258 *l.<mr1xclw Gesellschaften und Verba/tensstile

grund ihres Wissensmonopols zur Elite der Gesellschaft wurden. Unter ih_
nen formte sich der Kriegeradel zur Schicht der Kshatriyas, gefolgt von den
Freien — zumeist Bauern und Gewerbetreibende (vaishiyas). Nur diese drei
Schichten hatten Anteil am Veda»0pferritual; die unterworfenen Völk„
blieben ausgeschlossen und wurden später zur Dienstleistungs($hudraiK3_
ste. Die «'l'enipcl» der nomadischen Arier waren auf Streitwagen momicn
Noch _}ahrhuntierte später wurden Steintempel als Wagen dargestellt » mit
«verkümmerten» Rädern und einem gewaltigen Baldachinaufbau, der auch
als Berg Meru interpretiert wurde. Diese Cella/Berg—Synthese lag allen späte_
ren Tempelarchitekturen zugrunde. 3. Brahmanismus (905%400 v. (ihr): Die
Veden, bestehend aus drei großen Sammlungen, umfassen auch die Unmi—
shaden (geheime Sitzungen), die zu Haupttexten des Brahmanismus werden;
zumeist dialogisch verfaßte Lehrer—Schüler—Traktate (8.—1.vorchr. jh_i‚ Än—
derung der Lebensstimmung: Schauplatz der Veden war der nordwestlichc
Panjab, Schauplatz tler Upanishaden dagegen die Gangesebene. Verinnerli»
chung des Opfers. Zentraler l‚ehrgegenstandz die Einheit von Brahman und
Atman. Seelenwanderungslehre. Moksha (Erlösung), Karmalehre; Ausbil—
dung des hastenwcsens 4. Blinktismus (ab 400 v.Chr.): Vierte Schicht
schließlich waren die Bliakti((iotterhebung, Gottesliebe)—Kulte. Wandte
sich die Lehre der Upanishaden nur an eine kleine Elite, so das Bhakti an die
Massen der Gläubigen (Volkshinduismus contra Sanskrithinduismus). Relif
gion wurde wieder «sichibarw gewaltige Tempel, vielarmige Götterskulptrp
ren, grelle Farben, reiches Ritual, Volksfrömmigkeit; Hinwendung zu einem
Großgott, vor allem zu Vishnu und dessen Inkarnationen (Avataras). in der
Bhagavadgita spricht der Gott «Selbst ein ganz schlechter Mensch muli als
gut erachtet werden, wenn er sich mir und keinem anderen hingibt . .. Wer
mir ergeben ist, geht nicht zugrunde.» Literatur: Gesetzbuch des Manu. Pu—
ranas und die zwei (_iroßepen Mahabharata und Ramayana.

Die vielfache historische Schichtung hat mehrere Auswirkungen: i. Man»
nigfaltigkeit der religiösen Richtungen: Vishnu—, Shiva«, Shakti—Verehruntß
Vedanta—Anhänger usw. Der Hinduismus hat jedem etwas zu bieten: dem
Bauern, dem Gelehrten und dem Sadhu (Eremiten). z. Erlösung auf mehre—
ren Wegen erreichbar: durch Handeln, durch Wissen und durch Gottesliebe
(Bhakti) (zur Erlösung S. zszf.). 3. Einzelgötter tragen (logisch an und fur
sich unvereinbare) Züge aller historischen Traditionen an sich: Shiva ist
Donnergott (Religion der indogermanischen Arier), Berggott (Kailash»
Uberlieferung), Nandi (alte Stierkulte der Induskultur), Herr der Leichen—
Verbrennungsplätze (tibetische Bon—Religion?), Flußgott Ganga. Lehrer,
Zerstörer der Welt. Fruchtbarkeitsgott (Magna Mater—Kulm um Kali und
Durga sowie Linga»Verehrung) usw.

V, Was Aszaitt‘n glauben: Religion und Frömmigkeit 259
Zehn Gemeinsamkeiten ' _ 4
T otz aller Verschiedenhenen gibt es im wesentlichen zehn gesamthindmsu—
r

sche Gemeinsamkeiten: I. heilige Schriften (vier Veden, Upanishaden; Sf““'
. (‚wie die Epen Mahabharata und Rama» ana); 2. mehrere Grohgotter
us 5 allem Vishnu und Shiva); 3. Haupttugenden (r1tuelle Reinheit, Wahr-
£Z?;sliebei Gewaltlosigkein ahimsa);_4. vier Lebensstadien (lirwcrb religiö-
Wissens; beginnend mit Eheschließung:|I’fhchten gegenuber der Fami—
set? Rückzug in die Stille; Loslösung von Besitz, von den Menschen und um
i:fi;„ leiblichen Bedürfnissen); ;. vier Lebensziele (Sinnengenuli: kann, (}Ls‚
' weltlicher Güter: artha, Erfüllung der Pflichten: dharma und ltl‘rt‘k
Wllm der Erlösung: moksha; das ieweils folgende Ziel ist besser als das vor?
äärgeghende); 6. gemeinsame {Glaubensvorstellungenz lm Zentrum allen Phi—
]osophierens und Theologisierens steht das Doppellenmonv_„von Samsara
(Seelenwanderungslehre) und Brahman/Atman (dazu S.zi7fl., 125, 229).
(Voltaire zur Wiedergeburt: «ll n est pas plus surprenant de naitre deux fms
q’une. Tout est rcsurrecnon dans lanature.»z «Zwetmal geboren zu_werden
ist keineswegs überraschender als einmal. Alles in der Natur ist Wiederge—
burt.») Gemeinsames Ziel aller hiiidu1stischen Rehgtonsnchtungen ist die
Vereinigung der Einzelseele (Atman) mit der \X"eltseele (Brahinan). Uber die
Bewerkstelligung dieses Wiedervereinigungsprozesses gibt es sechs verschie—
dene Systeme — am wichtigsten das Vedantavastem des Shankara (um 800
n.Chr.) (Vgl. oben S. 2 I 7). Da das Brahman räumlich ohne Begrenzung oder
Teilung, zeitlich ohne Anfang und lande. zeitlich/räumlich ohne Bewegung
und «stofflich» ohne Materie * also auch ohne Verunreinigung * ist, tritt Izrf
lösung (moksha) in dem Aug‘nblick ein, da das Atman dieselben «Eigen—
schaftslosigkeiten» angenommen hat wie das Brahman, also nicht mehr in
Raum und Zeit verhaftet, nicht mehr in Bewegung (Begehren und Leiden—
schaften) und vor allem auch nicht mehr unrein ist; alles «Reine» liirdert Ja
die Vereinigung mit dem Göttliehen, alles «Verschmutzende» dagegen ent—
zweit das Atman mit dem Brahman; desgleichen sind alle aggressiven und
libidinösen Impulse und alles l)iesseits—Verharrende fiir die lirlösung hinder—
lich, Während umgekehrt alles Diesseits—Gelöste und Meditattvie die Anna—
herung an das Brahman fördert. Mit der «Heimkehr» des Atman in das
Brahman sind drei Konsequenzen verbunden, nämlich das Ende des Atman,
das Ende des Karma und das Ende des mit der Seelenwanderung verbundß
nen Leids. Himmel und Hölle sind keine dauernden Aufenthaltsorte, son—
dern nur Durchgangsstationen. 7. Vielfältige Pilgerbräuche a) heilige «Bade—
Plätle in Allahabad, Hardwar, Ujjain. Nasik; Benares; b) zu den l'ußab—
drücken Vishnus; c) zu Orten und W;igeiiprozessionen (z. B. nach l?uri in
ori333); d) zum heiligen Berg l\'ailash. Wallfahrten zu den heiligen Statten
gehören mit zu den wichtigsten lntegrationsfaktoren der indischen Kultur*‚
8— Kein einheitliches Dogma und kein religiöses Oberhaupt. Der Hinduis—
mUS ist eine Religion ohne Stifter, ohne « Papst», ohne allgeme1nverbmden—