaste oder gar als nichtmenschliches Lebe— wesen wiedergeboren wird. In der Alltagspraxis des Hinduismus wird das Dharma nicht allgemein menschlich, sondern kasten— und altersspezifisch interpretiert: — Kastenspezifische Ethik heißt, daß der Durchschnittshindu sich ausschließlich an den Regeln seiner Kaste oder ]ati orientiert; die Ka— stenregeln sind in den sog. «Leitfäden» (sutras) und «Lehrbüchern» (sha— stras) niedergelegt, die, anders als die «Veda» zwar nicht direkt göttlichen Ursprungs, sondern menschlicher Herkunft sind, als solche aber gleichwohl zur heiligen Überlieferung, d. h. zur «Smriti» (Erinnerungs)-Literatur gehö— ren, die — wiederum im Gegensatz zur Veda — nicht nur den drei Oberen Ka— sten, sondern jedermann zugänglich sind. Das wichtigste Shastra ist das Ge— setzbuch des Manu, das etwa im i.V0rchristlichen ]ahrhundert entstanden ist und in dem nicht nur Regeln einzelner Kasten, sondern auch die Pflichten eines Hausvaters, eines Asketen, einer Ehefrau etc. bis ins Detail festgelegt sind. Aufgelistet finden sich hier ferner die verbotenen und erlaubten Spei— sen, die Beschäftigungen und die Alltagsriten sowie die Rituale zu Sonderan- lässen wie Geburt, Hochzeit und Tod, nicht zuletzt auch Regelungen zum Ehe— und Erbrecht sowie zu den Pflichten der vier Varnas («Farben», Ka— sten). — Das altersspezifische Dharma richtet sich nach den sog. «Vier Lev bensstationen» (ashramas), die jeder Mensch tunlichst durchlaufen soll und. die sich mit den Stichworten Schüler, Hausvater, Einsiedler und Wanderas ket umschreiben lassen. Hermann Hesse beschreibt die idealtypische Um— setzung dieses Schemas in seinem Roman «Siddharta» als eine auch für den westlichen Leser nachvollziehbare religiöse Odyssee. Im jainismus ist die Grundforderung verankert, daß angesichts der Ein- heit von Welt— und Einzelseele jedes Geschöpf wie das eigene Selbst behan» delt werden müsse und daß Gewalt gegen andere Gewalt gegen das eigene Selbst sei. Diese Vorstellung («Dein Nächster bist du selbst!») wurde auch von Mahatma Gandhi erneut aufgegriffen”, konnte sich dann aber in der in» dischen Praxis doch nicht durchsetzen, wie ja überhaupt die Gegensätze zwischen hinduistischer All—Einheits—Lehre einerseits und strikten Kasten regeln andererseits sowie zwischen höchster Toleranz im religiösen, aber Fa— natismus im sozialen Bereich mit zu den Grundwidersprüchen des Hinduis— mus gehören. _G_enügt im Hinduismus das moralische Ergebnis, so verlangt der Konfu— .Zlanismus darüber hinaus auch noch die Einheit von äußerem Handeln und lIm€rer Haltung — Option Nr. 2. Das wahre Glück des «Edlen» besteht ja in v_———. V. Was Asmten glauben; Religion und I’romng/egu 227 der freien inneren Übereinstimmung mit demSittengesetz. Aus der Freude am moralischen Vollzug erw'a'chst der Seelenfrieden. Der Islam schließlich, der hier ganz in der «westlichen» Tradition steht, stellt mehr auf die innere Einstellung als auf das äußere Ergebnis ab; in der malaiischen Welt kommt es hier freilich zu einem 'I'au7iehen zwischen hin« duistischer und islamischer Tradition. Der einzelne ist aufgefordert, sein «Gespür» (rasa) zum Maßstab seines Handelns zu machen. Was schließlich den Buddhismus und den Datusmus anbelangt, so gilt a]- 135 Handeln als sittlich, das den Zustand des Suntmum bonum liL'rbcllllllrt ‚ Option Nr. 3. Nach buddhistischer Lehre geschieht dies durch Besclireiturtg des «Heiligen achttciligen Pfades» (rechter Glaube, rechtes SichvEntschlie— ßen, rechtes Wort, rechte Tat, rechtes Leben, rechtes Streben, rechtes Ge— denken und rechtes Sich—Versenken), nach daoistischer Lehre durch «Nicht— handeln» (wuwei), d.h. durch ein passives Sich—Einfügen in das große Ge— schehen der Natur und des Yin—Yang. Beides sind typische r\ltcrslehren. Treffend bezeichnet Nietzsche den Buddhismus als eine « Religion für späte Menschen, für gütige. sanfte, iibergeistig gr*\i‘nrdene Rassen, die zu leicht Schmerz empfinden (Europa ist noch lange nicht reif für ihn): Er ist eine Rückführung derselben zu Frieden und Heitei‘keii, zur Diät iin Geistigen, zu einer gewissen Abhartung im Leiblichen . .. Der Buddhismus ist eine Re— ligion für den Schluß und die Müdigkeit der Zivilisation . . .”.» So sehr sich die Begründung des Sittlichkeitsverhaltens kulturspezifisch auch unterscheiden mag, so sehr gibt es auf der anderen Seite doch gemein? same Einstellungen. Überall sind die Vier großen Gebote durchgängig, name lich nicht zu töten, nicht zu lügen, nicht zu stehlen und nicht die Ehe zu brechen, und zwar auch dort nicht, wo Pol_vgamic erlaubt ist. Durchgängige Gebote sind auch die Kindesliebe und die «Goldene Regel», derzufolge niev mand einem anderen zufügen soll, was er selbst nicht erleiden möchte. Was andererseits keine asiatische Ethik fordert, ist Nächstenliebe: In den indi— schen Religionen erscheint der «Nächste» ja als Sinnestiiuschung. weshalb es ihm gegenüber kein positives Liebesgebot, sondern nur ein NichvVerletzen (Jainismus) oder ein passives Mit—ihm«l.eiden (Buddhismus) geben kann; buddhistische Ethik ist nicht gebietend. sondern verbietend: die klassische Fünfzahl Nichttöten, Nichtlügen, Nichtstehlen, Niclitunzucht und Nicht— berauschung. Fiir den Konfuzianismus andererseits ist der Nächste im trans— familiären oder im Transdanwei—Bereich fast schon so etwas wie ein Nie— mand. Die dritte ethikbezogenc Hauptfrage richtet sich nach dem freien Willen. Wo keine Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten besteht, bleibt für sin— liches Handeln kaum Spielraum. Bisweilen heißt es, daß Islam und Hinduis— mus in diesem Sinne «determiniert» seien. In beiden Religionen allerdings kann der Gläubige zumindest darüber entscheiden, ob er sein «Schicksal», sei es nun in Form des unerforschlichen Ratschlusses Gottes (Islam: «Es