232 Asiatische Gesellschaften und Verhaltenssiile für künftige Verkörperungm. Dharma, Karma und Samsara hängen aufs engste miteinander zusammen. Für den chinesischen Universismus anderer— seits ist das Problem der Sünde und der Sündentilgung irrelevant geblieben. Wer sich nicht an die Regeln hält, bringt die «Entsprechungen» aus dem Lot und wird zur Rechenschaft gezogen — allerdings durch die «weltliche In— stanz»! Die marxistischen Tröstungen (etwa Maos «Bald werde ich bei Marx im Himmel sein») haben dagegen keinerlei Attraktivität entfalten können. e) Ritual und Frommsein Die Gewichtung zwischen den drei Hauptkomponenten Glaube, Moral und Ritual fällt bei jeder Religion anders aus. Während die Religionsphilosophie Kants vor allem auf die Moral, der Islam und der christliche Protestantismus dagegen hauptsächlich auf den Glauben abstellen, zeigt sich in den meisten asiatischen Religionen eine Vorliebe für das Ritual. Wer einmal an einem sonnigen Nachmittag die Shwedagon in Rangoon oder den Drachenberg tempel in Taibei besucht hat, weiß, was hier gemeint ist: In Rangoon über— gießt man die «unter Hitze leidenden» Buddhastatuen mit kühlendem Was— ser und vollzieht heiter schwatzend die Umwandlung der Chedi. In Taibei steckt man Weihrauchkerzen vor dem Bild des Examens— oder des Reich— tumgottes in Brand, breitet auf dem Opfertisch seine Gaben aus, um den Göttern die Essenz anzubieten, unterhält sich unterdessen mit Freunden und nimmt dann das Ganze zum Selbstverzehr wieder nach Hause. In Thai— land oder I‚aos beklebt der Gläubige Buddhafiguren mit Blattgold, spendet Weihrauch, bringt Blumengaben, schlägt auf eine Glocke, um auf diese Weise ein «Musikopfer» zu erbringen, schenkt — für einen geringen Betrag .- einem gerade noch im Käfig eingesperrten Vogel die Freiheit, worauf dieser kurze Zeit später wieder vom Händler eingefangen und erneut zur «Befrei— ung» angeboten wird — die meisten Andachtshandlungen eines buddhistk schen Laien erschöpfen sich im Ritual, das weit weniger anstrengend ist als stundenlange Meditation über die Leiderfülltheit allen Seins. Inneres Frommseiri: Gebet und Versen/eimg Inneres Frommsein vollzieht sich vor allem durch Andachten und Gebete sowie durch Meditation und Versenkung, wobei sich das Gebet mehr an ei- nen persönlichen Gott, die Versenkung dagegen sowohl an ein personales Wesen als auch an ein unpersönliches Göttliches wendet. Das tägliche Gebet ist fest verankert in der fünfmaligen Tagesandacht des Islam, die sich im heißen Süden zumeist im Freien vollzieht und damit der «sozialen Kontrolle» unterliegt. Bei den Gebetsübungen sind bestimmte Formeln zu sprechen und rituelle Körperhaltungen anzunehmen, die beim frommen Muslim vom Stehen über das Verbeugen bis zum Flach—auf—dem- Boden—Liegen reichen. Bei den meisten asiatischen Völkern zieht man wäh» W V. Was Asiaten glauben: Religion und 1-‘romrnigleeit 233 rend des Betens die Schuhe aus; Hindus, Buddhisten, Christen und Moham— medarlef verwenden einen Rosenkranz. Bei manchen Religionen, wie z.B. dem Amidabuddhismus, beschränkt sich die Andacht geradezu auf repeti- tive Anrufungen, die nicht nur mündlich, sondern auch schriftlich erfolgen — man denke an die tausendfache Wiedergabe des kalligraphischen Schriftzugs «Nanwu Emituofo» (Verbeugt Euch vor Amithaba Buddha), die ganze Waldpilgerwege säumt. Auf die Spitze Wird das formelhafte Gebet im La- maismu5 getrieben, wo gewisse magische Mantras (am berühmtesten das «0 Mani padmehum») sogar mechanisch «in Gang gehalten» werden, sei es nun in Form der vom Gläubigen zu drehenden Gebetstrommel oder aber von keimsilben—übersäten Fahnen und Schriftbändern, die auf Bergpässen oder vor Tempeltüren im Wind flattcrn. Für viele Europäer wirkt dies fast «unre— ligiös». Das Weihrauchkerzen—Anstecken, das Verbrennen von Göttergeld oder gar das lässige Schwingen einer tibetischen Gebetstrommel erfordert ja keinerlei Anstrengung und sieht überhaupt nicht nach Arbeit und Pflicht aus — von «konzentrierter Andacht» ganz zu schweigen. Jedes Kind würde so etwas mit Freuden tun. Von ganz anderer Art — und im «meditierenden» Asien unendlich weiter verbreitet als im «reflektiercndcn» Europa —- ist die mystische Versenkung, die darauf abstellt, den Dualismus zwischen Ich und Du, zwischen Mensch und Gott oder aber zwischen Individuum und einem (als unpersönlich ge— dachten) Göttlichen zur Unio mystica hin aufzuheben, d.h. selbst zum Du, zum Gott oder zum Göttlichen zu werden, und sei es auch nur für einen Augenblick (Näheres dazu oben S. i89ff.). In Asien gibt es zahllose Mysti- kerschulen, sei es nun im Hinduismus (hier genüge das Stichwort Yoga), im Daoismus, im Mahayana (man denke an die Zhan— und Zen—Schulen), aber auch im Theravada (in Birma beispielsweise sind zahlreiche Tempel mit Me— ditationszellen für Glaubige ausgestattet) oder im javanischen Kulturkreis, wo die Mystik sowohl zur Zeit des Hinduismus und des Mahayana als auch in den nachfolgenden islamischen jahrhunderten kräftig Wurzeln geschlagen hat. Kaum jemand in Asien zweifelt daran, daß der Mensch als Ganzer durch Einswerden mit dem Brahman, mit dem Dat) oder mit der Leere der Buddhanatur religiös weitaus stärker «ergriffen» und zu intensiveren Levi- tations— und Erleuchtungserlebnissen erhoben wird als durch einen noch so genial ausgezirkelten thomistischen Gottesbeweis. Gewiß gab es in Europa ebenfalls eine eindrucksvolle mystische 'I‘radition: Meister Ekkehard, Johan— nes Tauler und Hildegard von Bingen A für einen modernen Europäer frei— lich ist Meditation in sehr weite Ferne gerückt, läuft sie doch im wesentli— chen darauf hinaus, das eigene Ich auszuschalten, sich nur noch «ereignen zu lassen» und sich einzuschwingen auf das klangvolle Strömen eines reinen KIiings, der etwa von einem Gong ausgeht, oder auf ein Mantra, etwa das AUM (mit dem christlichen «Amen» verwandt), das den ganzen Raum V0n der Kehle bis zu den Lippen durchläuft, den gesamten Stimmbereich