296 Asiatische Gesellschaften und Verbaltensstile vorübergehend «aus dem Verkehr zieht« (dazu oben 5. 273). Es gilt die Ma— xime: Je vornehmer, desto leiser. Häufig werden darüber hinaus auch Dinge um so unauffälliger mitgeteilt, je wichtiger sie sind. — «Zurückhaltung»; Auf wenig Gegenliebe stoßen «offene und ehrliche» Aussprachen über persön- liche Probleme, Sorgen und Intimitäten. Uber solche Dinge redet «man» nicht im zugeknöpften Asien. Diese Art der Reserviertheit mag dreierlei Gründe haben: Zum ersten will man den anderen offensichtlich nicht «bela_ sten», zum anderen soll niemand mit einem «Gesicht» spielen, und sei es auch nur mit seinem eigenen, zum dritten wehen hier möglicherWeise noch animistische Spinnweben mit herein: Liefert man zufällig lauschenden Dä- monen nicht möglicherweise Angriffsflächen, wenn man sein lnneres allzu offen nach außen stülpt? Ubelwollende Geister sollen kurzgehalten und ab— gelenkt, nicht etwa gar noch eingeladen werden. Wenn im übrige moderne Wissenschaft wie die Psychoanalyse in Asien bisher so Wenig Nachfrage gefunden hat, so hängt dies nicht nur mit einer anderen Einstel— lung zur Sexualität zusammen, sondern auch mit der hier angedeutcten Re— serviertheit in persönlichen Dingen. Auch Lamentieren, Äußerungen von Selbstmitleid oder Schmerzens— schreie hat man nach panasiatischer Auffassung gefälligst zu unterlassen. Hinter der Tabuisierung solcher offen zur Schau getragenen Empfindungen stehen in der Regel zwei Motive: der Wille, den Schmerz nie Oberhand ge— winnen zu lassen, weil dies am Ende auch auf einen Gesichtsverlust hinaus— liefe, und die mit Schmerzäußerungen verbundenen Befürchtungen einer Harmoniestörung. Wo immer möglich, wird Leid deshalb lächelnd ertragen — und von den anderen nicht zur Kenntnis genommen. Wer in irgendeinem asiatischen Land je einen Verkehrsunfall miterlebt hat, war vermutlich er— schüttert über das Desinteresse und die mangelnde Hilfsbereitschaft der an— deren. Hierbei sollte man allerdings bedenken, daß Schmerz, Leid und Tod kulturspezifisch erlebt werden. Es ist ein Unterschied, ob ich mich, wie im Westen, als individuelle Person mit unwiederholbarem Schicksal empfinde oder ob ich Geburt, Leben und Tod als einen ewig sich wiederholendcn Kreislauf — und Leid nur als karmisches Ereignis, als Schickung («Kisniet») oder gar als «Täuschung» interpretiere. Tabuisiert sind allerdings nur indivi- duelle, nicht dagegen ritualisierte Schmerzensäußerungen ‚ man denke ati die Tränen bei Mao Zedongs Tod! Während der Durchschnittsasiate in persönlichen Fragen zurückhaltend ist, gibt er sich umgekehrt höchst ungeniert, wenn es um wirtschaftliche und finanzielle Belange geht. So ist es beispielsweise ganz normal, einen anderen nach der Höhe seines Einkommens oder aber nach dem Preis seiner Schuhe zu fragen, wobei der Fragesteller in aller Regel weniger an der Antwort selbst interessiert ist, als vielmehr freundliches Interesse für die Person des anderen zum Ausdruck bringen will. Hier freilich reagiert dann der W635“ liche Ausländer höchst befremdet. n eine VI]. Vom alltäglzcben Umgang mit Asiaten 297 Zurückhaltung wird noch auf einem anderen Gebiet geübt, nämlich beim verteilen von Komplimenten, lm allgememen_kanngem Lob in Asien freilich enau50 wenig schaden Wie im Westen;_gewmse Einschränkungen sind 1?— äoch gegenüber Frauen und vor allem Kindern geboten — ersteres hängt mit der «rituellen Schell» zusammen, die vor allem Frauen aus dem malaiisch- _1 mischen Bereich gegenuber Mannern an den lag legen; letzteres hat 15? _ tische Gründci Wer Kinder wegen ihrer Hübschheit, Wegen ihrer ammlrsidheit oder wegen ihrer schulischen Fortschritte mit Lob iiberhäuft, C';eli'Liart daß das Kind aus den gleichen Gründen die Aufmerksamkeit übel— r1$ llenäef Wesen erregt. Nicht selten ziehen deshalb traditionell eingestellte Eiern mit der Hand sogleiCh einen “magi5Chen Kreis" um das Kind" ],) «Atmosphäre» Der Begriff «Atmosphäre» (chin.z qifen, jap.: kimochi, korcan.: kibun) ist eine zentrale Denkkategorie. Lieber nimmt man eine anahrheir in Kauf, als das Kibun zu stören. Man sagt also pa, obwohl es eigentlich nem heißen müßte. Man spendiert ein aufwendiges Essen, um Kibun zu schaffen. Als Politiker während des Koreakriegs 1950 die belagerte Hafenstadt Pusan be« suchten und dabei an überfüllten Flüchtlingslagern vorbeiliiliren mußten, wurden diese Lager zur Straße hin mit hohen Zäunen abgeschirmt, damit das Kibun der Politiker und Besucher nicht verletzt Würde: Um ein ange— messenes Kibun zu wahren, gibt man sich am besten bescheiden. zurückhal— tend, spricht leise — aber auch nur dann, wenn nicht gerade ein Höherste— hender redet, ordnet sich genau in die Hierarch1ekette ein und laßt alteren Personen den Vortritt. Wer sich solchen Erwartungen nicht zu fügen ver— mag, ist eine «Unperson» (korean: sangnom), die man am besten links lie— genläßt3. Diese Haltung gilt nicht nur in Ost—, sondern auch in Südostasien. Nach thailändischer Auffassung beispielsweise müssen auch hochst nuch- terne Geschäftsbesprechungen «luk nong», d.h. in kultivierter Form durch- geführt werden. Dazu gehört einmal, daß ein Ausländer dem tha11andischen Partner formell vorgestellt wird, daß er sich liebcnswürthg und berechenbar verhält und daß man sich in seiner Gegenwart «sabai» (wohl und Sicher) fühlt. Am besten fährt der Earang (Ausländer, ursprünglich von «I‘ranears»), wenn er ein «kühles Herz» (ebay ven vin) behält, d.h. weniger Gefuhle zeigt, als er empfindet , und zwar sowohl in der Freude als auch im Arger. Ein gemeinsames Essen ist dem «luk nong», Wie überall in A51en, hochst förderlich. Am besten Wählt man ein Lokal, das «sanuk» vermittelt, d. h. ein Gefühl kultivierter und heiterer Stimmung, bei der es sich gut reden läßt. Gespräche brauchen bei solchen Gelegenheiten keineswegs getstre1ch zu sein ‘ Hauptsache, sie schaffen «Atmosphäre». Unterhaltungen über das Wetter, über die Aufenthaltsdauer, über den Familienstand, über die Lahl der Kiri— def und über die ersten Eindrücke sind völlig in Ordnung. Wer glaubt, mit