274 Asiatische Gesellschaften und Verbaltensstile lächelnd spricht, sondern sich auf larmende und unzivilisierte Weise äußert verdient keine Aufmerksamkeit, ja wird nicht einmal einer Schelte für wür_‘ dig befunden, sondern im wahrsten Sinne des Wortes «aus dem Verkehr ge— zogen»“. Überhaupt dient «soziale Verweigerung» als Strafe: Das Verbot, Gegen_ stände mit der «unanständigen» und mit vielen Tabus belegten linken Hand an andere weiterzureichen oder mit der Linken entgegenzunehmen, wird z.B. dadurch verinnerlicht, daß die Mutter die linke Hand des Kindes im— mer Wieder beiseite schiebt und ein Erfolgserlebnis bei ihm nur dann auf— kommen l'a'ßt, wenn es die rechte Hand benutzt. Auch die Versuche des Kleinkinds, während seiner oralen Phase Gegenstände in den Mund zu Stck— ken, werden durch augenblickliches Zurückhalten der Hand verhindert, wobei der Geduld keine Grenzen gesetzt zu sein scheinen. Für einen West]i_ chen Beobachter fällt es immer wieder auf, daß es dabei nie böse Worte gib(_ Es wird auch selten mit Liebesentzug oder mit der Verweigerung von Rech_ ten gedroht. Statt der Drohung bedienen sich asiatische Mütter eher der Be» stechung, d.h., sie stellen nicht eine Strafe für schlechtes, sondern eine Belohnung für gutes Verhalten in Aussicht. Allerdings wird dem Kind klar gemacht, daß Kräfte von außerhalb, z. B. Dämonen, ihm etwas antun könn» ten, falls es sich nicht ordentlich benimmt. Ein weiteres Hauptmerkmal des paiiasiatischen Erziehungsstils ist die Einübung eines möglichst konfliktfreien Verhaltens. Das Kind wird weniger gestraft als vielmehr durch «Necken», Schmeicheleien, durch Warnung vor den Geistern oder durch Sensibilisierung für das eigene «Gesicht»> unter Kontrolle gebracht. Die asiatische Mutter sagt in der Regel nicht: «Wenn du dies tust, wirst du bestraft», sondern «Wenn du dies tust, lachen dich die anderen aus.» Es wird also nicht an das Schuld-, sondern an das Schamge— fühl appelliert. Ein ungehorsames Kind wird weniger durch Schimpfen als vielmehr durch Sticheleien, «Aufziehen» und gutmütigen Spott zur Rii'son gebracht. Es bleibt jedem überlassen, ob er einen in dieser Form vorgebraeh- ten Tadel als Scherz oder als bitteren Ernst interpretiert. Immer bleibt der Ausweg, daß ja alles nur ein Spaß gewesen sei; und stets auch bleibt die Möglichkeit, sein Gesicht selbst dann zu wahren, wenn heikle Themen zur Debatte stehen. Auch hier gilt es, Konflikte so wenig wie möglich offen aus— zutragen. Asiatische Kinder werden selten zum Essen oder zum Schlafen- gehen zu bestimmter Stunde gezwungen; häufig sieht man sie noch um Mit- ternacht durch das Haus toben. Körperliche Strafen und Schelten sind url— üblich. In aller Regel verwöhnt man das Kind. In Gesellschaften, in denen Kinder so lange im Schoße der Familie bleiben wie auf den Philippinen, in Indien oder im traditionellen China. ist diese «sanfte Strategie» der Konfliktaustragung nicht nur im Sinne des Familien- friedens nahezu unentbehrlich, sondern auch für das spätere Verhalten d€5 Kindes von ausschlaggebender Bedeutung. VI. Wie man «Asiate» wird 275 Vor allem über die chinesische Erziehung lassen sich zwei Doppelleitsätle schreiben: Negativ ausgedrückt gilt es, das Kind me schreien (= leiden) und es auch nie alleine zu lassen; fangt ein Kind zu schreien an, hört unter Er- nen sofort das Gespräch auf, und Jedermann wendet sich dem Klei- nen zu, bis es sich wieder beruhigt hat. Positiv formuliert, darf das Kind an .. tlichen Unternehmungen der Eltern tetlnehrnen und hat ebenso wie der ärr:lvachsene sein eigenes Gesicht, auf das Rückstcht zu nehmen ist. wachse c) Erziehung nach dem 6. Lebensjahr Im Alter bis zu fünf Jahren spielt das. Geschlecht des Kindes beider Erzie— hung kaum eine Rolle. Dies beginnt Sich erst nach dem 6. Lebens;ahr zu an— dern. In bäuerlichen Regionen werden die Kinder letzt in den Arbeitsprozeß eingeschaltet und übernehmen leichtere Aufgaben, z.B. das Sammeln von Gras oder das Vi€hhüten. Vor allem aber werden letzt beide Geschlechter voneinander getrennt und separat erzogen. Maßgebend für diesen Szenen— wechsel ist der Eintritt der sexuellen Reifung. Zumeist haben sich in diesem Zusammenhang Reste alter Initiationsriten erhalten. Im 8. Lebensjahr bei— spielsweise erfolgt in der hinduistischen Gesellschaft die Verleihung der Hei— ligen Schnur an die Angehörigen der Oberkasten; in den islamischen Gesell— schaften — und übrigens auch auf den katholischen Philippinen ‘ findet die Beschneidung statt, die unter den frommen Familien Malaysias oder Indone- siens durchaus noch religiöse Bedeutung, in den philippinischen Familien dagegen nur noch den Stellenwert eines Familienrituals hat. Uberall_ gilt die Beschneidung, die heutzutage meist in der Klinik und unter Teilnahme gleich einer ganzen Gruppe von Kindern erfolgt, als Virilitätsprobe; auf den Philippinen stellt man die Männlichkeit Unbeschnittener mit dem abwerten— den Griff «supot» in Frage. Demgegenüber wird die weibliche Menstruation kaum noch von Zeremo- nien begleitet; allerdings nehmen nun die Neckereien zu, deren Ziel es ist, bei den Mädchen ein Gefühl für «Sittsamkeit», Bescheidenheit und weibli— che Anmut zu wecken. Während die Trennung zwischen den Geschlechtern stark ist, sind Frauen untereinander höchst kontaktfreudig. Vor allem in Ko— rea sieht man sie immer wieder gemeinsame Ausflüge unternehmen, zusam- men lachen, tanzen und picknicken, wobei die gemeinsame Fröhlichken manchmal auch vom Alkohol herrührt. Erziehungsideal ist bei beiden Geschlechtern ein Verhalten, das entspannt, zurückhaltend, angenehm im Umgang und frei von Zornes— oder Tempera— mentausbrüchen ist. Während sich das Frauenideal in den meisten asiati- schen Gesellschaften ähnelt (bei Mädchen setzt die systematische Erziehung fr_üher ein als bei jungen), zeigt das Männerbild gewisse Abweichungen und tl'ltt im Kontrast zwischen Thailändern und Filipinos einerseits sowie Japa— nem, Koreanern und Chinesen andererseits besonders deutlich zutage.